Wieso strebst das Universum und auch unsere winzige Erde nach Unordnung?

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Dem liegt letztlich das Bestreben aller Energie zugrunde, sich entwerten und in Abwärme umwandeln zu wollen. Warum das so ist, was letztlich der "Urgrund" dafür ist, weiß man nicht, da man noch nicht einmal genau weiß, was Energie in ihrem innersten Kern eigentlich genau ist.

„Energie“ ist ein Begriff aus einer Kategorie, die alle eine gemeinsame merkwürdige Eigenschaft haben. Das sind Begriffe, die solange allen Beteiligten klar ist, solange man nichts erklärt oder definiert. Versucht man den Begriff näher zu erfassen, wird es immer verschwommener und irgendwann entgleitet er einem völlig. Das was man weiß, wird immer kleiner und das, was man nicht weiß, wird immer größer. Andere Begriffe aus dieser Kategorie wären z.B. Zeit, Masse, Gravitation, Quanten, Liebe, Gott, Seele oder Schicksal. Fragt man einen Laien „Was ist das?“, erhält man eine Antwort „Das ist das und das“. Fragt man dagegen einen Fachmann, der sich schon intensiv damit beschäftigt hat, erhält man häufig die Antwort „Ich weiß es nicht“!.

In der klassisch-modernen Physik gilt die Definition "Energie ist die Fähigkeit, Arbeit zu leisten".

Diese Definition ist in der modernen Physik, die mit der Theorie Dissipativer Strukturen begründet wurde und für die Ilya Prigogine 1977 den Nobelpreis erhielt, so nicht mehr gültig. Demnach ist Energie die "Substanz", der wir die Existenz des Universums verdanken sowie die Tatsache, dass sich das Universum ständig verändert und nicht in einem Zustand verharrt. Um Harald Lesch zu zitieren: „Alles wird von Energiepotenzialen angetrieben. Ohne Energiepotenziale gibt es keine Physik, da einfach nichts mehr passiert.“

Man sagt ja immer Energie könne nie verloren gehen.

Das ist so und das sagt der Energieerhaltungssatz aus. Der Energieerhaltungssatz ist der 1. Hauptsatz der Thermodynamik (1. HS), also der „Lehre von der Energie“. Dementsprechend kann Energie auch nicht erzeugt oder vernichtet werden. In einem geschlossenen Raum, oder besser gesagt, in einem geschlossenen System bleibt der Energiegehalt immer gleich. Sofern man das Universum als abgeschlossenes System betrachtet, bleibt auch die Gesamtenergie des Universums immer gleich.

Wenn neue Energie erzeugt wird, kommt da dann nicht immer mehr neue Energie dazu?

Der 1.HS sagt aber nur etwas über die Menge von Energie aus. Aus dem Alltag kennen wir, dass Energie nach Menge beurteilt wird. Wir kaufen z.B. 1 kWh Strom oder 1 l Benzin. Sobald man sich mit Energie näher beschäftigt, stellt man aber fest, dass nicht nur die Menge zählt, sondern dass Energie auch eine Qualität hat. Die Qualität misst sich im Prinzip daran, wie leicht bzw. vollständig eine vorhandene Energie in eine andere Energieform umgewandelt werden kann.

Wertvolle Energie heißt Exergie. Exergie kann beliebig in jede andere Energieform umgewandelt werden. Energien mit 100% Exergieanteil sind grundsätzlich alle mechanischen Energien sowie elektrische Energie. Um die potentielle Energie (eine der mechanischen Energien) eines Gegenstandes z.B. vollständig in kinetische Energie umzuwandeln, muss ich ihn einfach nur fallen lassen.

Wertlose Energie heißt Anergie. Mit Anergie kann man nichts anfangen, die lässt sich in keine andere Energieform mehr umwandeln.

Energie mit 100% Anergieanteil ist Wärme bei Umgebungstemperatur. Wärme ist sozusagen der Abfallhaufen der Energie. Wenn man nun sagt, man erzeugt Energie, ist damit fachlich korrekt nur gemeint, man erzeugt Exergie, stellt also beliebig umwandelbare Energie zur Verfügung. Wenn man sagt, man verbraucht Energie, ist damit fachlich korrekt gemeint, man wandelt wertvolle Energie (Exergie) in wertlose Energie (Abwärme) um. Der Fachbegriff für diese Entwertung von Energie ist Dissipation. Exergie kann zu 100% dissipiert werden, Anergie kann nicht weiter dissipiert werden.

Bei dieser Entwertung von Energie bleibt ihre Menge aber konstant, sie verliert lediglich Qualität.

Was ist Entropie?

Nun braucht man ein Maß, um festzustellen, wie weit eine vorhandene Energie denn schon entwertet wurde bzw. welcher Anteil der Energie aus Exergie besteht und noch weiter genutzt werden kann. Die Beurteilung der Qualität einer vorhandenen Energie geschieht mit dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik. Die geringste Qualität hat Wärmeenergie bei Umgebungstemperatur. So besitzt die Luft der Atmosphäre durch ihre Temperatur jede Menge innere Energie, aber mit dieser Energie z.B. eine Maschine zu betreiben oder einen Körper zu beschleunigen, ist praktisch unmöglich. Um die Qualität der Energie zu beschreiben, wurde der Begriff der Entropie eingeführt.

Jetzt kommt noch eine Schwierigkeit beim Verständnis dazu, weil man sozusagen falschrum denken muss. Umso höher die Entropie, umso höher ist nicht die Qualität der Energie, sondern es ist genau umgekehrt. Je mieser die Qualität, umso höher ist die Entropie. Insofern kann man sich Entropie eher als ein Maß für „Energieabfall“ vorstellen, weil man mit Abfall nichts mehr anfangen kann.

Will das mal an einem Beispiel verdeutlichen. Wenn du irgendwo ein Kilo Äpfel kaufst, reicht nicht nur die Kenntnis der Menge, also 1 kg, denn du musst entsprechend der Qualität dieser Äpfel unterschiedliche Preise bezahlen.

Die teuersten Äpfel haben Handelsklasse A. Sie besitzen noch keine Entropie. Die sind makellos und die kann man unbeschränkt in andere Apfelprodukte umwandeln, sei es ein Apfel zum essen, in Apfelkuchen, Apfelsaft oder was immer du willst.

Äpfel der Handelsklasse B haben schon kleine Qualitätsmängel. Die bietet man nicht mehr unbedingt auf einer Obstschale zum Essen an, aber Apfelkuchen oder Apfelsaft kann man noch gut daraus machen.

Billig sind sogenannte Saftäpfel. Die kommen gar nicht mehr in den Handel, sondern werden nur noch zu Apfelsaft gemacht.

Die schlechteste Qualität haben völlig verfaulte Äpfel, denn aus denen kann man gar nichts mehr machen. Diese verfaulten Äpfel haben damit die maximale Entropie, sie bestehen nur noch aus Abfall.

Nun sagt der 2. Hauptsatz der Thermodynamik aus, dass in einem geschlossenen System die Entropie immer nur zunehmen, aber niemals abnehmen kann. Dieser Grundsatz gilt im gesamten Universum sowohl für die Energie als auch für die Äpfel.

Wenn du eine Kiste mit Äpfeln der Handelsklasse A hast, musst du nichts tun, damit die Entropie zunimmt. Die Äpfel faulen im Laufe der Zeit ganz von alleine. Es ist aber noch niemals beobachtet worden, dass aus einer Kiste mit fauligen Äpfeln im Laufe der Zeit von alleine Äpfel der Handelsklasse A wurden.

Energie verfault nicht, da spricht man von Entwertung oder Dissipation. Alle Energie strebt danach, entwertet zu werten und das geht auch von alleine. Alle Energie strebt dazu, sich letztlich in Wärme umzuwandeln. Bei allen praktischen Prozessen, bei denen Energie umgewandelt wird, entsteht meistens durch Reibung auch Abwärme, mit der man nichts mehr anfangen kann. In dieser Abwärme steckt die entstandenen Entropie. Diese Abwärme verringert immer auch den Anteil der Energie, der umwandelbar bzw. arbeitsfähig bleibt.

Um die Entropie in einem geschlossenen System zu verringern, also die Qualität anzuheben, muss immer Energie zugeführt werden, von alleine passiert das niemals. Hättest du also eine Kiste mit Äpfeln der mittleren Entropie, sprich die sind nur halbe verfault, könntest du Energie aufwenden, indem du überall das faulige wegschneidest und wegwirfst und aus dem Rest könntest du immerhin noch Saft machen. Genauso wäre das auch mit Energie. Um die Entropie in einem geschlossenen System zu verringern, musst du von außen hochwertige Energie zuführen. Der Energieabfall, also die Entropie, würde dann in der Umwelt landen und deren Entropie entsprechend erhöhen.

Häufig wird Entropie zu Beginn des Unterrichtes auch als ein Maß für die Unordnung bezeichnet. Bei geschlossenen Systemen ist das auch noch in Ordnung, bei komplexen Systemen führt diese Vorstellung aber in die irre. Hohe Ordnung bedeutet dabei hohe Qualität, also niedrige Entropie, während eine maximale Unordnung eine niedrige Qualität also maximale Entropie bedeutet.

Meist wird als Vergleich ein Zimmer angeführt. Ein frisch renoviertes, neu eingerichtetes, sauberes und aufgeräumtes Zimmer hat die höchste Wohnqualität, also die minimale Entropie. Wohnt man darin und macht ansonsten nichts, nimmt die Unordnung, die Verschmutzung, die Vermüllung konstant zu. Die Wohnqualität wird immer geringer, die Entropie nimmt ständig und ganz von alleine zu. Nur wenn man Energie aufwendet, kann man die Entropie wieder verringern. Dazu muss man putzen und aufräumen und den Schmutz und Abfalls aus dem Zimmer hinausbefördern.

So könnte z.B. deine Mutter sagen: "Jetzt räume endlich mal dein Zimmer auf", während dein Vater, wenn er Physiker ist, zu dir sagen könnte: "Du solltest mal wieder die Entropie deines Zimmers verringern."

Zusammenfassung:

Entropie ist ein Maß für die Qualität von Energie. Je höher die Entropie, umso mehr wurde die Energie bereits Richtung Abwärme entwertet und umso geringer ist ihre Fähigkeit, Arbeit zu leisten.

Was passiert, wenn zu viel Energie auf ein System einwirkt? Und was passiert mit dieser Energie?

Hier kommt der Begriff der Emergenz ins Spiel. Schon Aristoteles stellte den Inhalt von Emergenz treffend dar: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile“.

Von Emergenzen spricht man immer dann, wenn in einem System plötzlich Eigenschaften auftreten, die sich alleine aus den Einzelteilen des Systems nicht herleiten lassen. Sie sind daher irreduzibel. Irreduzibel sagt nichts anders, als das die Ordnungsstruktur, die in einem System, das sehr viel Energie entwertet (Entropie produziert), nicht auf die Einzelteile des Systems und deren Eigenschaften reduzieren lässt. Aus der Analyse der Einzelteile kann auch nicht vorhergesagt werden, welche Eigenschaften am Ende herauskommen, sofern sie durch Energiezufuhr eine neue Ordnungsstruktur annehmen.

Beispiel: Kölner Dom

Der Kölner Dom besteht aus tausenden von Steinen. Die Summe dieser Steine wäre einfach rund 160.000 Tonnen Steine.

Dadurch, dass diese Steine aber in einer ganz bestimmten Weise angeordnet sind, hat das System Kölner Dom ganz neue Eigenschaften gewonnen, die die Steine als Einzelteile noch nicht hatten, wie z.B. Schönheit oder spirituelle Ausstrahlung.

Diese Eigenschaften konnten die Steine als Ordnungssystem nur dadurch erhalten, dass jede Menge wertvolle Energie in Form von Arbeit in das System eingebracht wurde. Bei dieser Arbeit wurde jede Menge Entropie in Form von Abwärme produziert. Die Arbeiter dürften gehörig ins Schwitzen gekommen sein.

Was genau in einem System passiert, dem zu viel Energie zugeführt wird, sodass es aus dem Gleichgewicht gerät, also seine Stabilität verliert, hat Ilya Prigogine in der bereits oben erwähnten Theorie Dissipativer Strukturen (TDS) beschrieben, für die er wie gesagt 1977 den Nobelpreis erhielt.

Laut TDS lag zu Beginn des Urknalles die Energie zu 100% als Exergie in Form hochenergetischer Strahlung vor. Es gab noch keine Entropie. Die Entstehung von Masse erklärt die TDS so, dass gewaltige Mengen an Exergie zur Materie emergierte, die Exergie dabei entwertet (dissipiert) wurde und dabei jede Menge Entropie produziert wurde. Diese Entropie wurde in Form der Hintergrundstrahlung an das Universum abgegeben. Prigogine hat berechnet, dass etwa die Hälfte aller bislang im Universum produzierten Entropie bei der Entstehung der Masse erzeugt wurde.

In einem Gesamtsystem kann Entropie niemals sinken. Sie kann aber lokal in einem System sinken und dadurch neue Strukturen erzeugen. Die Senkung der Entropie lokal geschieht aber immer auf Kosten der Umwelt, deren Entropie dadurch umso schneller zunimmt. Die lokale Abnahme der Entropie ist unabdingbare Voraussetzung, dass neues wie z.B. Sonnensysteme oder Leben entstehen kann.

Letztlich bedeutet das, dass die Gesamtenergie des Universums immer konstant bleibt, dass sie aber immer weiter entwertet wird. Irgendwann liegt sie dann nur noch als wertlose Wärme vor und dann passiert gar nichts mehr im Universum. Die Astrophysiker sprechen daher vom sogenannten Entropie- oder Wärmetod des Universums. Nach heutigen Erkenntnissen wird dieser mögliche Wärmetod aber nicht in Milliarden Jahren, sondern erst in Billionen von Jahren eintreten. Gemessen an dieser langen „Lebenszeit“ des Universums, befindet es sich heute sozusagen immer noch im „Babystatus“.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Habe Thermodynamik im Hauptfach studiert.
wiesocu 
Fragesteller
 18.12.2021, 12:56

Vielen Dank.

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rumar  18.12.2021, 13:33

Warum nicht einfach den Link zum entsprechenden Artikel angeben ?

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Hamburger02  18.12.2021, 14:22
@rumar

Zu welchem Artikel? Diesen Text habe ich bislang außer hierzuforum noch in keinem Artikel veröffentlicht.

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Das erklärt ganz besonders ausführlich Brian Greene auf den Seiten 24-33 seines Buches "Until the End of Time". Sein Argument lautet:

Für jedes in sich energetisch abgeschlossene System gilt es zu unterscheiden zwischen

  • seinen Makro-Zuständen (= Zuständen, die wir als Beobachter des Systems gerade noch unterscheiden können)
  • und seinen Mikrozuständen (deren jeder zu allen frei gegen einander beweglichen Teilchen Position und Geschwindigkeit nennt).

Jeder Makro-Zustand ist Äquivalenzklasse einer i.A. extrem großen Zahl von Mikrozuständen. Nun haben aber keineswegs alle dieser Äquivalenzklassen gleiche Kardinalität, und wenn sich ein Zustandsübergang von Mikrozustand X nach Y ergibt, wird die Wahrscheinlichkeit dafür, dass gerade Y zum Nachfolger des Zustandes X wird, umso größer sein, je mehr Mikrozustände Y enthält (d.h. je "ungeordneter" uns die durch Y vertretene Äquivalenzklasse erscheint).

Die Entropiezunahme ist in gewisser Weise einfach die momentane Richtung unserer Welt (siehe dazu den 2. Hauptsatz der Thermodynamik). Unsere physikalischen Modelle würden auch funktionieren, wenn sie anders herum wäre, d.h. die Welt von einer Entropieabnahme geprägt wäre.

Es gibt eine interessante Theorie namens Big Bounce. Demnach befindet sich das Universum in einem ewigen Kreislauf aus Ausdehnung (Entropie steigt) und Kontraktion befindet (Entropie fällt ab).

Nofear20  22.11.2022, 13:06
Es gibt eine interessante Theorie namens Big Bounce. Demnach befindet sich das Universum in einem ewigen Kreislauf aus Ausdehnung (Entropie steigt) und Kontraktion befindet (Entropie fällt ab).

Ich glaube, diese Theorie ist nicht mehr aktuell. Am wahrscheinlichsten ist wohl der Big Freeze, also der unspektakuläre Kältetod.

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Es ist ja nicht wirklich ein "Streben". Kennst du das Kartenspiel "32 heb' auf"? Das funktioniert so: Ich werfe ein sortiertes Kartenspiel mit wenig Aufwand in die Luft. Du musst es mit viel Aufwand aufsammeln und sortieren. In der echten Welt ist Unordnung einfach wahrscheinlicher als Ordnung. Um Ordnung herzustellen braucht es Energie.

wiesocu 
Fragesteller
 17.12.2021, 23:01

Was wenn es Energie nicht geben würde oder wir zu viel Energie hätten? Was wäre auf uns Menschen jetzt bezogen ohne ATP in unseren Zellen?

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Schlicht und einfach weil die Unordnung wahrscheinlicher als Ordnung ist

Woher ich das weiß:Berufserfahrung – Elektriker