Wie begründet Seneca dass die Mehrheit der Menschen falsch liegen?

7 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Ich kann mir vorstellen, dass er erkannt hat, dass die Masse einfach nur mitläuft oder hinterherläuft.

Die Mehrheit ist eben nur durchschnittlich intelligent, nur durchschnittlich weise und nur durchschnittlich vorausschauend mit Tendenz zur Unvernunft. Daher kann aus der Mehrheit auch nur maximal etwas Durchschnittliches entwachsen und nach dem Mehrheitsrecht wird man sich auch bestenfalls nur auf etwas Durchschnittliches einigen.

Die Potentiale und Ideen der Intellektuellen und Freidenker gehen damit in der Mehrheit unter.

Wenn eine durchschnittliche Mehrheit darüber bestimmt, was Recht und was Unrecht ist, wird das zwangsläufig zum Rechtsverlust von Minderheiten führen. D.h. Minderheiten werden unterdrückt und das Strafrecht würde von Lynchjustiz bestimmt werden.

Deshalb sagt man nicht umsonst, dass die Demokratie nach dem Begriffsverständnis von Volksherrschaft und Mehrheitsrecht lediglich nur die beste von allen schlechten Gesellschaftssystemen ist.

Vom natürlichen Aspekt her ist es ja u.a. auch aus oben genannten Gründen so, dass gar nicht jeder wahlberechtigt sein KANN. Ganz einfach, weil für den Durchschnitt die Politik und deren Mechanismen schon zu komplex sind, als dass er diese als Ganzes versteht und danach auch eine vernünftige, nachhaltige Entscheidung treffen könnte.

Eine wesentlich bessere und effektivere Lösung wäre eine Art Oligarchie, bestehend aus intellektuellen Vordenkern, die ihre Position weise und wohlwollend gegenüber der übrigen Gesellschaft ausüben und sich nicht zum Machtmißbrauch hinreißen lassen.

Doch dies scheitert bereits daran, dass der durchschnittlich Begabte nicht die Weiseren und Venünftigeren als Führungspersonen akzeptieren möchte, sondern sich mehr von den Starken angezogen fühlt, die sich physisch oder charismatisch gegen alle anderen durchsetzen. Wenn jener, sich nicht selbst sogar als derjenige sieht, der diese Stelle am besten ausfüllen würde.

Selbst die primitivsten Geister und Gemüter sind noch davon überzeugt, weiser und intelligenter als der Durchschnitt zu sein. Kaum jemand wäre bereit, sich selber einzugestehen, dass er nicht unbedingt mit dem Potential ausgestattet ist, stellvertretend für eine ganze Gesellschaft zu sprechen, zu handeln oder Entscheidungen zu treffen.

Denn wir erleben es täglich und auch im Hinblick auf die Menschheitsgeschichte, dass Menschen mit Macht nicht umgehen können.

Und wenn auch unbewusst, lässt sich die Masse immer wieder vom Recht des Stärkeren beeindrucken.

Die besten Lösungen können immer nur dann greifen, wenn sie auch von der Gesellschaft zugelassen werden.

Und danach sieht es im Moment nicht unbedingt aus.

rosepetals 
Fragesteller
 19.07.2018, 08:43

Vielen lieben Dank für die ausführliche Antwort. Das erinnert mich an ein Buch, das ich vor längerem gelesen und kurzzeitig vergessen hatte: The Consolations of Philosophy. Hier wird der Tod Sokrates, also die Mehrheitsentscheidung gegen ihn, zum Beispiel angeführt um Senecas Aussage zu belegen.

Du hast es wundervoll in Worte gefasst.

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RhoMalV  20.07.2018, 19:59
@rosepetals

Danke auch für den Stern. ;) Ich habe das Buch von Alain de Botton noch nicht gelesen, freut mich aber, wenn sich darin meine Ausführungen bestätigt sehen. Sokrates war sicher auch eine Persönlichkeit, der zu Lebzeiten wohl eher argwöhnisch betrachtet und womöglich auch bekämpft wurde, weil Menschen, die sich zu sehr von der Masse unterscheiden, bei vielen Leuten Angst auslösen.

Daher sind die größten Denker der Geschichte zumeist erst lange nach ihrem Tod für ihre Erkenntnisse und Lebensleistungen gerühmt worden.

Ich interessiere mich sehr für Gesellschaftphilosophie (wozu zwangsläufig ja auch Politik gehört) und betrachte das gegenwärtige gesellschaftliche Treiben mit besorgter Miene, insbesondere dadurch, dass Medien sei Dank Schönheit und Reichtum ein höherer Sozialstatus in der Gesellschaft zugedacht wird als Bildung und Erkenntnis. Und dadurch, dass die Mehrheit ihre Freizeit mehr mit passiver Unterhaltung verplempert als mit aktiver Weiterentwicklung.

Doch wie ich anhand Deiner Frage schon sehe, scheinst Du ja auch eine Ader für diese Themen zu haben. ;)

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Er hat schon damals erkannt, dass die Mehrzahl der Menschen Ignoranten und Dummköpfe sind. Das ist auch einer der Gründe, weshalb die Demokratie auf Dauer nur als parlamentarische Demokratie überleben kann, selbst wenn die Parlamentarier einen zuweilen auch zur Weißglut treiben..

Wenn es nämlich immer nach der Mehrzahl geht, bedeutet das, dass die Ignoranten das Ruder in die Hand nehmen.

in seinem Werk VgL findet man vor allem eine Beschreibung dessen, wie die Masse zum falschen Wissen kommt : Kein Nachdenken, Nachplappern und sich der Mehrheit anschließen.

Man kann hier (*)

Bild zum Beitrag

auch nicht erkennen, woher die Irrthümer stammen , nur wie sie sich verbreiten. Seneca setzt den Irrthum quasi als vorhanden voraus.

Für eine Begründung halte ich auch dieses nicht : Man glaubt mehr , als das man nachdenkt. Man sondert sich nicht ab , sondern läuft mit .

Wir werden geheilt werden ( in (5) ) , wenn wir uns absondern .

Wie dort dann plötzlich bei Menschen , die vorher voll sind mit Irrthümern, die Vernunft aufscheinen soll und der Mensch dann richtig liegen kann , ist mir ein Rätsel.

Was kann plakativ behauptet wird ist , daß die Mehrheit, die an A glaubt, nie die Begründung sein kann dafür, dass A auch richtig ist . (B oder C mag zum Beispiel nicht mal bekannt sein )

Wer will kann aus Senecas Äußerungen eine Kritik an der demokratischen Wahl herauslesen.

(*)

https://books.google.de/books?id=uFWBbpb9E98C&pg=PT5&lpg=PT5&dq=:+%22Es+steht+mit+der+Sache+der+Menschheit+nicht+so+gut,+dass+das+Bessere+der+Mehrzahl+gef%C3%A4llt;+ein+gro%C3%9Fer+Haufe+ist+ein+Beweis+vom+Schlechtesten.%22&source=bl&ots=97wzaq5OUe&sig=nWr34rmQ5Kyc_kDiXHa4b3ixn9c&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwiKjavXpancAhWGjiwKHUZEBOIQ6AEILDAB#v=onepage&q=%3A%20%22Es%20steht%20mit%20der%20Sache%20der%20Menschheit%20nicht%20so%20gut%2C%20dass%20das%20Bessere%20der%20Mehrzahl%20gef%C3%A4llt%3B%20ein%20gro%C3%9Fer%20Haufe%20ist%20ein%20Beweis%20vom%20Schlechtesten.%22&f=false

 - (Psychologie, Geschichte, Philosophie und Gesellschaft)

Das heißt im Klartext: Das, was für die Menschen eigentlich am besten wäre, wird den Meisten nicht gefallen. Im Gegenteil: Das, was die meiste Zustimmung erhält, wird die schlechteste Möglichkeit sein.

Ein weiser Spruch, und im Grunde ein Nachteil demokratischer Regierungsformen: Unpopuläre, aber langfristig sinnvolle und daher notwendige Maßnahmen finden nur schwer Mehrheiten und kosten ggf. Stimmen bzw. Wahlen, langfristig eher schädliche Entscheidungen finden oft Beifall und Wähler (Stichwort "Wahlgeschenke").

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
Halbrecht  18.07.2018, 21:00

ja , aber wie begründest Seneca das ? Ich sehe nur , daß er es feststellt , also beschreibt . Die Begründung wäre interessant.

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pendejo  18.07.2018, 21:19
@Halbrecht

Oh, Du hast recht, da habe die Frage falsch verstanden. Da müßte man jetzt das ganze Werk präsent haben/studieren, aber dazu fehlt mir jetzt die Zeit, sorry. Offensichtlich ging es in der Schrift ja auch eher um den Spagat Reichtum und Tugend, insofern scheint es in dieser Passage, wie Du unten schreibst, um eine Feststellung zu handeln um wiederum anderes zu begründen.

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Wenn Du Dein Zitat etwas umfangreicher wählst, wird eher klar, worum es geht:

"Wenn es sich um ein glückseliges Leben handelt, darfst du mir nicht mit jener Aeußerung bei Senatsabstimmungen antworten: »Dieser Theil scheint der größere zu sein«. Denn eben deshalb ist er der Schlimmere. Es steht mit der Sache der Menschheit nicht so gut, daß das Bessere der Mehrzahl gefällt; ein großer Haufe ist ein Beweis vom Schlechtesten. Laß uns daher fragen, was am Besten zu thun sei, nicht was am gewöhnlichsten geschehe, und was uns in den Besitz eines ewigen Glücks setze, nicht was dem großen Haufen, dem schlechtesten Dolmetscher der Wahrheit, genehm sei."

Nach http://www.zeno.org/Philosophie/M/Seneca,+Lucius+Annaeus/Vom+gl%C3%BCckseligen+Leben

Es geht um das gelingende Leben eines Individuums, das nicht nach Mehrheitsrecht ausgelotet und entschieden werden kann. Es führt - modern gesprochen - nicht zum individuellen Glück, wenn man nur Trends hinterher läuft. Dann lebt man ein "fremdes und falsches Leben". Denn Trends nehmen keine Rücksicht auf die individuellen Fähigkeiten, Vorlieben und Befindlichkeiten. Oder wie Epikur zur Politik sagt: Wer nur noch nach der Zustimmung der Masse giert, wird von der Masse gelenkt und die ist sehr wankelmütig. Der verfehlt sein individuelles Leben.