Was ist der ,,innere Genius‘‘, von dem Marcus Aurelius andauernd spricht?

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Mit dem »inneren Geist« ist ein den einzelnen Menschen innewohnender göttlicher Geist (griechisch: δαίμων [daimon]) gemeint. Ein innerer Geist ist er als Teil vom Selbst des Menschen.

Marcus Aurelius hat die Auffassung der stoischen Philosophie, in den einzelnen Menschen wäre ein Anteil am Göttlichen. Diese Auffassung ist in seinem Werk mit einigen Vorstellungen der antiken römischen Religion über einen Genius (lateinisch: genius; griechisch δαίμων [daimon] ist auch eine Übersetzung dieses Wortes) als vergöttlichte Persönlichkeit oder Schutzgeist verschmolzen.

In der Stoa wird ein umfassendes grundlegendes Prinzip, nämlich der Logos (griechisch meistens λόγος genannt, daneben z. B auch νοῦς [Geist/Vernunft]; lateinisch: ratio [Vernunft]), mit Gott/Gottheiten/dem Göttlichen, der Vorsehung (griechisch: πϱόνοια [pronoia]; lateinisch: providentia) und dem Schicksal (griechisch: εἱμαϱμένη [heimarmene]; lateinisch: fatum) gleichgesetzt.

Eine Vielzahl von Gottheiten kann als Vielfalt von Erscheinungsformen einer Gottheit/des einen Göttlichen verstanden werden. Theologisch sind nicht alle Vertreter der Stoa völlig einheitlich, aber es besteht eine Neigung zum Pantheismus (Auffassung, Gott/das Göttliche existiere in allen Dingen der Welt, auch im Menschen, bzw. sei mit dem Kosmos/der Natur identisch).

Die Stoa lehrt in ihrer Naturlehre (Physik), es gebe ein zugleich geistiges und materielles/stoffliches Prinzip, dargestellt als ein feinstoffliches Feuer, als ein warmer Hauch (griechisch: πνεῦμα [pneuma]) und als die Weltvernunft, der Logos. Der Logos durchwirkt alles, mit unterschiedlicher Konzentration (Reinheit und Stärke). Der Logos ist ein aktives Prinzip, das die Materie als passives Prinzip durchdringt, prägt, formt/gestaltet (wobei beide Prinzipien als Körper verstanden werden) und so die ganze Welt/Wirklichkeit zu einer organischen Einheit verbindet, den Kosmos. Der Logos ist weltimmanent (der Welt innewohnend) und belebend. In jedem Wesen ist keimhafte Vernunft anwesend. Es gibt also Ausflüsse oder Absplitterungen des universalen Logos, unvergängliche Samen oder Keime. Der Logos kann als eine Art von Träger von Information/geistigem Gehalt gedeutet werden, während er unter dem Gesichtspunkt einer Entwicklung von einem Bewegungsursprung her als Physis/Natur (griechisch: φύσις; lateinisch: natura) auftritt.

Marcus Aurelius verwendet bei dem, das anscheinend mit innerer Genius wiedergegeben worden ist, das griechische Wort δαίμων (daimon). Es bedeutet: Gottheit, göttliches Wesen. Die Personalität ist dabei etwas unbestimmt, Tätigkeit und Wirkung einer göttlichen Kraft (die das Schicksal von Menschen beeinflussen kann) steht im Vordergrund.

An einzelnen Stellen ist ein Gesamtausdruck ὁ ἔνδον δαίμων (der göttliche Geist im Inneren/der göttliche Geist innen drinnen/der innere göttliche Geist) oder ὁ ἔνδον ἑαυτοῦ δαίμων ( der göttliche Geist im meinem eigenen Inneren) verwendet.

Zu Sokrates gibt es Aussagen über ein Daimonion (δαιμόνιον), eine innere Stimme, die er als göttliche Eingebung verstand.

In dem griechische Wort εὐδαιμονία (eudaimonia), das »Glück(seligkeit)« bedeutet, steckt dem Wortursprung nach darin, mit einem guten Daimon verbunden zu sein. Die Wortbildung geht auf die Vorstellung zurück, jemand »habe einen guten Daimon«, was bedeutet, ein wohlgeratenes, gesegnetes, wunschgemäßes und preisenswertes Leben zu führen (Christoph Horn, Antike Lebenskunst : Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern. Originalausgabe. 3. Auflage, unveränderter Nachdruck, München : Beck, 2014 (C.H. Beck Paperback ; 1271), S. 65).

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 7, 17, 1 :

Εὐδαιμονία ἐστὶ δαίμων ἀγαθὸς ἢ ‹δαιμόνιον› ἀγαθόν.

Des Kaisers Marcus Aurelius Antoninus Selbstbetrachtungen. Neue Übersetzung mit Einleitung und Anmerkungen von Albert Wittstock. Leipzig : Reclam, 1879 (Philipp Reclams Universalbibliothek ; Nr. 1241. 1242), S. 99:

„Glücklich sein heißt einen guten Genius haben oder gut sein.“

Mark Aurel, Selbstbetrachtungen : griechisch – deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel. 2. Auflage. Mannheim : Artemis & Winkler, 2010 (Sammlung Tusculum), S. 157:

„Glück ist ein guter göttlicher Geist oder ein gutes leitendes Prinzip.“

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Mit einem Begleittext von Helmut Schmidt (†). Ditzingen : Reclam, 2019, S. 89:

„Glück ist ein guter Dämon oder ein Leben, das dem guten Dämon entspricht.“

Der göttliche Geist (δαίμων) bei Marcus Aurelius entspricht zumindest weitgehend dem Vermögen der Seele, das in der stoischen Philosophie »das Leitende/(Führende« (griechisch: τὸ ἡγεμονικόν [to hegemonikon]) genannt wird, und Geist/Vernunft (griechisch: νοῦς [nous]/λόγος[logos]). Betont wird in einigen Aussagen seine beurteilende, auf das Gute ausgerichtete und beschützende Rolle.

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 2, 13, 1 ruft dazu auf, bei dem göttlichen Geist in seinem eigenen Inneren (griechisch: ὁ ἔνδον ἑαυτοῦ δαίμων; im Satzzusammenhang als Dativ: τῷ ἔνδον ἑαυτοῦ δαίμονι) zu sein und ihn zu ehren und rein zu halten von Leidenschaften, Unbesonnenheit und Unzufriedenheit mit dem, was von Gottheiten und Menschen widerfährt.

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 2, 17, 4 ruft dazu auf, den göttlichen Geist im Inneren (griechisch: ὁ ἔνδον δαίμων; im Satzzusammenhang als Akkusativ: τὸν ἔνδον δαίμονα) vor Schaden und Verletzungen bewahren, damit er Lüsten und Leiden überlegen sei, nichts planlos tue, ohne Lug und Trug sei, und unabhängig vom Tun und Lassen eines anderen, außerdem das, was geschieht, hinnehme, als ob es es irgendwie von dem komme, woher er selbst gekommen ist, schließlich den Tod mit heiterer Gelassenheit erwarte, als ob er nichts andere sei als die Trennung der Grundbestandteile, aus denen jedes Lebewesen besteht.

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 3, 6, 2 – 3 ruft dazu auf, wenn sich nichts Besseres zeigt als der in dir sitzende/wohnende/errichtete göttliche Geist (griechisch: ὁ ἐνιδρυμένος ἐν σοὶ δαίμων; im Satzzusammenhang als Genitiv: τοῦ ἐνιδρυμένου ἐν σοὶ δαίμονος), der die eigenen Triebe sich unterworfen hat, Vorstellungen prüft, sich von den sinnlichen Leidenschaften fortgerissen hat, sich den Gottheiten unterworfen hat und für die Menschen Vorsorge trägt, wenn du dies alles für kleiner und von geringerem Wert als diesen (der göttliche Geist) auffindest, keinem anderen Raum zu geben.

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 3, 7 behauptet, wer die eigene Vernunft und den göttlichen Geist (griechisch: δαίμων; im Satzzusammenhang als Akkusativ: δαίμονα) und die Dienste an ihrer Vortrefflichkeit vorzieht, führt kein Tragödientheater auf, seufzt nicht, bedarf nicht der Einsamkeit und nicht der großen Menge.

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 3, 12 behauptet, wenn du der richtigen Überlegung folgend das gegenwärtige Werk mit Eifer, Kraft und Wohlwollen betreibst und nicht zu Nebensächlichem gehst, sondern den eigenen göttlichen Geist (griechisch: ὁ ἑαυτοῦ δαίμων; im Satzzusammenhang als Akkusativ: τὸν ἑαυτοῦ δαίμονα) rein zu bewahren versuchst, als ob du ihn schon zurückgeben müsstest, wenn du daran anknüpfst, ohne zu verfolgen oder zu fliehen, sondern dich mit naturgemäßer Tätigkeit und heldenhafter Wahrhaftigkeit begnügst, wirst du ein gutes Leben führen. Es gebe niemanden, der dich daran hindern könnte.

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 3, 16, 3 behauptet, wenn das übrige gemeinschaftlich sei, bleibe als die spezifische Eigenschaft des Guten übrig, alles, was ihm geschieht und bestimmt ist, zu lieben und gern anzunehmen, außerdem den in seiner Brust/seinem Herzen sitzenden/wohnenden/errichteten göttlichen Geist (griechisch: ὁ ἐν τῷ στήθει ἱδρυμένος δαίμων; im Satzzusammenhang als Akkusativ: τὸν δὲ ἔνδον ἐν τῷ στήθει ἱδρυμένον δαίμονα) nicht zu verunreinigen oder durch einen Haufen von Vorstellungen zu verwirren, sondern in heiterer Ruhe zu belassen, indem sie in ordentlicher Weise der Gottheit folgt, und nichts zu reden, was der Wahrheit oder der Gerechtigkeit widerstreitet.

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 5, 27 behauptet, mit den Gottheiten lebe nur zusammen, wer ihnen unterbrochen zeige, dass seine Seele mit dem, was ihr zugeteilt ist, zufrieden ist und tut, was der göttliche Geist (griechisch: ὁ δαίμων) will, den Zeus als ein Stück von sich selbst jedem Einzelnen als Beschützer und Führer gegeben hat. Er sei der Geist und die Vernunft jedes einzelnen (griechisch: ὁ ἑκάστου νοῦς καὶ λόγος).