Welche Bedeutung hatte die Kompromissfähigkeit in der politischen Diskussion für das Gelingen einer parlamentarischen Demokratie (Weimarer Republik)?

2 Antworten

Die extreme Zersplitterung der Weimarer Politik und die tiefen politischen und ideologischen Gräben, die jede Hoffnung auf eine Einheit und Integration innerhalb des Weimarer Systems zunichte machten, hielten nicht nur die Visionen der nationalistischen und völkischen Rechten am Leben, sondern förderten auch die wachsende Zustimmung zu den vernichtenden Angriffen in rechtsgerichteten Schriftstücken der dieser ideenarmen Zeit den Stempel der geistigen und politischen Dauerkrise aufdrückte.

Die Nationalsozialisten nutzen diese Unfähigkeit der Weimarer "Kompromiss-Politiker" umgehend für sich, man gelobte, das im scharfem Gegensatz zu den farblosen und elenden Politikern der Weimarer Republik der künftige Führer ein Mann mit außerordentlichen Fähigkeiten und politischer Stärke sein würde, kühn und entschlossen, zu dem seine Anhänger mit Bewunderung und Hingabe aufsehen könnten.

In dieser extremen Form stellte der Glaube an ein heroisches Führertum im Deutschland der frühen zwanziger Jahre natürlich eine Randposition der äußersten Rechten des politischen Spektrums dar, aber Elemente dieser Sehnsucht reichten zweifellos weit in die Reihen derer hinein, die hinter den bürgerlich-konservativen Parteien und Bewegungen standen. Ende der zwanziger Jahre, vor allem in der sich verschärfenden Weltwirtschafts und Regierungskrise, wurde in weiten Kreisen ein vollständiges Scheitern der Weimarer Demokratie und eine tödliche Krise des ge¬ samten politischen Systems diagnostiziert, so daß die Idee des heroischen Führertums vom Rand des politischen Spektrums ins Zentrum rückte.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Geschichte Schwerpunkt Deutsches Reich / Nationalsozialismus

Das hatte eine RIESIGE Bedeutung. Z.B. Gustav Stresemann war ein Anhänger der Dolchstoß-Legende hat sich trotzdem mit der SPD und Aristide Briand friedlich verständigt. Ohne Kompromissbereitschaft ist keine Demokratie möglich.

tanztrainer1  02.10.2023, 12:58

Verwechselst Du jetzt die DVP mit der DNVP?

Jedenfalls war Stresemann KEIN Antisemit. In dem Zusammenhang sehe ich nicht, dass Stresemann ein Befürworter der Dolchstoß-Lüge gewesen wäre.

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FabianPavian  02.10.2023, 13:25
@tanztrainer1

https://www.demokratie-geschichte.de/wp-content/uploads/2020/08/100K_Stresemann.pdf

M2) Der Historiker Hagen Schulze über Gustav Stresemann (1983)

„Das erste große Ziel deutscher Außenpolitik verstand sich fast von selbst: die Revision von Versailles. [...] Im Osten dagegen strebte er [Stresemann] ganz unverhohlen die Rückgabe Danzigs, des Korridors und Oberschlesiens an. Eine vertragliche Festschreibung der deutschen Ostgrenzen kam deshalb für ihn nie in Betracht; Stresemann mühte sich vielmehr, Frankreich und Polen zu entzweien [...]. Vor allem, um die Frage der deutschen Ostgrenze offenzuhalten, strebte Stresemann die Mitgliedschaft Deutschlands im Völkerbund an [...]. [I]hm ging es letztlich um die Beseitigung des internationalen Systems der Pariser Vorortverträge von 1919 und um die Rückkehr zu einem europäischen Gleichgewicht, in dem Deutschland wie zur Bismarck-Zeit schon aufgrund seiner hohen Bevölkerungszahl und seiner wirtschaftlichen Überlegenheit die erste Geige spiele sollte. Stresemann, das war Bismarck redivivus1, konservativ bis in die Fingerspitzen, der eine an den Grenzen des politischen Möglichen orientierte aufgeklärte Machtpolitik betrieb. Es war derselbe Stresemann, der 1914 Gebiete von Calais bis Petersburg annektieren wollte, der 1919 die Dolchstoßlegende gepredigt und sich der Annahme des Versailler Vertrages wie der Weimarer Reichsverfassung widersetzt hatte, und der nun daranging, mit den westlichen Alliierten den Ausgleich zu suchen – ‚Entspannungspolitik‘ zu betreiben, würde man heute sagen – , der mit aller Macht in den Völkerbund drängte, der den Friedensnobelpreis erhalten und der Nachwelt als großer Europäer erscheinen sollte. Doch in Wirklichkeit hat eine Wandlung vom nationalistischen Saulus zum paneuropäischen Paulus nie stattgefunden.“

[Quelle: Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917–1933. Berlin 1983, S. 272f]

Soviel zur linken Sichtweise über Stresemann. Bei Wikipedia fand man früher ebenfalls den Hinweis, dass er ein Vertreter der Dolchstoßlegende war. Ich weiß nicht, ob diese Information von konservativen Kräften gelöscht worden ist, oder weil man befürchtete, damit die Dolchstoß-Legende aufzuwerten.

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