Thomas Hobbes: Austritt aus dem Naturzustand?

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Thomas Hobbes hat das Thema am ausführlichsten und klarsten in seinem Werk »Leviathan« dargestellt (Leviathan or the matter, forme and power of a commonwealth ecclesiastical and civil; 1651).

In anderen Schriften ist die Gliederung und Zählung der natürlichen Gesetze teilweise anders.

Eine Darstellung zum Naturzustand hat Thomas Hobbes schon vorher veröffentlicht, im (der Systematik nach) dritten Band einer dreibändigen Darstellung (ab 1637 hat er daran gearbeitet) der Grundzüge seiner Philosophie »Elementorum philosophiae« (in späteren Auflagen: »Elementa philosophiae«), der zuerst 1642 als Privatdruck in Paris erschien, 1647 in einer durchgesehenen und ergänzten Fassung in Amsterdam: De Cive. Caput 1: De statu hominum extra societatem civilem (Vom Bürger. Kapitel 1: Vom Zustand des Menschen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft).

Ein im Mai 1640 vollendetes Werk enthält bereits die meisten anthropologischen und politischen Auffassungen von Thomas Hobbes, darunter eine Darstellung zum Naturzustand: Thomas Hobbes, The elements of law, natural and politic. Part 1. Chapter 14: Of the estate and right of nature

Von dem Werk waren handschriftliche Exemplare im Umlauf. 1650 erschien ein von Thomas Hobbes nicht genehmigter Druck. Insofern gab es das Werk, aber Thomas Hobbes selbst hat es nicht durch eine Veröffentlichung allgemein zugänglich gemacht.

Ich folge der Darstellung und Zählung der beiden grundlegenden Naturgesetze/natürlichen Gesetze im »Leviathan«: Thomas Hobbes, Leviathan or the matter, forme and power of a commonwealth ecclesiastical and civil. Part 1: Of man (Teil 1: Vom Menschen). Chapter 14: Oft he first an second natural laws, and if contracts (Kapitel 14: Vom ersten und zweiten natürlichen Gesetz und von Verträgen). Chapter 15: Of other laws of nature (Von anderen natürlichen Gesetzen)

Thomas Hobbes verwendet die Begriffe Naturrecht (englisch: right of nature; lateinisch: jus naturale; natürliches Recht) und Naturgesetz (englisch: law of nature; lateinisch: lex naturalis; natürliches Gesetz). Inhaltlich weicht er aber vom herkömmlichen Naturrechtsdenken stark ab.

Unterschied zwischen (natürlichem) Recht und (natürlichem) Gesetz bei Thomas Hobbes

Bei Hobbes besteht das Naturrecht/natürliche Recht in einer Freiheit, etwas zu tun und zu unterlassen (Handlungsfreiheit), das Naturgesetz/natürliche Gesetz schließt als eine vom Verstand/von der Vernunft gelehrte Vorschrift/allgemeine Regel eine Verbindlichkeit in sich ein, etwas zu tun oder zu unterlassen.

Bei Naturgesetzen/natürlichen Gesetzen tritt ergänzend und unterstützend zu den Leidenschaften vernünftige/verständige Überlegung hinzu. Sie ist von der Leidenschaft geleitet, der jemand dabei am stärksten zuneigt.

Das Naturrecht/natürliche Recht besteht im Naturzustand und wird bei einem Gesellschaftsvertrag (mit einem gewissen Verzicht der einzelnen Personen) auf einen Souverän übertragen. Naturgesetze/natürliche Gesetze werden vom Verstand/von der Vernunft aus Klugheitsgründen geboten, können aber erst in einem Gesellschaftszustand wirksam werden.

die beiden ersten Naturgesetze/natürlichen Gesetze bei Thomas Hobbes (Leviathan, Kapitel 14)

1) Frieden suchen und ihn einhalten

2)auf das Recht auf alles verzichten, soweit dies zum Zweck des Friedens und der Selbstverteidung und für notwenig gehalten wird, und sich mit soviel Freiheit zufriedengeben, wie jemand anderen gegenüber sich selbst zuzugestehen bereit ist

Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1984 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; Band 462), S. 99 – 100:  

„Folglich ist dies eine Vorschrift oder allgemeine Regel der Vernunft: Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht. Kann er ihn nicht herstellen, so darf er sich alle Hilfsmittel des Krieges verschaffen und sie bemühen. Der erste Teil dieser Regel enthält das erste und grundlegende Gesetz der Natur, nämlich: Suche Frieden und halte ihn ein. Der zweite Teil enthält den obersten Grundsatz des natürlichen Rechts: Wir sind befugt, uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.

Aus diesem grundlegenden Gesetz der Natur, das den Menschen befiehlt, sich um Frieden zu bemühen, wird das zweite Gesetz der Natur abgeleitet: Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles zu verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält, und er soll sich mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde. Denn solange jemand das Recht beibehält, alles zu tun, was er will, solange befinden sich alle Nenschen im Kriegszustand. Verzichten aber andere nicht ebenso wie er auf ihr Recht, so besteht für niemanden Grund, sich seines Rechtes zu begeben, denn dies hieße eher, sich selbst als Beute darbieten - wozu niemand verpflichtet ist - als seine Friedensbereitschaft zeigen.“

Erläuterung

Dem Inhalt nach sind Naturrecht/natürliches Recht und Naturgesetze/natürliche Gesetze weitgehend gleich, da natürliche Gesetze aus der Grundbestimmung des Naturrechts abgleitet sind. Beide beruhen auf dem gleichen Menschenbild, bei dem Selbsterhaltung und Streben nach Zufriedenheit durch Annehmlichkeiten im Mittelpunkt stehen.

Naturrecht/natürliches Recht besteht in unbeschränkt frei (Freiheit in der Bedeutung des Fehlens von äußerem Zwang) ausgeübter Selbsterhaltung. Dies gilt offenbar als von Natur aus bestehender Sachverhalt. Der Mensch handelt wegen seiner Natur so. Inwiefern dies Recht ist, bleibt darüber hinausgehend ziemlich unklar. Naturrecht besteht nach Hobbes eben im Ziel der nach seiner Auffassung leitenden Leidenschaft, dem Streben nach Selbsterhaltung. Etwas echt Normatives (ein Sollen, nicht nur faktische Tatsachen) ist im Naturrecht bei Hobbes kaum zu bemerken.

Ein Naturgesetz/natürliches Gesetz ist eine aufgrund eines allgemeinen Grundsatzes verbindliche Vorschrift oder allgemeine Regel, welche die Vernunft/der Verstand (englisch: reason; lateinisch: ratio) lehrt, nach der niemand etwas unternehmen soll, was er als schädlich für sich selbst erkannt hat.

Nach Auffassung von Hobbes verpflichten die Naturgesetze/natürlichen Gesetze im Gewissen (englisch: conscience; lateinisch: forum internum), sind unveränderlich, ewig und kommen von Gott (Leviathan, Kapitel 15).

Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1984 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; Band 462), S. 99:  

Das natürliche Recht, in der Literatur gewöhnlich jus naturale gennant, ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener vernunft als das zu diesem zweck geeigente mittel ansieht.“

Ein Gesetz der Natur, lex naturalis, ist eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann. Denn obwohl diejenigen, welche über diesen Gegenstand sprechen, gewöhnlich jus und lex, Recht und Gesetz, durcheinanderbringen, so sollten diese Begriffe doch auseinandergehalten werden. Denn Recht besteht in der Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen, während ein Gesetz dazu bestimmt und verpflichtet, etwas zu tun oder zu unterlassen. So unterscheiden sich Gesetz und Recht wie Verpflichtung und Freiheit, die sich in ein- und demselben Fall widersprechen.“

Eine inhaltliche Normativität für das Naturrecht wird von Hobbes nicht hergeleitet. Naturrecht bekommt eine andere Bedeutung und Hobbes weicht, auch wenn er in gewissem Sinn (Orientierung an der natürlichen Vernunft jedes einzelnen Menschen) als Vertreter eines Naturrechts eingeordnet werden kann, von der Tradition des Naturrechtsdenkens bei sehr wichtigen Gesichtspunkten völlig ab. Im Vergleich mit der Tradition hat ein Zusammenschrumpfen stattgefunden.

Das Naturrecht, wie es Hobbes entwickelt, gilt im Grunde unter Voraussetzungen (seine Befolgung entspricht Klugheit, als Rationalität des Verhältnisses zwischen Mitteln und als gegeben aufgefaßten Zwecken) und ist kein wahrhaft unbedingtes (kategorisches) moralisches Mesetz/Sittengesetz. Menschen können die friedensfunktionale Leistung des Rechts einsehen. Inhaltliche Normativität wird aber nicht hergeleitet. Bei Thomas Hobbes fehlen natürliche Rechte in der Art von Menschenrechten bzw. Grundrechten. Woher die ethische Verbindlichkeit kommen soll, bleibt ziemlich unklar. Hobbes betrachtet das Recht und die Gesetze auch als von Gott geboten. Allerdings geht dies nicht über eine Setzung durch eine Willenshandlung hinaus.

In der Einteilung des Rechts unterscheidet Thomas Hobbes natürliches Recht und bürgerliches Recht (dem positiven Recht zugeordnet), was aus der Tradition übernommen ist. Allerdings nimmt er dabei einen Gegensatz zurück, indem er erklärt, das Gesetz der Natur und das bürgerliche Gesetz schlössen sich gegenseitig ein und seien von gleichem Umfang. Denn die natürlichen Gesetze, die im Naturzustand keine eigentlichen Gesetz seien, sondern Eigenschaften, die Menschen zu Frieden und Gehorsam hinleiten, würden im Staatszustand zu wirklichen Gesetzen, die dann staatliche Befehle und somit auch bürgerliche Gesetze seien (Leviathan Kapitel 26).

Bücher enthalten zum Thema Erläuterungen, z. B.:

Otfried Höffe, Thomas Hobbes. Originalausgabe. München : Beck, 2010 (Beck'sche Reihe ; 580). ISBN 978-3-406-60021-0

Herfried Münkler, Thomas Hobbes. 3., aktualisierte Auflage. Frankfurt/Main; New York : Campus Verlag, 2014 (Campus Studium). ISBN 978-3-593-39870-9

Eduard Georg Jacoby/Jean Bernhardt/François Tricaud, Thomas Hobbes. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Band 3: England. Erster Teilband. Völlig neubearbeite Ausgabe. Herausgegeben von Jean-Pierre Schobinger. Basel : Schwabe, 1988 (Grundriß der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg; Abteilung 4, Band 3.1), S. 93 – 177

Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens : von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, Band 3, Teilband 2: Das Zeitalter der Revolutionen. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2008, S. 287 – 294 (zu Hobbes)

S. 290 – 291: „Hobbes revolutioniert das Naturrecht. Er vollzieht eine Wende zum Individuum und er vollzieht eine Wende, indem er an den Anfang des Rechts, nicht eine Pflicht stellt. Das Naturrecht wird auf ein Recht des einzelnen gegründet. Erstmals wird es ein seltsam von Moral befreites Recht. Wenn das Naturrecht bis dahin fordert: «sei gerecht!», «sei tugendhaft!», «was du nicht willst, daß man dir tue …», so sagt Hobbes als erster: Siehe zu, daß du am Leben bleibst! Jeder hat ein Recht, sein Leben mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erhalten. Im Naturzustand ist jeder Richter in eigener Sache, wenn er sein Leben für gefährdet hält und mit welchen Mitteln er es erhalten will (Lev. c. 14).

Das Naturrecht hat sich damit aus einem Gebot verwandelt in eine Erlaubnis, eine Lizenz. Jus naturale – das bedeutet: «die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung … seines eigenen Lebens einzusetzen» (Lev. c. 14).

Das traditionelle Ziel des guten Lebens wird wieder wie selbstverständlich durch das Überleben ersetzt. An die Stelle einer objektiven Verpflichtung tritt eine individuelle Lizenz. Sie ähnelt der Lizenz des Trivialhelden James Bond, und sie ist «a licence to kill». Von Natur aus hat jeder, so Hobbes, ein «Recht auf alles» («ius omnium in omnia»). (Elements I. c. 14, 18; de cive I. 10).

Wäre dies alles, was Hobbes über Naturrecht und Naturzustand zu sagen hat, wäre überhaupt nicht einzusehen, wie der Mensch noch aus dem Naturzustand herausgehen will. Hobbes’ Naturrecht akzeptiert den Einsatz von Gewalt. Es fügt zu allgemeinem Morden und Totschlagen noch die Erlaubnis hinzu. Neben das fundamental gewandelte Naturrecht setzt Hobbes zudem das Naturgesetz, die lex naturalis, und wenn es bei Hobbes nicht nur ein Recht und eine Erlaubnis, sondern auch wieder eine Verpflichtung gibt, dann ist sie in diesem Naturgesetz enthalten. Es wird definiert «a Precept or generall Rule, found out by Reason, by which a man is forbidden to do, that which in destruction of his life … » (Lev. c. 14).

Naturrecht und Naturgesetz unterscheiden sich wie Freiheit (liberty) und Verpflichtung (obligation), wie Lizenz und Gebot. Dem Menschen ist verboten, sein Leben zu gefährden. Hobbes leitet daraus das erste und grundlegende Naturgesetz ab. Es ist das Gebot, den Frieden zu sichern: «that every man ought to endeavour Peace, as farre as he has hope of obtaining it; and when he cannot obtain it, that he may seek, and use, all helps, and advantages of Warre.» (ebd.).”

Lev. c. = Leviathan, Kapitel  

ebd. = ebenda

Karl Schuhmann, Thomas Hobbes. In: Großes Werklexikon der Philosophie. Herausgegeben von Franco Volpi. Stuttgart : Kröner, 1999. Band 1: A – K, S. 692 - 697