Ist meine Bisexualität vererbt?

8 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet
Bisexualität ist völlig normal
Manchmal wünschte ich mir, dass ich einfach ein normaler Typ wäre

Aber du bist doch völlig normal! Bisexuell zu sein ist viel weiter verbreitet als man gemeinhin denkt. In repräsentativen Umfragen in Großbritannien, den USA, Deutschland und Israel gab jeweils mindestens jeder Dritte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, nicht ausschließlich hetero- oder homosexuell zu sein und gehört damit zum Spektrum von Bi+. Eine Studie unter Gerulf Rieger ergab, dass beinahe alle Frauen bisexuell sind oder lesbisch, aber fast nie ausschließlich hetero.

Wir müssen heute sogar davon ausgehen, dass nicht die Monosexualität (will heißen: ausschließlich heterosexuell zu leben) der "Ursprungszustand" ist, aus dem sich die Bisexualität entwickelt hat, sondern dass es genau umgekehrt war: nicht monosexuell (also bisexuell) zu leben war und ist der ursprüngliche Naturzustand (Monk et al. 2019). Bisexualität ist in der Natur weit verbreitet, so gut wie jede Tierart ist m. o. w. bisexuell. Homosexuelle Handlungen wurden bei über 1500 verschiedenen Arten aus allen Verwandtschaftsgruppen beobachtet, darunter auch bei allen Arten der Großen Menschenaffen, mit denen wir bekanntlich am engsten verwandt sind. Beim Bonobo (Pan paniscus) verhalten sich sogar alle Individuen ausgesprochen bisexuell (de Waal 1995).

Kommen wir aber nun zu deiner Hauptfrage:

Ist meine Bisexualität vererbt? Ja, aber ...

Die Forschung ist sich heute zumindest ziemlich einig darin, dass unsere sexuelle Orientierung angeboren ist, also von der Geburt an festgelegt ist (Balthazard 2021). Wir können uns weder dazu entscheiden ob wir hetero, homo oder bi sein wollen (geschweige denn, unsere Sexualität zu wechseln, wenn sie uns nicht gefällt), noch machen uns das Umfeld, in dem wir aufwachsen und die Erfahrungen, die wir z. B. ab der Pubertät sammeln, bi oder lesbisch oder schwul. Kinder aus Regenbogenfamilien sind nachweislich nicht häufiger homo- oder bisexuell als Kinder, die mit heterosexuellen Eltern aufwachsen. Und wenn etwa ein Junge in der Pubertät schwule Erfahrungen macht, dann haben ihn diese nicht schwul "gemacht", sondern er war schon vorher schwul.

Uneinigkeit herrscht aber darüber, welche Ursachen dazu führen, dass wir später mal bi, hetero oder homo sind (natürlich ist auch jede andere sexuelle Orientierung mit gemeint - man möge mir aus Platzgründen verzeihen, wenn ich mich auf die drei "klassischen" Identitäten beschränke). Je intensiver geforscht wird, umso klarer wird aber, dass es die eine Ursache nicht gibt.

Wenn man wissen möchte, ob eine bestimmte Eigenschaft genetisch bestimmt wird und damit erblich bedingt ist oder ob andere Umwelteinflüsse eine Eigenschaft bestimmen, sind Zwillingsstudien ein erster Schritt. Dabei schaut man sich eineiige Zwillingspaare genau an. Eineiige Zwillinge sind natürliche Klone, also genetisch identisch. Wenn eine Eigenschaft vollständig von den Genen bestimmt wird, sollten eineiige Zwillinge deshalb im Vergleich mit "normalen" Geschwistern überdurchschnittlich häufig dieselbe Eigenschaft haben. Tatsächlich zeigte sich, dass wenn ein Zwilling homosexuell war, bei eineiigen Zwillingen der andere Zwilling besonders häufiger ebenfalls homosexuell war. Das ist aber nur der erste Schritt. Wir müssen uns, um andere Umwelteinflüsse auszuschließen, noch zweieiige Zwillinge anschauen. Die sind genetisch nicht ähnlicher als "normale" Geschwister, wachsen aber als Zwillinge in derselben Umgebung auf. Wenn also eine Studie zeigt, dass auch zweieiige Zwillinge eine Eigenschaft häufiger miteinander teilen als durchschnittlich zu erwarten ist, dann spricht das dafür, dass nicht die Gene, sondern die gemeinsame Umwelt, in der sie aufwachsen, dafür ursächlich ist. Eine der größten je durchgeführten Zwillingsstudien aus Schweden (Långström et al. 2007) fand heraus, dass die sexuelle Orientierung wirklich eine genetische Ursache hat. Die Studie zeigte aber auch, dass die Gene nicht die einzige und nicht die Hauptursache sind. Der Einfluss der Gene liegt bei gerade einmal bei etwa 34 % (Männer) bzw. 18 % (Frauen), den überwiegenden Einfluss üben individuelle Umweltfaktoren aus.

Wenn man wissen will, wo im Genom die Stellen sind, die mit einer Eigenschaft in Verbindung stehen, hilft uns seit einigen Jahren die Molekularbiologie weiter. Durch den technischen Fortschritt können wir das Genom tausender Menschen innerhalb kurzer Zeit mittels so genannter genomweiter Assoziationsstudien (GWAS) durchleuchten. Anfang der 1990er Jahre wurde auf dem X-Chromosom im Abschnitt Xq28 eine bestimmte Variante entdeckt, die mit männlicher Homosexualität in Verbindung steht (Hamer et al. 1993), jedoch nicht mit weiblicher (Hu et al. 1995). Spätere Untersuchungen konnten dann den Zusammenhang zunächst nicht bestätigen, 2015 wurde dann aber eine Studie ver9ffentlicht,welche die Korrelation zwischen der Variante auf Xq28 und männlicher Homosexualität bestätigt (Sanders et al. 2015). Die bisher umfangreichste GWAS, die nach genetischen Markern gesucht hat, die mit homosexuellem Verhalten verknüpft sind, wurde 2019 veröffentlicht (Ganna et al. 2019). In dieser wurden die Genome von 493 001 Menschen abgesucht und tatsächlich fünf autosomale Marker entdeckt, die mit homosexuellem Verhalten korrelieren. Die Studie zeigte aber auch das, was schon die Zwillingsstudien belegten, dass der Einfluss der Gene sehr klein ist. Die in der Studie gefundenen Marker hatten nur einen Einfluss von 8 bis 25 %.

Welchen Einfluss hat die Umwelt?

Welche Umweltfaktoren sind das aber, die zusammen mit den Genen unsere Sexualität formen? Hier ist bisher vieles noch ungewiss. Immerhin dürfte klar sein, dass es sich um Umwelteinflüsse handeln muss, die vor der Geburt noch im Mutterleib auf uns einwirken.

Eine mögliche Erklärung könnten Hormone sein, denen wir im Mutterleib ausgesetzt werden. Eine Studie fabd z. B. heraus, dass die Wahrscheinlichkeit bisexuell zu sein größer wird, wenn man im Mutterleib einem höheren Spiegel des Schwangerschaftshormons Progesteron ausgesetzt ist (Reinisch et al. 2017). Wie sich die Hormone aber auf den Körper auswirken, ist nicht bekannt. Möglicherweise beeinflussen die Hormone die Bildung epigenetischer Muster. Zur Epigenetik gleich etwas mehr.

Ein anderer Umweltfaktor, der die sexuelle Orientierung beeinflussen könnte, ist das Immunsystem der Mutter. Es könnte eine Erklärung für den Älterer-Bruder-Effekt sein. Studien zeigten nämlich, dass Söhne umso wahrscheinlicher schwul sind, je mehr ältere Brüder sie haben. Das Immunsystem der Mutter könnte während der ersten Schwangerschaft (mit dem älteren Bruder) Antikörper gegen bestimmte Proteine bilden, deren Gene auf dem Y-Chromosom liegen. Weil die Mutter selbst ja kein Y-Chromosom hat, werden diese Proteine als körperfremd erkannt und vom Immunsystem angegriffen. Während einer erneuten Schwangerschaft mit einem Jungen könnten die Antikörper diese Proteine angreifen. Manche dieser Proteine scheinen die Gehirnentwicklung und damit womöglich die sexuelle Orientierung zu beeinflussen. In einer Studie wurde gefunden, dass Mütter von homosexuellen Söhnen tatsächlich vermehrt Antikörper gegen ein solches Protein namens NLGN4Y bilden (Bogaert et al. 2017).

Schließlich wird auch die Vererbung epigenetischer Muster als weiterer Umwelteinfluss vorgeschlagen (Rice et al. 2012), konkrete Belege gibt es jedoch nicht. Die Epigenetik bezeichnet Mechanismen, mit denen die Gene reguliert werden, ohne dass die Gene selbst (d. h. ihre Sequenz) verändert wird. Indem bestimmte Moleküle (z. B. Methylgruppen) an die DNA selbst oder an Histone, das sind Proteine, auf die die DNA "aufgewickelt" wird, um sie im Zellkern verpacken zu können, geheftet werden, können die Gene stumm geschaltet oder auch hochreguliert werden. Diese Markierungen könnten auch an Genen erfolgen, die die Sexualpräferenz beeinflussen. Die Hypothese besagt, dass etwa ein Vater unter Umständen sein epigenetisches Muster an eine Tochter weitergeben könnte, wodurch bei ihr dieselben Gene an- oder abgeschaltet werden und sich die Sexualpräferenz des Vaters bei der Tochter ausbildet, also für Frauen. Umgekehrt könnte eine Vererbung des epigenetischen Musters mütterlicherseits zu einer homosexuellen Orientierung bei Söhnen führen. Das Problem ist, dass die epigenetischen Muster von Spermium und Eizelle in der befruchteten Eizelle gelöscht werden und später individuell neu entstehen. Eigentlich können epigenetische Muster beim Menschen gar nicht vererbt werden. Es gibt zwar einige Studien, die auf eine Vererbung epigenetischer Muster hindeuten könnten, ein sicherer Nachweis existiert aber nicht. Und bislang ist auch nicht bekannt, nach welchem Mechanismus die epigenetischen Muster ihre Löschung umgehen könnten.

Aber ja es ist eh alles sinnlos eigentlich, ich kann auch nix daran ändern

Doch, du kannst und solltest sogar sehr viel ändern. Du kannst deine sexuelle Orientierung zwar nicht ändern, aber deine Einstellung dazu sehr wohl. Du musst lernen, dass bi zu sein völlig normal und gesund ist und nichts, wofür du dich schämen musst. Lerne dich selbst zu lieben und zu akzeptieren, dass du genau richtig bist so wie du von Natur aus nun mal bist. Du kannst lernen, dass du deine Bisexualität nicht verheimlichen musst, sondern, dass es dir gut tut und dir eine Menge Freiheit gibt, wenn du ganz offen dazu stehst.

Du kannst z. B. eine psychotherapeutische Behandlung in Erwägung ziehen, bei der du lernst dich selbst annehmen zu können und deine bisexuelle Identität als etwas Gutes zu erkennen. Es gibt auch in fast jedem größeren Ort queere Stammtische, Bi+-Vereine und Selbsthilfegruppen. Auch online gibt es zahlreiche Gruppen, z. B. das Bisexuelle Netzwerk unter bine.net, den Verein Uferlos e. V unter uferlos-online.de oder Liebe-Leben-Leute unter liebe-leben-leute.de.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin bisexuell. 💕💜💙
David250803 
Fragesteller
 20.07.2023, 02:49

Danke für diese ausführliche und interessante Antwort. Es ist leider schon so spät, ich werde jetzt schlafen gehen und mir das morgen in Ruhe durchlesen. Danke wirklich sehr für deine Bemühungen. :)

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Für deine sexuelle Ausrichtung musst du dich überhaupt nicht schämen, die ist ganz normal und auch in der Natur vorgesehen. Von wo die sexuelle Ausrichtung kommt, ist weitgehend ungeklärt, der eine Fachmann sagt so, der andere anders. Jedenfalls scheint sie seit der Geburt so programmiert zu sein, obwohl es auch die Annahme gibt, dass jeder Mensch bisexuell ist und die hetero Ausrichtung nur aufgrund von Erziehung oder gesellschaftlichen Druck beispielsweise wählt.

David250803 
Fragesteller
 20.07.2023, 02:36

Danke 😊

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Wissenschaftliche Thesen legen nahe, dass die sexuelle Orientierung tatsächlich genetisch bedingt ist:

Generell geht man momentan davon aus, dass es ein komplexes Zusammenspiel von biologischen als auch umweltbedingten/ sozialen Faktoren ist. Wobei den biologischen Faktoren eine größere Rolle zugedacht wird als den sozialen.
[...]
Es gibt viele Befunde, die die Wichtigkeit von biologischen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der sexuellen Orientierung betonen. Dabei geht man von drei hauptsächlichen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der sexuellen Orientierung aus, nämlich:
Gene/Erblichkeit
Gehirnentwicklung
(pränatale) Hormone und chemische Substanzen
Es gibt wohl nicht den einen Faktor, der die sexuelle Orientierung eines Menschen bestimmt, sondern sie entwickelt sich durch ein komplexes Zusammenspiel dieser biologischen Einflüsse gemeinsam mit umweltbedingten Faktoren.[31]
Allerdings gibt es mehr Evidenzen für die Unterstützung einer biologischen Ursachenhypothese, als für soziale Ursachen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Sexuelle_Orientierung

David250803 
Fragesteller
 20.07.2023, 02:37

Sehr interessant und hilfreich für mich ! Dankeschön !

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Manchmal wünschte ich mir, dass ich einfach ein normaler Typ wäre

Normaler als bisexuell zu sein geht nicht.

Der Homo sapiens ist, wie andere Primaten auch, eine grundsätzlich bisexuelle Spezies.

Daneben gibt es noch die Homosexualität, aber ob es tatsächlich Heterosexualität gibt, ist durchaus fraglich. Wenn überhaupt, dann ebenfalls eher als Ausnahme der Regel.

Seit ich das zum ersten Mal gehört habe, gehe ich davon aus, dass meine Sexualität ,,vererbt“ sein muss.

"Vererbt" wurde da höchstens die Kultur in eurer Fsmilie, das nicht zu tabuisieren und zu unterdrücken.

Denn "normal" ist eine heteronormative Erziehung, bis hin zur Unterdrückung von allem, was davon abweicht.

Andererseits ...

Ich bin nämlich nicht zufrieden mit meiner Sexualität ich schäme mich sehr dafür

... ist das dann wiederum nicht familiär nachvollziehbar.

Wie komnt man dazu, sich für seine Sexualität zu schämen? So etwas kenne ich eher aus sehr konservativ/religiös-homophoben Familien.

Nachtrag: Eine sehr schöne Sendung von arte zum Thema "Bisexualität" kam gerade auf ihrem YT-Kanal:

https://www.youtube.com/watch?v=hIyT1cKZ4GY

David250803 
Fragesteller
 20.07.2023, 02:41

Ja da hast du recht, meine Familie ist sehr konservativ deshalb. Ich habe Angst mich als bisexuell zu outen, weil ich habe keine Lust der Schwule der Familie zu sein :/ auch wenn ich in letzter Zeit öfters daran gedacht habe.

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Libertinaerer  20.07.2023, 06:03
@David250803

Tja nun, das ist sehr traurig (denn eigentlich sollte Familie über allem stehen - gerade bei konservativen Familien; und das beinhaltet eigentlich auch die Akzeptanz, dass andere Familienmitglieder mitunter anders sind, als man sich das so in seiner kleinen Welt bislang vorstellen wollte), zumal es durchaus auch berühmte Konservative gibt, die zur Einsicht kamen, weil das eigene Kind sich als homosexuell outete (z.B. Ex-US-Vizepräsident und -Verteidigungsminister Cheney).

Wobei ich persönlich kein "Outing-Fan" bin. Aber ich bin auch in einer links-liberalen Familie aufgewachsen und "nur" bisexuell. Wenn über das Thema diskutiert wird, dann sage ich was persönliches dazu, wenn es passt. Mein engeres Umfeld weiß das also auch ohne explizites "Outing".

Wenn Du mal Mädels anschleppst, die bei dir übernachten und mal Jungs (oder von mir aus auch nur Jungs), dann wird die Familie das früher oder später auch realisieren.

Und wenn sie sich trauen nachzufragen, dann kriegen sie ggf. auch eine Antwort.

Auch wenn deine familiäre Ausgangslage schlechter ist als meine: Zuerst einmal leb DEIN Leben. Du hast nur eines, und es sollte deswegen DICH glücklich machen.

Entweder deine Familie liebt dich, dann werden sie letztlich wollen, dass Du glücklich bist, oder sie stellen ihre Ideologie über dein Wohl. Das wäre schmerzhaft, aber letztlich dann doch extrem nachrangig.

Gegen seine Natur anzukämpfen, ist weder möglich, noch entsprechend sinnvoll. Ganz egal, was es da für hirnverbrannte Vorstellungen in manchen Ideologien/Religionen zu gibt ... 🤷‍♂️

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Laut Theorien ist JEDE Sexualität vererbbar.

Klassisches Beispiel: Mutter steht auf Männer, Vater steht auf Frauen. Ein Sohn wird dann idR die Sexualität des Vaters erben, aber es ist auch möglich, dass er die der Mutter erbt oder beide.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Bi yourself 🏳️‍🌈