Welche Meinung hat Michel Montaigne über Freundschaft?

2 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Michel de Montaigne (1533–1592) lebte in einer Zeit, die von Machtkämpfen und religiös begründeten Auseinandersetzungen und Kriegen (zwischen Katholiken und Protestanten) gekennzeichnet war. Für eine gute Gemeinschaft in Gesellschaft und Staat insgesamt war daher die Grundlage wackelig. Umso mehr Bedeutung gewinnt die Freundschaft zwischen einzelnen Personen. Es ist wichtig, sich auf diese verlassen zu können und sie sorgfältig auszusuchen. Vor diesem Hintergrund ist leichter nachvollziehbar, wie für Michel de Montaigne völliges gegenseitiges Vertrauen eine wahre Freundschaft ausmacht. Seine Darstellung wahrer Freundschaft ist vom Erlebnis seiner engen Freundschaft mit Étienne de La Boétie (1530 – 1563) geprägt, der frühzeitig gestorben ist.

Michel de Montaigne hat einen Essay „De l' amitié“ („Über die Freundschaft“) geschrieben der in Buch 1, Kapitel 28 seiner Essais steht.

Der Essay unterscheidet grundlegend:

  • wahre (echte, tiefe) Freundschaft
  • gewöhnliche Freundschaft, die eher oberflächlich ist, nicht über Gesichtspunkte der Nützlichkeit hinausgeht und bei der es sich meistens um bloße Bekanntschaften handelt

Freundschaft hat eine Grundlage in der Natur/Veranlagung der Menschen, eine Gemeinschaft einzugehen und sich erst darin voll entfalten zu können.

Michel de Montaigne vertritt die Auffassung, wahre Freundschaft sei ganz durch sich selbst bestimmt, nicht durch äußere Bedingtheiten. Daher gelten alle Freundschaften als weniger schön und großzügig/großherzig/edel und keine wahren Freundschaften, die aus anderen Motiven (Beweggründen) entstehen:

- Lust/Genuß (volupté)

- Vorteil/Nutzen/profit (profit)

- Bedarf/Erfordernis/Notwendigkeit (besoin), öffentlich und privat

Keine wahre Freundschaft sind mehrere schon in der antike bekannte Arten der Freundschaft. Diese beruhen auf:

- Natur (gedacht ist an Verwandschaft)

- gesellschaftlicher Stellung

- Hausgemeinschaft/Gastlichkeit

- sexueller/erotischer Anziehung

Montaigne grenzt die Freundschaft von Beziehungen/Bindungen anderer Art ab.

Familiäre Beziehungen (z. B. Verwandtschaft zwischen Geschwistern) sind nicht selbst ausgesucht. Zwischen Eltern und Kindern besteht außerdem große Ungleichheit, was eine Kommunikation/einen Gedankenaustausch verhindert, aus der/dem sich Freundschaft nähert.

Liebe (Gefühl der Männer zu Frauen) ist wie ein heftiges, auch verletzendes und quälendes Feuer, ungestüm und unbeständig wie eine steigende und fallende Fieberglut. Freundschaft dagegen ist wie eine allgemeine Wärme, die den Menschen ganz erfüllt und gleichmäßig wohlig bleibt, dauerhaft und sanft. Während bei der Liebe als Begehren das Vergnügen/die Lust/das Genießen mit der körperlichen Beendigung aufhört und Sättigung eintritt, sind bei der Freundschaft Begehren und Vergnügen/Lust/Genießen gleich und die Freundschaft steigt, gedeiht und wächst, weil sie etwas Geistiges bleibt und die Seele sich in der Anwendung der Freundschaft verfeinert/veredelt.

Ehe ist ein Vertrag, bei dem nur das Hineingehen frei ist, die Dauer aber unfrei, weil ein Widerufen von mehr Dingen als dem Wollen abhängt. Wenn auch die Körper an der Vereinigung teilnähmen und also der ganze Mensch in Wirksamkeit wäre, würde die Freundschaft noch an Fülle und Vollkommenheit gewinnen. Michel de Montaigne meint aber, Frauen seien gewöhnlich den geistigen Anforderungen bei der Kommunikation, wie sie zu wahrer Freundschaft gehört, nicht gewachsen.

Gewöhnliche Freundschaften sind Bekanntschaften, bei denen es Gelegenheiten zu etwas Angenehmen/Vorteilhaften und Unterhaltung gibt. Sie beruht auf wechselseitigem Verständnis.

Wahre Freundschaft entwickelt sich zwischen Gleichgestimmten und Gleichgesinnten (geistige Übereinstimmung, Seelenverwandtschaft, Harmonie der Charaktereigenschaften). Sie ist frei gewählt und beruht auf wechselseitigem Verständnis. Michel de Montaigne hat von ihr die Auffassung eines völligen, unbedingten Vertrauens und uneingeschränkter Hingabe, ineinanderaufzugehen/zu verschmelzen. Eine Ausgeglichenheit von Hilfen und Wohltaten spielt keine Rolle, weil es wie für einen selbst ist (der Freund ist ein anderes Ich). Wahre Freunde sind, wie Aristoteles es ausgedrückt hat, eine Seele in zwei Körpern. Wahre Freundschaft ist eine Zweierbeziehung mit einer Auschließlichkeit, weil keine weitere gleich starke Verbindung durchführbar ist.

Wahre Freundschaft wird erlebt. Es ist nicht möglich, sie erschöpfend rational zu erfassen. Etwas daran geht über den Verstand hinaus, eine unbegreifliche Macht vermittelt die Vereinigung.

Christa Seidel, Freundschaft III. 1. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: D – F- Basel : Stuttgart, Schwabe, 1972, Spalte 1108 – 1109:

„Ein noch stark individualistisches F.s-Ideal, in dem alle christlichen Implikamente durch stoische Vorstellungen verdrängt werden, vertritt MONTAIGNE in seinem Essay ‹De l'amitié›. Er mystifiziert die F. und scheint romantische Vorstellungen vorauszunehmen. Der Freund wird zu alter ego, F. ist die höchste Form der Selbstverwirklichung. «Es ist ein nicht kleiner Wunsch, sich selbst zu verdoppeln». F. steht für ihn nicht in Widerspruch zur selbst gewählten Einsamkeit, die er an anderer Stelle preist; beide beruhen auf dem gleichen Freiheitsbedürfnis: «Die Herzens-F. die durch freie Wahl ohne Zwang entsteht», überragt dadurch noch die «Familien-F. », zu der «uns die Gesetze und Pflichten der Natur verbinden». Wahre F. zeichnet sich aus durch Geistigkeit und Übereinstimmung der Seelen und Charaktere, sie steht weit über der flüchtigen Leidenschaft der Liebe. F. ist für Montaigne nicht rational zu erfassen, sondern wird durch «eine unbegreifliche, unwiderstehliche Macht» hervorgebracht.“

F. = Freundschaft

Um Michel Montaigne zu verstehen, gerade, was Freundschaft angeht, muss man sich in seine Zeit versetzen. Es ist Frankreich im 16. Jahrhundert. Es herrscht Inquisition und es sind die Hugenottenkriege, also die französischen Glaubenskriege zwischen den Katholischen und Lutherischen, die mit aller Brutalität und Hinterlist und Verschlagenheit geführt wurden. Wenn Du dem Falschen vertraut hast, konnte das bei Denunziation Dein Leben kosten. Freundschaft war also soetwas wie ein Geheimbund, eine Personenbeziehung, in der man frei atmen konnte, ohne ständig auf der Lauer vor Verrätern und Denunzianten zu liegen. Einen größeren Kontrast zu den Larifari-Freundschaften auf Facebook kann man sich nicht vorstellen. Wiewohl auch die bald umschlagen werden, wenn sich immer mehr kriminelle Elemente einmischen, die diese anonymen Freundschaften für üble Machenschaften ausnutzen. Zu Michel Montaignes Zeit konnte man sich unter Lebensgefahr solche Fahrlässigkeiten nicht leisten. Da war nicht nur große Vertrautheit Bedingung sondern auch unbedingtes Vertrauen.