Der große Gatsby: Wieso hat Daisy sich nicht für Gatsby entschieden?

1 Antwort

Hallo,

ist zwar schon Jaaahre her, seit ich den "Great Gatsby" gelesen habe, aber ich versuche mich dennoch mal an einer Antwort:

Vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges entscheidet sich Daisy gegen Gatsby und für ihren späteren Ehemann Tom, da sie um ihre soziale Stellung fürchtet und ihr Gefühl und/oder ihr Wille nicht stark genug ist, sich gegen die Konventionen ihrer Gesellschaftsschicht zu stellen und sich für einen jungen "Habenichts" zu entscheiden, dem sie zwar romantische Gefühle entgegenbringt, der ihr, im Gegensatz zu Tom, dem "gemachten Mann", jedoch nichts zu bieten hat, außer seiner Liebe, einem Kopf voll fantastischer Ideen und dem Willen, "es irgendwie" zu schaffen. Daisy trifft somit eine Kopf- und keine Herzensentscheidung ganz im Sinne ihrer konventionellen Erziehung, als sie, nach einer durchweinten Nach voller Zweifel, mit Tom vor den Altar tritt.

Später, als Daisy den mittlerweile sehr vermögenden und geheimnisumwitterten "self-made-man" Gatsby, den personifizierten "American Dream", wieder trifft und mit ihm eine außereheliche Affäre beginnt, verweigert sie eine Entscheidung zwischen ihm und ihrem (untreuen) Ehemann, da sie sich mittlerweile in ihrer seltsam lieb- und leblosen Ehe und in ihrem leeren, inhaltslosen, aber "den schönen Schein wahrenden Leben" bequem eingerichtet hat. Es schmeichelt ihr und ihrer Eitelkeit zwar, dass Gatsby, der mittlerweile "jede" habe könnte, sie nach all den Jahren nicht vergessen hat, sie immer noch liebt, begehrt und sie wie eine Göttin, die es anzubeten und der es Opfer zu bringen gilt, auf einen Marmorsockel stellt, aber es ist eher der Reiz der Erinnerung an ihre frühere Liebe und ihre Jugend sowie das Gedankenspiel "was wäre wenn", dem sie kurzfristig erliegt, eine kurze und (bitteschön möglichst konsequenzlose) Flucht aus der Realität, aus ihrer leeren Existenz. Aber ihre Gefühle für Gatsby, der glaubt, die Vergangenheit wiederbeleben zu können, sind wiederum nicht stark genug, um eine bewusste Entscheidung für ihn und gegen ihr gewohntes Leben zu treffen, sie wagt es nicht, aus ihrem "goldenen Käfig", in dem sie es sich mittlerweile häuslich eingerichtet hat, auszubrechen und ihr Leben selbstbewusst und selbstbestimmt in die eigene Hand zu nehmen.

Garnet72  09.09.2019, 02:18

Nachtrag: hinzuzufügen wäre evtl. noch, dass Gatsby es, trotz seines (aus dubiosen Quellen stammenden) Reichtums, trotz der Statussymbole, mit denen er sich umgibt und trotz der mondänen Partys, die er ausrichtet, immer noch "nicht geschafft hat", er ist immer noch "nicht angekommen", immer noch nicht Teil "der Gesellschaft": er verfügt nicht über "altes Geld", hat nicht das obligatorische Studium in Harvard oder Yale absolviert, hat nicht den "richtigen Stallgeruch" - er ist, bösartig gesagt, nur ein "Parvenü".

Gatsby hat sich quasi aus dem Nichts "selbst erschaffen", er ist mehr Schein als Sein, eine Art "Traum-/oder Fantasiegebilde" - auf seinen Partys gönnt sich "die Gesellschaft", die Upper-class, eine Auszeit von ihrer gepflegten Langeweile, mischt sich mit Halb- und Unterwelt und kehrt, nachdem sie sich amüsiert hat, wieder in ihre exklusive Sphäre zurück, zu der Gatsby (oder auch Myrtle, die Geliebte Toms) immer der Zutritt verwehrt bleiben wird. Gatsby ist und bleibt "ein Außenseiter", er und Daisy leben immer noch in verschiedenen Welten und Daisy, die für Gatsby all das symbolisiert, was es zu erringen gilt, wird sich niemals für ihn und gegen ihre eigene Welt entscheiden.

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Luisa89d 
Fragesteller
 09.09.2019, 15:19
@Garnet72

Tolle Antwort, du hast einen guten und tiefsinnigen einblick in die gefühlswelt von daisy geliefert

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Luisa89d 
Fragesteller
 09.09.2019, 16:49
@Garnet72

Welche Rolle spielt Nick in der geschichte? Ist er ein verlässlicher Erzähler?

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Garnet72  09.09.2019, 16:55
@Luisa89d

Ich denke schon - er ist zwar zu Beginn durchaus von Daisy angetan/von ihr eingenommen und evtl. etwas von ihrem Charme geblendet, im Laufe der Geschichte entwickelt er aber doch eher Sympathien für Gatsby, den er als tragische Figur (Held wäre wohl zu viel gesagt) sieht, während er zu Daisy und ihrem gefühlsarmen, leeren und oberflächlichen Leben immer stärker (innerlich) auf Distanz geht. Nick steht sozusagen einerseits als Betrachter zwischen den Welten, ist andererseits aber auch Vertrauter sowohl Daisys als auch Gatsbys.

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Garnet72  09.09.2019, 17:08
@Luisa89d

Stimmt - man ist lediglich bequemer unglücklich. Für Gatsby ist Geld aber lediglich Mittel zum Zweck, um Daisy zu erobern, die für ihn das Symbol dafür ist, es geschafft zu haben/als Teil der Gesellschaft akzeptiert zu werden, während Daisy Geld als Mittel zur Zerstreuung dient, um sich von ihrer leeren Existenz abzulenken. Nick ist vermutlich der einzige, der schon begriffen hat, dass man sich mit Geld nicht sein Glück erkaufen kann - er hat ja mit Daisy und Gatsby zwei Beispiele vor Augen, dass Geld und "Glück" nicht Hand in Hand gehen müssen.

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