Der Begriff "queer" verschleiert einzelne Orientierungen und Identitäten und macht sie unsichtbar. Der Begriff LSBTI+ ist zwar unhandlicher, gesteht verschiedenen Orientierungen wenigstens noch einen Buchstaben zu. 

Der Begriff "queer" kann vieles und nichts heißen und ist unspezifisch. Als schwuler Mann kann ich nur Repräsentation für andere schwule Männer erreichen, wenn ich mich selbst auch als schwul bezeichne.

Man kann sich als "Gay" oder "Schwul" bezeichnen und die Bezeichnung "Queer" ablehnen, ohne gegen Trans oder Nicht-Binäre Personen eingestellt zu sein.

An meinem Beispiel: ich sehe mich persönlich als schwul, nicht queer. Seit meiner Kindheit bin ich damit aufgewachsen,  dass "schwul" als Schimpfwort verwendet wurde oder andere, spezifisch schwulenfeindliche Wörter verwendet wurden. Es ist Teil meiner persönlichen Emanzipation und Identität, dieses oft negativ behaftete Wort für mich zu erschließen.

Meiner Auffassung nach ist eine gegensätzliche Entwicklung im Gange, die da lautet: "Queer not Gay". Insbesondere sexuelle Orientierungen fallen dabei immer mehr unter den Tisch.

Einige Beispiele dazu:
- die neue Präsidentin der Human Rights Campeign, bedeutenste LSBTI+ Organisation der USA, hat in ihrer Antrittsrede über vieles gesprochen, Wahlrecht, Abtreibung, Trans-Kinder, Arbeitnehmerrechte. Die Worte "lesbisch", "schwul", "bisexuell" fielen kein einziges Mal. Ebensowenig spezifische Probleme von sexuellen Minderheiten. Auch folgender Artikel der New York Times stellt diese Entwicklung fest:https://www.nytimes.com/2022/10/23/opinion/queer-gay-identity.html

- bei der Gedenkveranstaltung im Bundestag 2023 für die "queeren" Opfer des Nationalsozialismus wurden in vielen Meldungen homosexuelle Männer gar nicht mehr oder nur noch untergeordnet genannt, obwohl Paragraph 175 der Nationalsozialisten gegen sie gerichtet war.

- Personen, die sich selbst als gay oder schwul bezeichnen, werden von anderen mittlerweile als "queer" bezeichnet, obwohl diese Personen sich selbst nie so bezeichnet haben. Das Recht, sich dagegen auszusprechen, wird teilweise mittlerweile abgesprochen. Beispiel: David Sedaris sagte, dass er für sich selbst die Bezeichnung queer ablehnt, nachdem er so bezeichnet wurde. Daraufhin bekam er auf Twitter einen Shitstorm.

Insbesondere, wenn ich als schwuler Mann eine Diskriminierungsgeschichte habe, möchte ich mich auch als schwul bezeichnen und ich möchte auch, dass die spezifischen Probleme, die schwule Männer noch immer haben, Beachtung finden. Diese Probleme unterscheiden sich zum Teil von Problemen, die Lesben oder Trans haben. Daher finde ich es wichtig, nicht alles mit "queer" zu überdecken sondern die einzelnen Buchstaben hervorzuheben.

So sind schwule und bisexuelle Männer mit Abstand am meisten Opfer von Gewalt, Beispiel Maneo-Report 2022, Gewaltstatistik Berlin:
- 177 Übergriffe gegen Schwule und männliche Bisexuelle
- 30 Übergriffe gegen Trans
- 10 Übergriffe gegen Lesben und weibliche Bisexuelle

Die Website Queer.de hat hat nur noch die Gesamtzahl aller Übergriffe veröffentlicht, als "queerfeindliche Delikte" ohne Nennung der Zahlen zu einzelnen Gruppen. Die besonders hohe Gewalt gegen schwule und bisexuelle Männer wird damit unsichtbar gemacht.

Insbesondere im alltäglichen Sprachgebrauch und der Popkultur ist Schwulenfeindlichkeit noch weit verbreitet. Begonnen bei der Verwendung des Wortes "schwul" sowie anderer Schimpfworte wie "Schw***tel" als besonders häufige Schimpfworte in Schulen, dass Bromances in Ordnung sind, weil nicht schwul, darüber, dass Zärtlichkeiten zwischen Männern wie Händchenhalten oder Küssen auf besonders große Ablehnung stoßen sowie, dass schwule und bisexuelle Männer als Eltern besonders kritisch gesehen werden. Das sind nur einige der Probleme, die noch bestehen.

Es bedarf daher meiner Meinung nach einer spezifischen Repräsentation der verschiedenen Gruppen der LSBTI+. Natürlich gibt es auch Gemeinsamkeiten, aber wenn sich schwule Männer nicht mehr als "gay" oder "schwul" sondern nur noch "queer" bezeichnen und es keine Organisation mehr gibt, die sich beispielsweise spezifisch für schwule und bisexuelle Männer einsetzt sondern nur noch unter dem Label "queer" agiert, dann schafft dies nicht mehr sondern weniger Sichtbarkeit und nicht weniger sondern mehr Diskriminierung.  

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