Süchtig nach Gedanken?

Ich weiß nicht, ob ich damit alleine bin, aber mein Tag besteht hauptsächlich aus Musik hören und.... denken. Ich denke immer. Oder viel mehr, ich träume. Irgendwann habe ich einen Namen dafür gesucht und bin auf "Split & Change" gekommen. Es ist nämlich so, ich nehme eine Figur, die mir gefällt und ändere sie so um, wie ich sie gerne haben will, feile an Charakter, Aussehen, Verhalten und dann lasse ich sie in irgendeine Handlung einsteigen und dort ihr Ding drehen, so eine Art Superhelden Sache, nur das diese Person nicht unverwundbar ist und am Ende jedes Mal draufgeht. Zum Beispiel setzte ich diese Person (will den Namen nicht nennen, kommt mir lächerlich vor, in meinem Kopf ist sie sicherer als auf dem Bildschirm) in die Handlung eines Buches ein und lasse sie dort kämpfen. Und aus jedem Film, den ich sehe, jedes Buch, dass ich lese und jedes Spiel das ich spiele, bringt neue Elemente, neue Szenen, die ich verbauen kann. Mittlerweile mache ich das immer. Morgens nach dem Aufstehen, abends beim EInschlafen und zu jeder Zeit des Tages an der es irgendwie möglich ist. Ich bin immer in Gedanken. Am besten geht es mit passender Musik, aber auch ohne. Stundenlang sitze ich da und kreire meine Welt, ohne das mir langweilig wird. Und jetzt ist mir aufgefallen, dass ich damit nicht mehr aufhören kann, dass ich das BRAUCHE. Ohne diese zweite Welt, in die ich mich flüchten kann, in der meine Helden für mich kämpfen... ich weiß nicht was ich tun würde. Ich bin regelrecht süchtig dannach. Ist das Normal?

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Die "Sucht" nach Denken ist keine wirkliche Sucht, sondern ein m.E. ein Appetenzverhalten, ein aus der Instinktforschung bekanntes Phänomen. Dieses gibt es bei den meisten Spezies, z.B. bei den Wölfen. Bei diesen gibt es z.B. den Instinkt, bei Hunger loszulaufen. Der Reiz, der ihn auslöst, ist also eben der Hunger. Wenn der Wolf nun beim ungezielten, unbewußt (?) explorativen Herumlaufen ein Beutetier gewahr wird, wird der Jagdinstinkt ausgelöst. Der Reiz hierfür ist also die Wahrnehmung des Beutetiers. Dadurch wird der eigentliche Erfolg des beschriebenen "zweistufigen" Appetenzverhaltens erzielt, nämlich die Erlegung der Beute und somit die Ernährung des Wolfes. So gesehen, ist das Appetenzverhalten Teil einer evolutionären Überlebensstrategie des Wolfes.

Beim Menschen ist m.E. exploratives Denken eine ähnliche evolutionäre Überlebensstrategie, die ebenfalls den Charakter eines Appetenzverhaltens hat. Hier könnte man vielleicht als Reiz das entspannte "Pausieren" des Großhirns sehen, d.h. seine Nicht-Inanspruchnahme zur Bewältigung akuter existentieller NotLagen. Das löst gewissermaßen ein ungezieltes gedankliches Herumlaufen aus. Wenn wir dabei auf eine Idee stoßen, wird die gezielte gedankliche Befassung mit dieser ausgelöst. Dies führt wiederum u.U. zu einem Modell für praktische Vorhaben, die helfen können, verschiedene Bedürfnisse des Menschen besser zu befriedigen.

Beim Wolf führt also das erwähnte Appetenzverhalten indirekt zur Lösung der Überlebensfrage der Ernährung, nämlich eben durch den Verzehr von Beutetieren. Beim Menschen führt das Appetenzverhalten des ungezielten Denkens indirekt zu Lösungsvarianten für die Überlebensfrage der situationsbedingten, also immer wieder unterschiedlichen Nutzung natürlicher Gegebenheiten für Überleben und Wohlgefühl.

Wenn der Wolf regelmäßig gefüttert wird, wird sein Appetenzverhalten des ungezielten Laufens mangels eines auslösenden Reizes kaum aktiviert, und wenn doch (etwa durch Sinken der Reizschwelle), kommt es gewissermaßen zu einer leeren Handlung, welcher der Erfolg versagt bleibt. Ohne eine existentielle Bedrohung darzustellen, dürfte dies das Tier zumindest regelmäßig frustrieren, also doch irgendwie schädigen. Vermieden wird dies bei großen Wolfsgehegen durch zufällig variierende Patzierung des Futters.

Wenn der Mensch regelmäßig mit "Zerstreuung" des Geistes und der Sinne "gefüttert" wird, wird mangels eines auslösenden Reizes sein Appetenzverhalten des ungezielten Denkens kaum aktiviert. Im Unterschied zum Wolf kann er es aber durch einen bewußten Willensakt - etwa das Ausschalten des Fernsehers :) - selbst aktivieren. Und, ebenfalls im Unterschied zum Wolf, kommt es dabei auch ohne verständige Eingriffe eines höheren Wesens nicht unbedingt zu frustrierenden leeren Handlungen, sondern zu Ergebnissen, die in der einen oder anderen Weise nützlich sein können.

Wenn nun manche Menschen - nicht alle! - immer wieder von dieser "Selbstauslösung" des ungezielten Denkens und dabei indirekt auch von der "Ausschlachtung" (um im Bilde zu bleiben) einer dabei gefundenen Idee Gebrauch machen, kann man m.E. von einer Art Sucht sprechen, allerdings von einer GUTEN Sucht. Denn sie führt, auch in rein körperlicher Hinsicht, zu einem, aus dem Inneren heraus generierten Wohlgefühl, das uns moderne Menschen (als Gefangene einer überzivilisierten Gesellschaft) in ähnlicher Weise von einem Dauerfrust erlöst wie eine Droge, die uns für kurze Zeit vom zivilisationsbedingten Dauerstreß erlöst. Das kann, um wieder an den Wolf anzuknüpfen, auch mit dem erwähnten, zufällig ausgelegten Futter verglichen werden, das dem gefangenen Wolf hilft, seine Instinkte auszuleben.

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