Warum Kroatisch, Serbisch, Bosnisch und Montenegrinisch nicht dieselbe Sprache sind
Die vier südslawischen Standardsprachen Kroatisch, Serbisch, Bosnisch und Montenegrinisch gehen alle auf dieselbe dialektale Basis zurück: den štokavischen Dialekt, genauer gesagt den neuštokavischen Dialektraum, der sich über einen Großteil der westlichen Balkanregion erstreckt. Dennoch handelt es sich heute um vier eigenständige Sprachsysteme – nicht nur in politisch-symbolischem, sondern auch in grammatikalischem, lautlichem, lexikalischem und strukturellem Sinn. Sie sind eng verwandt, aber nicht gleich.
Historisch wurde in Jugoslawien versucht, das Serbokroatische als eine gemeinsame plurizentrische Sprache zu normieren, die verschiedene nationale Realisierungen erlaubt. Dabei sollte die Štokavica – also der Dialekt, der das Fragewort „što“ (was) benutzt – als gemeinsame Basis dienen. Doch diese Sprachpolitik überdeckte tiefere Unterschiede:
- Serbisch basiert hauptsächlich auf dem ekavischen Štokavisch.
- Kroatisch verwendet ijekavisches Štokavisch, aber mit lexikalischer und stilistischer Einfärbung durch Čakavisch und Kajkavisch.
- Bosnisch basiert ebenfalls auf ijekavischem Štokavisch, enthält jedoch eigene stilistische Tendenzen.
- Montenegrinisch entspricht fast vollständig dem ijekavischen Serbisch.
Ein historisch bedeutsamer Schritt für die Herausbildung des kroatischen Standards war die illyrische Bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie verfolgte im habsburgischen Kroatien das Ziel, auf der Grundlage des Štokavischen eine einheitliche Schriftsprache möglichst für alle Südslawen – anfänglich sogar inklusive der Slowenen und Bulgaren – zumindest aber für alle Kroaten zu schaffen.
Ljudevit Gaj, der bedeutendste Vertreter dieser Bewegung, wechselte deshalb 1836 in seiner Zeitschrift Danica bewusst vom Kajkavischen (wie es in Zagreb gesprochen wurde) zum ijekavisch-štokavischen Modell, das sich an der literarischen Tradition von Dubrovnik orientierte. Dieses galt als gebildet, katholisch und überregional verständlich. Auch die Schriftreform war ein zentrales Anliegen der Illyristen: Sie übernahmen das lateinische Alphabet mit Sonderzeichen wie č, š, ž, ě aus dem Tschechischen und ć aus dem Polnischen, um die zuvor uneinheitlichen Digraphen zu ersetzen. Diese orthographische Ausgestaltung prägt das Kroatische bis heute und unterscheidet es unter anderem deutlich vom serbischen Schriftsystem, das zusätzlich Kyrillisch verwendet.
Diese bewusste Standardisierung auf Basis eines bestimmten Dialekts zeigt, dass die Sprachen nicht einfach „natürlich gewachsen“ oder gleich geblieben sind, sondern historisch gezielt entwickelt und voneinander abgegrenzt wurden.
Die Unterschiede sind heute in den vier offiziellen Standardsprachen grammatisch, phonetisch und idiomatisch kodifiziert.
Die Ijekavisch/Jekavisch/Ekavisch - Regel
Ein zentraler Unterschied zwischen den Sprachen betrifft die Reflexe des Urvokals „jat“ (Ѣ), eines alten slawischen Lauts. Aus diesem entstanden je nach Region unterschiedliche Lautformen:
- Ekavisch: „e“ → z. B. lepo, vreme, ceo
- Ijekavisch / Jekavisch: „ije“ oder „je“ → z. B. lijepo, vrijeme, cijeli
Diese lautgesetzlichen Unterschiede sind systematisch und betreffen hunderte Wörter. Sie sind nicht bloß Aussprachevarianten, sondern strukturierende Merkmale der Standardsprache. Beispiele:
- cijeli dan (kroatisch, bosnisch, montenegrinisch)
- ceo dan (serbisch – ekavisch)
Die ijekavische Form ist in Kroatien und Bosnien (sowie in Montenegro) Standard, während die ekavische Variante nur in Serbien verwendet wird. Die Tatsache, dass z. B. cijeli eher dem westslawischen celý (tschechisch, slowakisch) ähnelt, zeigt, dass Kroatisch lautlich und strukturell konservativer ist und mehr Parallelen zu westslawischen Sprachen aufweist als Serbisch.
Infinitiv vs. Da-Konstruktion
Ein klarer grammatikalischer Unterschied ist die Verwendung des Infinitivs:
Kroatisch bevorzugt Infinitivkonstruktionen:
- Želim raditi – Ich will arbeiten
- Moram učiti – Ich muss lernen
Serbisch verwendet systematisch die „da + Präsens“-Konstruktion:
- Želim da radim
- Moram da učim
Bosnisch erlaubt beide Formen, zeigt aber eine Tendenz zur serbischen Struktur.
Montenegrinisch folgt dem serbischen Muster.
Diese Unterschiede betreffen nicht nur Stil, sondern auch syntaktische Struktur, insbesondere bei komplexeren Sätzen und im Stilgebrauch. Kroatisch ist in der Konstruktion oft näher an den westslawischen Sprachen wie Tschechisch (chci pracovat) oder Slowakisch (chcem pracovať), wo der Infinitiv ebenfalls erhalten ist. Slowenisch benützt ebenfalls diese Struktur.
Wortschatz: Purismus, Internationalismen, Islamismen
Auch im Vokabular bestehen nachhaltige Unterschiede:
Kroatisch pflegt einen sprachlichen Purismus:
- računalo (Computer)
- zrakoplov (Flugzeug)
- glazba (Musik)
- odvjetnik (Anwalt)
Serbisch übernimmt häufiger Internationalismen, osmanisch angelehnte Begriffe können aber ebenfalls vorkommen (wenn auch deutlich seltener als im Bosnischen): kompjuter, avion, muzika, advokat
Bosnisch verwendet in bestimmten Bereichen (Religion, Alltagskultur) islamisch-osmanische Begriffe.
Montenegrinisch ist lexikalisch nahezu identisch mit dem Serbischen.
Die Unterschiede im Wortschatz sind funktional relevant, da sie in Medien, Rechtstexten, Lehrbüchern und offiziellen Dokumenten auftauchen.
Schrift und Aussprache
- Kroatisch und Bosnisch verwenden ausschließlich das lateinische Alphabet.
- Montenegrinisch verwendet beide, etwas öfter das Lateinische.
- Serbisch verwendet zwei Schriftsysteme: kyrillisch (offiziell), lateinisch (optional)
Ausspracheunterschiede sind für uns nicht massiv (für uns hören sich slawische Sprachen mehr oder weniger gleich an), sie sind aber, wenn man sich aber mit slawischen Sprachen auseinandersetzt, stark vorhanden. Serbisch hat oft eine etwas härtere Intonation, während kroatischsprachige Sprecher häufig eine weichere, musikalischere Akzentuierung zeigen, ähnlich beispielsweise der Slowakischen.
Ein großer Unterschied liegt auch in der soziolinguistischen Realität der Dialekte:
- Kroatisch hat bis heute eine sichtbare und aktive Dialektlandschaft: Kajkavisch, Čakavisch und Štokavisch sind lebendig und beeinflussen die gesprochene Sprache vieler Regionen.
- Serbisch ist in Zentralserbien stark nivelliert: Die meisten sprechen ekavisches Štokavisch, ohne nennenswerte Unterschiede. Nur in den Randgebieten (z. B. Torlakisch im Südosten) existieren noch Reste anderer Dialekte.
- Bosnisch hat keine eigenständige Dialektschicht – die Dialekte sind regional, aber nicht „bosnisch“ im strukturellen Sinn.
- Montenegrinisch basiert auf ijekavischem Štokavisch. Die Einführung von ś und ź erfolgte politisch-symbolisch, nicht aus phonetischer Notwendigkeit.
Fazit: Die serbokroatischen Standardsprachen sind nicht identisch. Sie beruhen zwar auf einer gemeinsamen Dialektbasis, unterscheiden sich aber durch:
- lautliche Regeln (ijekavisch vs. ekavisch)
- grammatikalische Konstruktionen (Infinitiv vs. „da“-Struktur)
- aktiven oder nivellierten Dialektgebrauch
- unterschiedlichen Wortschatz
- orthographische und stilistische Normen
Es gibt grundsätzlich noch einige Unterschiede (bspw. kuhanje - kuvanje), das wäre aber bisschen zu lang.
Besonders Kroatisch (sowie auch Bosnisch, jedoch etwas weniger) hebt sich durch dialektale Vielfalt, konservative Grammatik, westslawischere Lautstruktur und bewusste sprachliche Abgrenzung klar ab.
Montenegrinisch hingegen ist stark vom serbischen Modell beeinflusst, es ist also linguistisch am wenigsten eigenständig - Die Unterschiede zwischen dem Standardserbischen sind lediglich auf Dialektniveau.
Eine Prozentrate kann man nicht genau angeben, ich versuche es aber mal ...
Montenegrinisch ist dem Serbischen mit über 95% Ähnlichkeit am nächsten (nahezu identisch). Bosnisch unterscheidet sich zwar etwas mehr, ist aber mit etwa 85-90% zu Serbisch ebenfalls sehr nah verwandt. Kroatisch schätze ich auf rund 80% Ähnlichkeit, da die Basis gleich ist, es aber sehr sichtbare Unterschiede gibt, selbst bei kurzem Texten.
Zum Vergleich: Niederländisch und Deutsch ähneln sich etwa zu 65-70% (manchmal auch etwas mehr), Slowakisch und Tschechisch sind mit 85-90% sehr ähnlich, und auch Norwegisch und Dänisch liegen ungefähr in diesem Bereich.
Woher ich das weiß: Hobby - Kenntnisse in der Slawistik durch Interesse