Ich entnehme dem bisher Gelesenen, dass es Dir eher um die kirchenrechtliche Klärung des von Dir konstruierten Falles geht, also weniger um eine Diskussion um die Sinnhaftigkeit des Zölibats.
Zunächst muss geklärt werden, wie der Zölibat im kanonischen Recht definiert wird. Dem Namen entsprechend ist der Zölibat die ehelose Lebensform.
Viele meinen, dass sich nun aus einer Verpflichtung zum Zölibat die Verpflichtung zu sexueller Enthaltsamkeit automatisch ergebe, weil gelebte außereheliche Sexualität ja moralisch nicht geboten sei. Wir werden aber sehen, dass der kirchliche Gesetzgeber nicht so argumentiert, weil bloße moralische Wertung eben nicht Grundlage einer universalen, kirchenrechtlichen Norm sein kann.
Andere meinen, die bloße Verpflichtung zum zölibatären Leben enthielte noch nicht die Verpflichtung, sexuell enthaltsam zu leben. Wir werden aber sehen, dass diese Trennung für den Bereich des geltenden Kirchenrechtes künstlich ist, da der Gesetzgeber beide Verpflichtungen stets zusammen denkt.
Die folgenden Ausführungen tätige ich anhand des universalen Rechtes der lateinischen (römischen) Kirche:
Die Verpflichtung zum Zölibat der Kleriker regelt c. 277 CIC insbes. § 1:
"Clerici obligatione tenentur servandi perfectam perpetuamque propter Regnum coelorum continentiam, ideoque ad coelibatum adstringuntur, quod est peculiare Dei donum, quo quidem sacri ministri indiviso corde Christo facilius adhaerere possunt atque Dei hominumque servitio liberius sese dedicare valent."
Ich habe das ideoque absichtlich fett hervorgehoben. Die Norm regelt also, dass Kleriker zu "vollkommener und immerwährender Enthaltsamkeit" und deshalb (ideoque) ebenfalls zum Zölibat verpflichtet sind. Die Pflicht, ehelos zu leben, wird also mit der Pflicht, sexuell enthaltsam zu sein, begründet - nicht andersherum.
Ebenso regelt und begründet c. 599 den Pflichtzölibat für Mitglieder der Institute geweihten Lebens (Ordensleute).
Die übernommene Verpflichtung zur Enthaltsam begründet der Gesetzgeber hier nicht mit einer moralischen, sondern mit einer theologischen Qualifikation, auch wenn der Wortlaut "um des Himmelreiches willen" für Außenstehende merkwürdig klingen mag. Ekklesiologische und amtstheologische Vertiefungen, um dies zu erhellen, würden hier in der Tat den Rahmen sprengen.
Der Zusammenhang zwischen sexueller Enthaltsamkeit und Zölibat lässt sich nur mit einem Ausflug in das Eherecht erklären. Dieser Zusammenhang ist m. E. so eng, dass eine künstliche Trennung zwischen den Momenten der Enthaltsamkeit und der Ehelosigkeit gewiss nicht alltagstauglich und nur zur Begründung dieser inneren Relation vonnöten ist. Also warum folgt laut kirchlichem Gesetzgeber aus der einen Verpflichtung die andere?
Die cc. 1055-1058 geben eine grundlegende theologische Qualifikation der Ehe im Hinblick auf das kanonische Eherecht.
Dazu c. 1055 § 1: "Matrimoniale foedus, quo vir et mulier inter se totius vitae consortium constituunt, indole sua naturali ad bonum coniugum atque ad prolis generationem et educationem ordinatum, a Christo Domino ad sacramenti dignitatem inter baptizatos evectum est."
Folgende Wesenseigenschaften der Ehe werden also hier kirchenrechtlich normiert: Die Ehe stellt einen Bund zwischen Mann und Frau dar und ist insofern eine Lebensgemeinschaft. Diese ist "durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet" und zwischen Getauften durch Christus "zur Würde eines Sakramentes erhoben."
Weitere für unsere Frage relevante Qualifizierungen der Ehe sind folgende: Eine Ehe kommt durch den Willenskonsens der Partner zustande, der die freie Zustimmung der gesamtheitlichen, persönlichen Hingabe an den Ehepartner für beide einschließt. Dieser Konsens kann vonseiten der "rechtlich dazu befähigten Personen" geleistet werden. (vgl. c. 1057). Ebenso gilt, dass jeder das Recht hat, eine (kanonische) Ehe zu schließen, wenn er rechtlich dazu in der Lage ist (vgl. c. 1058).
Nach c. 1059 sind die bisher aufgeführten Normen, insofern sie das Ehesakrament theologisch qualifizieren, dem ius divinum naturale zuzuordnen. D.h. die Kirche als Empfängerin dieses Rechts kann daran nichts ändern. Andere Wesenseigenschaften, wie Sakramentaltät der christlichen Ehe, entstammen dem ius divinum positivum. Darüber hinaus gibt es eherechtliche Normen für die Ehe zwischen Katholiken, die dann dem rein kirchlichen Recht (ius mere ecclesiaticum) zuzuordnen und entsprechend änderbar sind (z.B. die Formpflicht). Wiederum andere relevante Normen des staatlichen Rechtes, zu denen die des kanonischen in keiner Konkurrenz stehen, regeln die bürgerlichen Folgen einer Ehe.
Einige Antworten hier geben völlig falsch wieder, dass die Kirche nicht geschlechtlich vollzogene Ehen als ungültig ansieht. Bezüglich unserer Frage hilft des weiteren c. 1061 § 1 weiter:
"Matrimonium inter baptizatos validum dicitur ratum tantum, si non est consummatum; ratum et consummatum, si coniuges inter se humano modo posuerunt coniugalem actum per se aptum ad prolis generationem, ad quem natura sua ordinatur matrimonium, et quo coniuges fiunt una caro."
Übersetzung: "Eine gültige Ehe zwischen Getauften wird als lediglich gültige Ehe bezeichnet, wenn sie nicht vollzogen worden ist; als gültige und vollzogene Ehe, wenn die Ehegatten auf menschliche Weise miteinander einen ehelichen Akt vollzogen haben, der aus sich heraus zur Zeugung von Nachkommenschaft geeignet ist, auf den die Ehe ihrer Natur nach hingeordnet ist und durch den die Ehegatten ein Fleisch werden."
Daraus wird noch einmal ganz klar deutlich, dass das Ausleben von Sexualität innerhalb der Ehe selbst ein Wesensbestandteil der Ehe ist, zumal der christlichen Ehe. Die Formulierung ist so gewählt, dass keine direkte Verpflichtung dazu besteht, durch (jeden) Geschlechtsverkehr Nachkommen zeugen zu wollen, zu können oder gar zu müssen.
Kleriker bzw. Ordensleute, die durch die öffentliche Verpflichtung an sexuelle Enthaltsamkeit gebunden sind, unterliegen demnach einem Ehehindernis. Sie sind entgegen den oben erwähnten cc. 1057 § 1 und 1058 nicht rechtlich dazu in der Lage, eine gültige Ehe einzugehen, da ihre Lebensweise entgegen cc. 1055 § 1 und 1061 § 1 eine wesentliche Eigenart der Ehe von vornherein ausschließt.
Diesen konkreten Fall eines trennenden Ehehindernisses, d.h. einer Eigenschaft, die eine Person rechtlich unfähig macht, eine gültige Ehe zu schließen (vgl. c. 1073), regeln cc. 1087 und 1088.
Zu c. 1087 ist folgendes zu sagen: Der Empfang des Weihesakramentes ist ein Ehehindernis, weil aufgrund der bei der Diakonenweihe öffentlich abgelegten Zölibatsverpflichtung eine gültige Eheschließung aus den oben genannten Gründen nicht möglich ist.
Die rechtliche Unfähigkeit, eine gültige Ehe einzugehen, wenn der geschlechtliche Vollzug der Ehe von vornherein ausgeschlossen ist, entstammt, wie bereits erwähnt, dem ius divinum naturale. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Grund für diese Unfähigkeit biologischer (z.B. bei Impotenz) oder kirchenrechtlicher Natur (wie beim Weiheversprechen) ist. Sobald klar ist, dass von vornherein eine Irregularität auftritt, die dem Wesen der Ehe entgegen steht, begründet dies ein trennendes Ehehindernis.
Dass Weiheempfang aufgrund der damit einhergehenden Zölibatsverpflichtung ein trennendes Ehehindernis des ius mere ecclesiaticum darstellt, also dispensierbar ist, ändert daran zunächst nichts. Erst wenn die Zölibatspflicht entfällt, ist der Betroffene rechtlich in der Lage, eine gültige Ehe einzugehen, auch wenn er sonst (physisch) dazu in der Lage wäre.
Also ist es kirchenrechtlich völlig konsequent, die Plicht zur Enthaltsamkeit mit der Pflicht zur Ehelosigkeit zu verbinden - und zwar, weil die Ehe mit ihren theologischen Wesenseigenschaften selbst eine kirchenrechtlich normierte Größe darstellt. So entsteht ein Verbot für Kleriker und Ordensleute, eine Eheschließung, auch zivilrechtlicher Natur, zu versuchen. Mit Verbot ist nicht bloß eine moralische Kategorie gemeint, so wie wir den Begriff manchmal umgangssprachlich verwenden, sondern dieses Verbot ist kirchenrechtlich als Straftatbestand normiert (vgl. cc. 1394f.).
Lange Rede, kurzer Sinn: Aus kirchenrechtlicher Perspektive lautet die Antwort auf Deine Frage für den Bereich der lateinischen Kirche: Nein, ein Kleriker kann keine Ehe eingehen, auch wenn er weiterhin sexuell enthaltsam lebt, und er darf es auch nicht versuchen, eine solche von vornherein ungültige Ehe einzugehen, sei es nur in ziviler Form.
Aber die Formulierung Deiner Frage lässt m. E. den Fall offen, ob ein bereits Verheirateter das Weihesakrament empfangen kann, sofern er danach enthaltsam lebt.
Dazu einige Punkte:
1. Wir haben gesehen, dass die bereits empfangene Weihe ein Ehehindernis darstellt. Andersherum gilt dies in der Tat nicht: Die Ehe verungültigt nicht den Empfang des Weihesakraments. D.h. der Ledigenstand ist keine Gültigkeitsvoraussetzung für den Empfang des Weihesakramentes. Allerdings ist der Empfang der Weihe im Bereich der lateinischen Kirche für Verheiratete nicht erlaubt.
2. Die Verpflichtung zum Zölibat, wie wir ihn hier diskutieren, wird mit Eintritt in den klerikalen Stand und mit der Inkardination in eine Teilkirche bindend, d.h. i.d.R. mit dem Empfang der Diakonenweihe. Da es sich hier um rein kirchliches Recht handelt (ius mere ecclesiasticum), kann die zuständige kirchliche Autorität vom Zölibat dispensieren. Bereits verheirateten (!) Kandidaten, die den ständigen (!) Diakonat anstreben, wird diese Dispens automatisch gewährt. Ebenso werden bereits verheiratete protestantische und anglikanische Geistliche, die konvertieren und zum katholischen Priestertum berufen sind, von der Zölibatsplicht dispensiert. Katholischen Kleriker, die den Zölibat nicht mehr leben können oder wollen, wird diese Dispens ebenfalls nach eingehender Prüfung gewährt, allerdings unter Verlust des klerikalen Standes resp. des Amtes, wiewohl sie aufgrund der Unverlierbarkeit der Weihe Diakone, Priester bzw. Bischöfe bleiben.
3. Die Zölibatsverpflichtung für Diakone, die zugleich das Presbyterat anstreben, gilt, unbeschadet der oben aufgeführten Ausnahmen, "nur" im Bereich der lateinischen Kirche. Im Bereich der Katholischen Ostkirchen, die ihr eigenes kanonisches Recht (CCEO) haben, gilt der Pflichtzölibat nur für Bischöfe und diejenigen, die unverheiratet die Weihe empfangen. Es gibt also einige verheiratete katholische Kleriker des lateinischen Ritus und viele der orientalischen Riten, die vom Zölibat dispensiert sind. Diese Dispens schließt aufgrund des oben erläuterten Zusammenhangs logischerweise und selbstverständlich mit ein, dass sexuelle Enthaltsamkeit für die bereits bestehende Ehe keinesfalls gefordert wird.
4. Sexuelle Enthaltsamkeit eines regulär verheirateten Klerikers würde die bestehende Ehe nicht verungültigen, da Ehehindernisse, wie bereits aufgezeigt, ein gültiges Zustandekommen der Ehe von vornherein verhindern, jedoch nicht nachträglich zustande kommen können. Aber sie wäre nicht Sinn der Sache und gewiss nicht im Sinne der zugrunde liegenden Zölibatsdispens.