Woran liegt es, dass Eiskunstlauf in der Sportlandschaft offenbar an Stellenwert/Bedeutung verloren hat?

3 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

In Deutschland (und Europa) dominiert Fußball, daher war Eiskunstlauf hierzulande noch nie wirklich sehr bekannt.

In Russland, Japan und Amerika ist das ein bisschen anders, auch wenn Eiskunstlauf in letzter genannter Region von Baseball, Eishockey und einem Haufen anderer Sportarten trotzdem verdrängt wird.

Außerdem gewinnen in einem Land unbekannter Sportarten nur dann an Bedeutung, wenn es sehr erfolgreiche oder mit ihrem Können sehr herrausstechende Athleten gibt.

Kanada und die USA haben ziemlich gute landesweite Verbände (SkateCanada / USFSA & ISI) mit einheitlichen (Beginner-)Kursen (CanSkate/ Learn to Skate) und darauf aufbauende Level. Da lernt jeder genau vorgegebene Moves und kommt nach einem Test in den entsprechende höheren Kurs - sofern er den will.

Nach dem Learn to Skate ist es ziemlich einfach, sich für Eishockey / Eiskunstlauf / Freizeit zu entscheiden und auch ab da sind die Level (Pre-Preliminary, Preliminary, Pre-Juvenile, Juvenile, Intermediate, Novice, Junior, Senior) genau vorgegeben, perfekt einsehbar und mit den Kursen gedeckt. Und es gibt ausgebildete Privattrainer für die verschiedenen Level / Disziplinen / Elemente.

Abgesehen davon, dass es in der USA, Kanada (und Japan) je nach Standort sehr viele ganzjährig geöffnete Eishalle gibt. Ich kenne eigentlich kaum eine Halle, die "Sommerpause" hat.

Das deutsche Kürklassensystem ist ähnlich, aber mehr darüber herauszufinden ist dann schon schwieriger. Außerdem ist der Unterricht in Deutschland nicht einheitlich, die normalen Trainer sind weit nicht so gut ausgebildet und als nicht 6 jähriges Kind ist es fast unmöglich, überhaupt kontinuierlich Unterricht zu bekommen. Von der Eissituation ganz zu schweigen, es gibt glaube ich nur 3 ganzjährig geöffnete Hallen, der Rest macht mindestens 1 Monat Pause, die meisten mehrere Monate im Sommer.

(Das alles ist in Amerika kein Problem, die Erwachsenenszene boomt, es gibt Adult Learn to Skate und auch nationale Wettbewerbe für Erwachsene = ein viel breiteres Publikum hat überhaupt Interesse).

Russland finanziert sein Eiskunstlaufprogramm soweit ich weiß aus staatlicher Hand, da gibt es NOCH mehr junge Eiskunstläufer, da Trainingskosten sehr gering sind - oder zumindest weitaus geringer als in Amerika.

Über Japan bin ich mir nicht so ganz im klaren, außer das Eiskunstlauf hier eigentlich schon ziemlich lange existiert (seit ca. 1920). Seit Midori Itos Silber 1992 wird richtig viel in Eiskunstlauf investiert und es finden jährlich Sommercamps für ausgewählte Eiskunstläufer ab Novice statt, bei welchen Talente entdeckt und dann stark gefördert werden. Und auch sonst ist Eislaufen und Eiskunstlauf in Japan ein sehr beliebter Sport auf Regional/Freizeitebene.

Daher ist die Wahrscheinlichkeit für Deutschland, den nächsten großen Star zu produzieren, schonmal sehr gering.

Es hat einen Grund, warum Eiskunstläufer aus Amerika, Russland, Japan (mittlerweile auch Korea) die Wettbewerbe dominieren.

Trotzdem sinkt in der USA so ein bisschen die Aufmerksamkeit auf den Sport (trotz Nathan Chens Gold dieses Jahr) und der NBC hat Live-Eiskunstlauf sogar aus seinem Programm genommen. Ist mittlerweile einfach nur noch kostenpflichtig zu sehen.

Japan macht nach wie vor sehr viel für den Sport. Regelmäßig Dokumentationen über Athleten, Erklärungen über das Wertesystem im Fernsehen, Live-Übertragungen von fast allen internationalen (und nationalen) Wettbewerben...

Hilft natürlich auch, wenn man die Weltmeisterschaften 2022 bedenkt.

Ist auch glaube ich das einzige Land, bei welchem alle Infos über einen Sprung (Höhe/Weite/Geschwindigkeit/Bewertung in BV und GOE) sofort während der Kür aufgezeigt werden (genauso wie Level und BV + GOE für Pirouette und Stepsequence). Aber auch in Japan gibt es mittlerweile weniger Sendequoten und es werden kleiner Arenen für die Wettbewerbe ausgewählt und trotzdem bleiben manche Sitze leer.

Für das alles gibt es zusammengefasst mehrere Auslößer:

Deutschlandfokussiert:

  • Deutschland macht einfach viel zu wenig für den Sport.
  • Sehr schlechte Trainingssituation (überhaupt trainieren die meisten internationale Eiskunstläufer entweder in der USA, Kanada, Russland, Japan, Schweiz, und bisschen Italien/Frankreich
  • Schlechteres Trainingsprogramm = kaum international bekannte Athleten
  • Sehr schlechte mediale Präsenz
  • Die breite Masse weiß vermutlich nicht mal wirklich, was Eiskunstlauf eigentlich ist.

International:

  • In den letzten 20 Jahren 3 mal eine Änderung des Judgings. Auch wenn die Änderung zum GOE-System nach 2002 nötig war, verkompliziert sie es für Zuschauer erheblich, überhaupt irgendwas über die Bewertung zu erfahren und ist super kompliziert, wenn man keine Ahnung von all dem hat. Zuschauer, die zb. nur die Olympischen Spiele oder Weltmeisterschaften sehen und sich sonst nie mit Eiskunstlauf beschäftigen, können sich mit dem neuen System garnicht identifizierten und finden keinen Zugang dazu. Könnte man natürlich lösen, indem man das Bewertungssystem vor großen Wettbewerben großzügig erklärt und auch die Bewertung der Elemente auf dem Bildschirm mit einblendet... Aber auf sowas kommt ja anscheinend keiner. Auch die Änderung von GOE -3 / +3 auf -5 / +5 war ziemlich unnötig und hat vielen Athleten eher geschadet und außerdem den subjektiven Einfluss der Richter wieder vergrößert.
  • Jährlich neue Regeländerungen und Anpassungen, zb. der niedrigere BV von vierfach Lutz, Flip und Rittberger nach 2019, jetzt dann die Änderung der PCs von 5 auf 3 Kategorien. Manche der Änderungen sind einfach nur unverständlich und irgendwann wird es frustrierend, sich damit (und mit manchen gekauften Richtern) zu beschäftigen.
  • Sehr starker Fokus des IJS auf Sprünge, dadurch geht langsam der künstlerische Aspekt verloren.
  • Die wirtschaftliche Situation: Eiskunstlauf zu betreiben und Eiskunstlauf live zu sehen ist kostenspielig. Ticketpreise für ganz große Events sind teuer, zumal ja auch noch Unterkunft und Reise miteingeplant werden muss. Bei der Situation nach Corona und jetzt der Ukrainekrise ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass auch bei großen Events mehr Sitze leer bleiben. Zumal die russischen Fans komplett fehlen.
  • Yuzuru Hanyus Karriereende 2022 im internationalen Feld: Hanyu war/ist der unangefochtene Star im Eiskunstlauf mit Millionen Fans auf der ganzen Welt. Jeder Wettbewerb mit seiner Präsenz ist komplett ausverkauft gewesen und ein Ticket zu bekommen glich eher einer Schlacht mit anderen Fans. Seine japanischen Fans sind mit ihm mitgereist und haben alleine ganze Arenen ausgefüllt. Er hat vermutlich nicht nur in Japan sehr viele Menschen mit Eiskunstlauf bekannt gemacht - das Problem ist nur, dass ein Großteil seiner Fans keine "Eiskunstlauf-Fans" sind, sondern eher Fanyus (Fans seines Eiskunstlaufes), d.h. sich für Events in welchen er nicht läuft nicht wirklich interessieren. Zumindest nicht genug, um ein Ticket zu kaufen oder ein komplettes Event im Stream mitzuverfolgen. Mit seinem Rückzug aus dem Seniorbereich hat sich also auch ein großer Teil der Zuschauer des männlichen Einzellaufes verabschiedet. (Wobei gesagt werden muss, dass die Zuschauerquoten und Ticketverkaufszahlen für die des weiblichen Einzellaufes relativ gleich geblieben sind, zumindest in Japan. Und die Zahlen zeigen auch, das Events in welchen Hanyu zb. aufgrund von Verletzungen zurückgetreten ist (zb. WM 2018) und aktuelle Events nicht sooo unterschiedlich sind). Außerdem ist das mit den Fans so ein bisschen normal, bei Kim Yunas Karriereende sind ihre Fans mit ihr verschwunden, bei Plushenko auch etc. Nur bei Hanyu fällt es vermutlich am meisten auf.

Zusammenfassend kann mal also sagen, dass Eiskunstlauf zwar (international) an Bedeutung verloren hat (in Deutschland hatte es gefühlt nicht wirklich eine, zumindest nicht in der Zeit, seit ich geboren worden bin) aber der größte Teil wohl der aktuellen Weltsituation zuzuschreiben ist.

Wenn sich die wirtschaftliche Lage bessert, und es wieder neue Ikonen des Sportes gibt (gibt ja einige vielversprechende Junioren), dann steigt auch wieder die Bedeutung. Wenn auch wahrscheinlich nie so viel wie bei Fußball. Dafür ist Eiskunstlauf dann doch zu komplex.

Woher ich das weiß:Recherche

Koehlerlisl 
Fragesteller
 09.01.2023, 11:49

oh, herzlichen Dank für die umfassenden Aussagen. Das ist ja fast eine Doktorarbeit. Bravo!

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SunnyCat77  09.01.2023, 12:02
@Koehlerlisl

Ich hoffe es ist das, was du wissen wolltest. Ich war mir unsicher, ob sich deine Frage eher auf Deutschland oder mehr die globale Situation bezieht ^^

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DreifachSalchow  13.01.2023, 00:34

Es ist einfach traurig, wie die Trainingssituation in Deutschland aussieht. Allein schon, dass die meisten Eishallen im Sommer mehrere Monate zu haben - in meiner Region alle ein halbes Jahr lang. Für Sommertraining in einer der sehr wenigen Hallen, die offen haben, zahlt man dann einen Haufen Geld. Alleine schon die Unterbringungs- und Fahrtkosten, Trainerstunden + Patches. Und einfach so wenige Möglichkeiten, den Sport im Verein auszuüben! Schon als Kind ist es schwierig, aber da wird man zumindest noch gefördert, wenn der Verein Potential in einem sieht. Aber wenn du aus dem Alter raus bist, tschüss. Das ist so traurig

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Es fehlen Galionsfiguren. Es geht vielen Sportarten so, sind alle abhängig vom Fernsehen. Gibt es eine herausstechende Person, dann ist Interesse da. Oder man versucht eine Sportart zu pushen wie es vor ein paar Jahren mit Biathlon geschehen ist. Man muss es schmackhaft machen


DreifachSalchow  13.01.2023, 00:35

Es fehlt eine Galionsfigur? Schonmal was von Yuzuru Hanyu gehört?

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Randsportarten sind immer nur dann medial interessant, wenn es erfolgreiche heimische Sportler gibt. Gibt es die nicht, interessiert es auch niemanden.