Was meint Kant mit "Leidenschaft" und "Affekt"? Und was genau ist der Unterschied von beiden?

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Nach der Auffassung von Immanuel Kant sind Affekte und Leidenschaften Stimmungen, Zustände und Bewegungen des Gemüts. Beide bedrohen die vernünftige Selbstbestimmung. Ihnen unterworfen zu sein, ist eine Krankheit des Gemüts, weil sie die Herrschaft der Vernunft ausschließen.

Der Unterschied zwischen Affekten und Leidenschhaften bei Kant beruht auf seiner Unterscheidung zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen.

Affekte sind plötzlich entstehende und verhältnismäßig bald vorübergehende Gefühlsregungen.

Leidenschaften sind Neigungen, zur Gewohnheit gewordene Begierden.

Zorn ist ein Affekt, Rachsucht eine Leidenschaft.

  • Affekte sind bloß auf Gefühle (der Lust und Unlust) bezogen. Leidenschaften dagegen gehören zum Begehrungsvermögen und sind Neigungen (Verhaltensgewohnheiten, die sinnlichen Begierden dienen).
  • Affekte sind augenblickliche, zeitlich mehr begrenzte und kurzfristige Gefühsregungen, die Entstehung ist plötzlich, eine Überraschung durch Empfindung, rauschhaft, eine Überrumpelung, und Affekte sind vorübergehend. Leidenschaften dagegen sind anhaltend/bleibend, ziemlich dauerhaft.
  • Affekte sind unwillkürlich und entstehen ohne Vorsatz. Leidenschaften dagegen sind willentlich gewünscht, haben Vorsätze/Absichten, verfolgen subjektive Grundsätze, von denen eine Beeinflussung des Willens ausgeht.
  • Affekte sind unüberlegt, Gefühle einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustand, der Überlegung nicht aufkommen läßt, also von Vernunft abgetrennt, unkontrolliert, gleichsam blind (auch keine Steuerung, die für die Ausführung von Zwecken geeigneten Mittel zu finden), die Menschen sind außer sich (haben die Fassung verloren). Leidenschaften dagegen sind (in einer eingeschränkten Weise) mit Überlegung und Vernunft verbunden, weil sie subjektive Grundsätze haben und dafür eine zweckmäßige Umsetzung anstreben, auch wenn sie andere Gesichtspunkte bei der Beurteilung ausblenden.
  • Affekte treten immer offen auf, Leidenschaften dagegen können versteckt bzw. getarnt sein.
  • Affekte sind Untugenden (Mangel an Tugend) und können zu Übeln führen, sind aber nicht böse an sich. Leidenschaften dagegen sind wahre Laster und moralisch schlecht/verwerflich (böse), nicht nur in einem Verhältnis der Mittel zu Zwecken schlecht (als schädlich und daher unklug).
  • Affekte beeinträchtigen/hemmen/behindern die Freiheit. Leidenschaften dagegen beseitigen die Freiheit ganz, geben sie auf.

 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790). Erster Teil. Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Erster Abschnitt. Analytik der ästhetischen Urteilskraft. Zweites Buch. Analytik des Erhabenen. § 29. Allgemeine Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile. AA V, 271 - 272:

„Die Idee des Guten mit Affekt heißt der Enthusiasm. Dieser Gemütszustand scheint erhaben zu sein, dermaßen, daß man gemeiniglich vorgibt: ohne ihn könne nichts Großes ausgerichtet werden. Nun ist aber jeder Affekt blind, entweder in der Wahl seines Zwecks, oder, wenn dieser auch durch Vernunft gegeben worden, in der Ausführung desselben; denn er ist diejenige Bewegung des Gemüts, welche es unvermögend macht, freie Überlegung der Grundsätze anzustellen, um sich darnach zu bestimmen. Also kann er auf keinerlei Weise ein Wohlgefallen der Vernunft verdienen.“

Anmerkung (AA V, 272): „Affekten sind von Leidenschaften spezifisch unterschieden. Jene beziehen sich bloß auf das Gefühl; diese gehören dem Begehrungsvermögen an, und sind Neigungen, welche alle Bestimmbarkeit der Willkür durch Grundsätze erschweren oder unmöglich machen. Jene sind stürmisch und unvorsätzlich, diese anhaltend und überlegt: so ist der Unwille, als Zorn, ein Affekt; aber als Haß (Rachgier) eine Leidenschaft. Die letztere kann niemals und in keinem Verhältnis erhaben genannt werden; weil im Affekt die Freiheit des Gemüts zwar gehemmt, in der Leidenschaft aber aufgehoben wird.“

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797). Zweiter Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. XV. Zur Tugend wird zuerst erfordert die Herrschaft über sich selbst. AA Vi, 407 – 408:

Affekten und Leidenschaften sind wesentlich von einander unterschieden; die erstern gehören zum Gefühl, so fern es, vor der Überlegung vorhergehend, diese selbst unmöglich oder schwerer macht. Daher heißt der Affekt jäh, oder jach (animus praeceps) und die Vernunft sagt durch den Tugendbegriff, man solle sich fassen; doch ist diese Schwäche im Gebrauch seines Verstandes, verbunden mit der Stärke der Gemütsbewegung, nur eine Untugend und gleichsam etwas Kindisches und Schwaches, was mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen kann, und das einzige Gute noch an sich hat, daß dieser Sturm bald aufhört. Ein Hang zum Affekt (z.B. Zorn) verschwistert sich daher nicht so sehr mit dem Laster, als die Leidenschaft. Leidenschaft dagegen ist die zur bleibenden Neigung gewordene sinnliche Begierde (z.B. der Haß im Gegensatz des Zorns). Die Ruhe, mit der ihr nachgehangen wird, läßt Überlegung zu und verstattet dem Gemüt, sich darüber Grundsätze zu machen und so, wenn die Neigung auf das Gesetzwidrige fällt, über sie zu brüten, sie tief zu wurzeln und das Böse dadurch (als vorsätzlich) in seine Maxime aufzunehmen; welches alsdann ein qualifiziertes Böse, d.i. ein wahres Laster ist.“

 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Anthropologische Didaktik. Drittes Buch. Vom Begehrungsvermögen. § 73. AA VII, 251:

„Die durch die Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung ist Leidenschaft. Dagegen ist das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subjekt die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt, der Affekt.

Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüts, weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt. Beide sind auch gleich heftig dem Grade nach; was aber ihre Qualität betrifft, so sind sie wesentlich von einander unterschieden, sowohl in der Vorbeugungs- als in der Heilmethode, die der Seelenarzt dabei anzuwenden hätte.“

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Anthropologische Didaktik. Drittes Buch. Vom Begehrungsvermögen. Von den Affecten in Gegeneinanderstellung derselben mit der Leidenschaft. § 74. AA VII, 252:

„Der Affekt ist Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüts (animus sui compos) aufgehoben wird. Er ist also übereilt, d. i. er wächst geschwinde zu einem Grade des Gefühls, der die Überlegung unmöglich macht (ist unbesonnen).“

„Der Affekt wirkt wie ein Wasser, was den Damm durchbricht; die Leidenschaft wie ein Strom der sich in seinem Bette immer tiefer eingräbt. Der Affekt wirkt auf die Gesundheit wie ein Schlagfluß, die Leidenschaft wie eine Schwindsucht oder Abzehrung. - Er ist wie ein Rausch, den man ausschläft, obgleich Kopfweh darauf folgt, die Leidenschaft aber wie eine Krankheit aus verschlucktem Gift oder Verkrüppelung anzusehen, die einen innern oder äußern Seelenarzt bedarf, der doch mehrentheils keine radikale, sondern fast immer nur palliativ-heilende Mittel zu verschreiben weiß.“

„Affekten sind ehrlich und offen, Leidenschaften dagegen hinterlistig und versteckt.“

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Anthropologische Didaktik. Drittes Buch. Vom Begehrungsvermögen. Von den Affecten in Gegeneinanderstellung derselben mit der Leidenschaft. § 74. AA VII, 253:

„Affekt ist wie ein Rausch, der sich ausschläft, Leidenschaft als ein Wahnsinn anzusehen, der über einer Vorstellung brütet, die sich immer tiefer einnistelt.“

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Anthropologische Didaktik. Drittes Buch. Vom Begehrungsvermögen. Von den Leidenschaften. § 79. AA VII, 265:

„Die Neigung, durch welche die Vernunft verhindert wird, sie in Ansehung einer gewissen Wahl mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen, ist die Leidenschaft (passio animi).“

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Anthropologische Didaktik. Drittes Buch. Vom Begehrungsvermögen. Von den Leidenschaften. § 79. AA VII, 265 - 266:

„Man sieht leicht ein, daß Leidenschaften, weil sie sich mit der ruhigsten Überlegung zusammenpaaren lassen, mithin nicht unbesonnen sein dürfen wie der Affekt, daher auch nicht stürmisch und vorübergehend, sondern sich einwurzelnd, selbst mit dem Vernünfteln zusammen bestehen können, - der Freiheit den größten Abbruch tun, und wenn der Affekt in Rausch ist, die Leidenschaft eine Krankheit sei, welche alle Arzeneimittel verabscheut und daher weit schlimmer ist, als alle jene vorübergehende Gemütsbewegungen, die doch wenigstens den Vorsatz rege machen, sich zu bessern; statt dessen die letztere eine Bezauberung ist, die auch die Besserung ausschlägt.“

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Anthropologische Didaktik. Drittes Buch. Vom Begehrungsvermögen. Von den Leidenschaften. § 79. AA VII, 266:

„Leidenschaft setzt immer eine Maxime des Subjekts voraus, nach einem von der Neigung ihm vorgeschriebenen Zwecke zu handeln. Sie ist also jederzeit mit der Vernunft desselben verbunden, und bloßen Tieren kann man keine Leidenschaften beilegen, so wenig wie reinen Vernunftwesen. Ehrsucht, Rachsucht u. s. w., weil sie nie vollkommen befriedigt sind, werden eben darum unter die Leidenschaften gezählt als Krankheiten, wider die es nur Palliativmittel gibt.“

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Erster Teil. Anthropologische Didaktik. Drittes Buch. Vom Begehrungsvermögen. Von den Leidenschaften. § 81. AA VII, 267:

„Daher sind Leidenschaften nicht bloß, wie die Affekten unglückliche Gemütsstimmungen, die mit viel Übeln schwanger gehen, sondern auch ohne Ausnahme böse, und die gutartigste Begierde, wenn sie auch auf das geht, was (der Materie nach) zur Tugend, z. B. der Wohlthätigkeit gehörte, ist doch (der Form nach), so bald sie in Leidenschaft ausschlägt, nicht bloß pragmatisch verderblich, sondern auch moralisch verwerflich.

Der Affekt tut einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über sich selbst. Die Leidenschaft gibt sie auf und findet ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn.“

Leidenschaften sind innere Einstellungen, wie Eifersucht, Sexsucht oder Aggression. Es können auch nicht-schädliche Leidenschaften sein, wie ,,Fan" für einen bestimmten Sänger.

Affekte sind vorübergehende Gefühsregungen, wie Wut oder Brunft.

Die Beschreibung von Vanek940 ist damit durchaus kompatibel.

Eigene Interpretation: Leidenschaft aus eigenen Antrieb, Affekt aus fremden Einfluss.

Ich würde es ja an deiner Stelle nochmal googlen aber ich denke ein Affekt ist ein unkontrollierter Zustand während eine Leidenschaft selbstbestimmt ist

Halbrecht  09.11.2019, 05:35

bei Kant war die Frage.

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