Was ist der Unterschied zwischen Analyse und Deutung?

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Wenn ich etwas analysiere, zerlege ich es gewissermaßen in seine Bestandteile und schaue was "drin ist". Bei einem Text also; welche Stilmittel wurden verwendet, welche Metaphern, welche Reime usw.

Bei der Deutung "stülpe" ich dem Text die Bedeutung über, die ich in ihm zu erkennen meine. Ich beschreibe also, wie der Autor das meiner Ansicht nach gemeint hat, was er erreichen wollte, was seine Motive für diesen Text waren usw.

Dabei muss man sich vor Überinterpretation hüten, denn im Nachhinein steht uns ja viel Wissen zur Verfügung, das der Autor nicht haben konnte, als er den Text verfasste. Wir wissen, wie die Leser darauf reagiert haben, wir kennen positive und negative Kritiken des Textes – all dieses Wissen will sich natürlich in unsere Interpretation "hineinschlängeln", was sie jedoch verfälschen würde.

Es gibt witzigerweise einen Fall, wo das ganz anders gelaufen ist. Eine gewisse Ursula Ziebarth lud den über 30 Jahre älteren Gottfried Benns zu einer Lesung ein, sie schrieben sich Briefe, die immer intimer wurden, trafen sich und wurden schließlich ein Liebespaar. Und zwar bis zu seinem Tod. Er konnte ihr natürlich ganz konkret sagen, was er mit diesem oder jenem Gedicht gemeint hatte. Deshalb wichen ihre Interpretationen oft von denen der Literaturkritiker ab. Offensichtlich hatten die Kritiker in seinen Gedichten Bedeutungen entdeckt, die er nie so gemeint hatte.

Grundsätzlich gibt es jedoch zwei Auffassungen. Eine fragt nach Werktreue, danach, was der Autor, Komponist usw. wirklich wollte. Der anderen nach ist es viel wichtiger, was wir mit dem Kunstwerk für uns daraus machen, auf welche Weise es uns reicher macht.

Bei der ersten muss man (z.B. in der Musik) Bach auf Original Bachtrompeten und auf dem Cembalo darbieten. bei der zweiten ist es auch erlaubt, aus einer Bachfuge einen Hip Hop-Song oder ein Jazzstück zu machen, wenn es uns gefällt. Also "Kunst als Denkmal" contra "mit der Kunst leben".

Pantalaimon77  05.12.2012, 11:38

Ein künstlerisches Werk lässt in der Regel weitaus mehr Deutungsmöglichkeiten zu, als vom Künstler beabsichtigt wurde. Daher ist jede - noch so schräge - Interpretation zulässig, solange sie hinreichend und nachvollziehbar mit Textstellen belegt wird. Gerade das hält das Kunstwerk lebendig, dass man sich immer wieder aktiv mit dessen Bedeutung auseinandersetzen kann und sich dadurch geistig weiterbildet, auch noch Jahrhunderte später.

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mychrissie  05.12.2012, 16:24
@Pantalaimon77

Das ist eine interessante These. Sie setzt aber beim "Deuter" eine gewisse Kompetenz voraus. Ist diese vorhanden, dann stellt die Deutung eines Kunstwerkes ein eigenes Kunstwerk dar.

Dann gebiert Kunst Kunst. Was ja nur als positiv zu bezeichnen ist.

Allerdings sollte der Interpret bei allzu "schrägen" Deutungen nicht die Behauptung aufstellen, dass der Künstler genau dies vermutlich aussagen wollte.

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Bevor man mit dem Analysieren beginnt, also kurz nachdem man den Text gelesen hat, sollte man schon eine Ahnung davon haben, was mit ihm vermittelt werden will bzw. kann. Das ist die erste Voraussetzung für die Analyse, die allein darin besteht, Textstellen zu finden, die die eigene Hypothese untermauern oder ihr widersprechen könnten. Auf dem so gesammelten Material kann man dann seine Interpretation aufbauen. Die Analyseelemente werden nach Möglichkeit zitiert, um die eigene Argumentation stichhaltig zu belegen. Falls es widersprechende Textstellen gibt, sollte man seine Grundannahme nochmals überdenken und entsprechend anpassen. Es würde dabei nicht schaden, die gegensätzlichen Textauszüge in einer tabellarischen Liste gegenüberzustellen. Aus dieser Übersicht können sich neue Erkenntnisse über den Sinn des Textes ergeben. - Letztendlich ist die Interpretation ein fließender Prozess, d.h. sie hat zwar eine hypothetische Grundlage, trotzdem kann am Ende etwas anderes herauskommen als man ursprünglich nachweisen wollte. Insofern ist sie für den Interpreter auch ein meinungsbildender Lernprozess und nicht bloß ein dogmatisches Abhaken eines unbeweglichen Standpunkts.

Deutung ist der subjektive Versuch, die Aussage, die Zielrichtung, die Absicht eines Textes bzw. dessen Autors zu verstehen und wiederzugeben. Analyse ist die objektive Untersuchung eines Textes im Hinblick auf seine Bestandteile.

Analysieren ist die Textstelle auseinanderzunehmen, deuten ist so ziemlich das Selbe, geht aber mehr in Richtung Interpretieren. In dem Fall kann man das wirklich nicht so gut trennen