Sind die Deklinationen Strukturen in Latein wie im Deutschen?

5 Antworten

Deutsche Hauptwörter sind in Deklinationen geteilt, in Latein haben auch Eigenschaftsworte ihre Deklination.

In Deutsch, auch solche Wörter wie Artikel und Pronomina bestimmen wie ein Eigenschaftswort dekliniert wird. Latein hat keine Artikel, und auch Pronomina beeinflussen die Deklination nicht.

Die Struktur ist die gleiche, sogar die Bedeutungen der ersten vier Fälle dieselben..
Dass es einen mehr gibt, hat ja mit der Strultur nur mittelbar etwas zu tun.
Offizieller 5. Fall ist der Ablativ, erfragt von "womit?, wodurch?"
Er steht wie der Akkusativ auch bei vielen Präpositionen, bei denen dann völlig andere Erfragungen auftauchen -- je nach der Präposition.

Gelegentlich wird der Vokativ (Anredefall) als sechster bezeichnet. Er ist aber als eigene Form sehr verkümmert. Es gibt ihn nur in der o-Deklination im Singular maskulinum:
Marcus - Marce
Aber da gibt es auch noch eine Spezialversion, die Endung -ius:
meus filius - mi fili (mein Sohn!)

In allen anderen Deklinationen nimmt man den Nominativ als Vokativ.

Dann spielt noch der Lokativ eine Rolle.
Er wird häufig dem Ablativ zugerechnet, hat aber teilweise ganz andere Formen und kommt seltener vor:
domi - zu Hause
domum - nach Hause
domo - von zu Hause

oder bei Städten:
Romae - in Rom (früher einmal Romai)
Romam - nach Rom
Romā - von Rom

Auch da weicht aber die Struktur nicht ab. Denn z.B. "zu Hause" geht im Indogermanischen auch auf einen Lokativ zurück, der in der deutschen Sprache aber so gut wie gar nicht mehr zu bemerken ist.

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Im Prinzip ist das Deklinatiosschema des Germanisch nicht sehr anders als das des Latenischen. Ich zeig Dir einmal die germanische Deklination von Wolf im Singular und Plural. Wir beginnen bei urgermanisch (knapp vor Christus, nur rekonstruiert) und gehen dann zum Althochdeutschen (bis ca. 1000), Mittelhochdeutschen (bis ca. 1400) und frühen Neuhochdeutschen (bis ca. 1550). Das Wort ist homolog zu den lateinischen o-Stämmen, Typ servus.

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Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto mehr differenziert und aussagekräftiger werden die Formen. Bereits auf der Stufe des Althochdeutschen ist merklich Kasus­synkre­tismus eingetreten, also manche Formen unterscheiden sich nicht mehr. Heute sind nur vier der ursprünglich neun Formen voneinander verschieden.

Das liegt an der germanischen Initialbetonung: Die Betonung ist an der ersten Silbe fest­getackert, anders als im Lateinischen, wo sie immer von hinten gezählt wird. Des­halb vernuschelt man die Endungen automatisch, und im Lauf der Zeit werden sie kürzer und fallen schließlich ganz ab.

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lumbricussi  13.01.2019, 21:53

Das ist ja echt interessant! Danke. Ich versuche mir vorzustellen, wie das Germanische sich wohl angehört hat, bei Betonung auf der ersten Silbe. Nicht besonders melodisch, vermute ich, aber ich kann mich täuschen. Im Ungarischen ist die Betonung ja auch auf der ersten Silbe. Die Sprache klingt trotzdem melodisch, weil die Unterschiede im Tonfall, im Ausdruck die Sprache weicher machen. Nur Nachrichten im Fernsehn oder Radio, die klingen abgehackt. Ich hatte mal einen kleinen Gedichtband, in dem jedes Gedicht in drei Sprachen stand, ungarisch, englisch, französisch. Ich hab so ein Gedicht laut gelesen, das war ganz lustig. Französisch ist einfach unschlagbar, aber ungarisch - entsetzlich. Ich muss zur Ehrenrettung der ungarischen Sprache sagen: Ungarische Gedichte, von ungarischen Dichtern, die klingen viel besser.

Wie geht eigentlich die griechische Deklination?

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indiachinacook  13.01.2019, 22:28
@lumbricussi

Die griechische Deklination geht sehr ähnlich wie die lateinische, es gibt Vokalstämme (a und o, wobei langes ā in den meisten Dialekten zu ē wird und die o-Stämme auch eine Sonderform auf ō, also lang-O, haben) und konsonantische Stämme. Das wird Dir alles recht bekannt vorkommen, teilweise sind sogar die Endungen sehr ähnlich.

Allerdings gibt es nur fünf Fälle (der Ablativ fehlt, der ist Lokativ genauso beschränkt wie im Lateinischen), dafür ist aber der Vok. Sg. häufiger mal vom Nominativ verschieden.

Auf der Minusseite gibt es außer Sg. und Pl. auch noch einen Dual (nur zwei Formen), und die Betonung ist bei den Nomina trickreich (wird aber mit Akzent im Text immer geschrieben).

Beispiel (ich schreibe in Umschrift, um Dich nicht mit griechischen Buchstaben zu quälen, und laß die Vokative weg, weil die bei diesen Wörtern gleich dem Nom Sg sind).

aíx, aigós, aigí, aĩga; aĩges, aigõn, així, aĩgas (Ziege) wie rex, regis, regi, regem; reges, regum, regibus, reges. Der einzige wirkliche Unterschied ist Dat. Pl. Die Dualformen lauten aĩge (Nom, Akk) und aigoĩn (Gen., Dat).

chṓra, chṓras, chṓrą, chṓran; chõrai, chōrõn, chṓrais, chṓras (Erde) wie terra, terrae, terrae, terram; terrae, terrarum, terris, terras. Hier ist der Gen. Sg. die einzige wirklich abweichende Form. Dual: chṓra und chṓrain.

Einen Vokativ kannst Du beim Philosophen bestaunen: Sōkrátēs, Sokrátous, Sōkrátei, Sōkrátē(n) und Sṓkrates! Die Deklination ist dieselbe wie bei lat. corpus, aber weil es kein Neutrum ist, hat es einen eigenen Akkusativ. Im Griechischen schwindet s zwischen Vokalen, im Lateinischen wandelt es sich zu r. Wenn man das berücksichtigt, sind die beiden Paradigmata einander sehr ähnlich.

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lumbricussi  13.01.2019, 23:29
@indiachinacook

Spricht man ou im Griechischen wie u aus? Eine Bekannte hat mal gesagt, dass sie den Ausdruck "in Jesus Namen" gelesen hat, und dass das doch falsch sein müsse, weil ihrer Meinung nach heißt es "in Jesu Namen". Weil ja die Bibel aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt worden ist, und weil der Genitiv im Lateinischen nicht "u" wäre, müsse es ein griechischer Genitiv sein.

Die vielen Akzente auf den Buchstaben wirken für mich abschreckend. Sind die schwierig zu lernen? Hab mir vor einiger Zeit ein Lehrbuch gekauft, aber bin schon ganz am Anfang stecken geblieben, weil ich von den Akzenten absolut nix kapiert hab.

Du hast gesagt: Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto mehr differenziert und aussagekräftiger werden die Formen. 

Das ist ja irre. Dann sind die Sprachen im Lauf der Zeit immer mehr verarmt, oder? Eigentlich müssten ja die alten Sprachen einfacher sein, hätte ich mir gedacht. Wieso ist das nicht so?

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indiachinacook  14.01.2019, 11:29
@lumbricussi

Im Griechischen gibt es enen Buchstaben υ mit der Transkription y, der (von den Gräzisten) als ü gesprochen wird, außer in den Diphthongen eu und au und ou, da schreibt man ihn in nämlich u und spricht ihn als oi, au und langes u. Das ist aber nur Gräzistenkonvention, Griechisch hat 3000 Jahre dokumentierte Geschichte und die Aussprache hat sich x-mal verändert.

Bibel habe ich nie viel gelesen, aber die Deklination ist Iēsoũs, Iēsoũ, Iēsoĩ, Iēsoũn und Iēsoũ!, also kein s im Genetiv. Jedes Wort hat normalerweise genau einen Akzent, die Längenzeichen brauche ich nur in der Umschrift, weil e=epsilon=ε und ē=ēta=η, und entsprechend o=omikron=o und ō=ōmega=ω.

Im Germanischen ist es definitiv so, daß die Formen immer weniger werden (Englisch ist unser aller Schicksal), aber das liegt vermutlich an der Initial­beto­nung. Latein hatte z.B. x Deklinationsklassen, die heute im Italienischen alle auf drei simple Typen geschrumpft sind (es gibt keine Kasus mehr, nur Unterschied Sg/Pl). Also sieht es so aus, als ob auch das Italienische an Formenschwund leidet, obwohl es keine Initalbetonung hat.

Der Eindruck ist aber nicht wirklich richtig, denn beim Verb sieht es anders aus. Die Passiv­formen sind zwar alle gekillt, aber zusätzlich zu den aus dem Lateini­schen fortgeführten Zeiten (in lateinischer Terminologie: Präsens Ind/Konj, Imperfekt Ind/Konj, Futur Ind, Perfekt Ind) kommen noch ein neu erfundener Kondizional Präsens (da werden mehr oder minder Formen von habere als neue Endungen ans Verb drangeknallt) und ein Haufen zusam­men­gesetz­ter Zeiten: Mit dem deutschen Perfekt (sein/haben plus Partizip) als Modell werden alle Formen gedoppelt, weil das Hilfsverb in jeder der oben genannten Zeiten/Moden (außer Imperativ) stehen kann.

Ähnlich im Griechischen: Radikale Vereinfachung bei den Nomina, aber die Verben haben verloren und gewonnen. Die Absurde Vielfalt™ des Altgriechi­schen (ca. 300 finite Formen, nochmals 200 wenn man die deklinierten Partiziien mitzählt) ist kräftig geschrumpft, mit nicht viel mehr 50 Überlebenden, von denen die meisten mehrere Funktionen haben (Futur/Konjunktiv etc), die über zusätz­liche Partikel gesteuert werden. Dafür ist aber auch dort der Export­schlager des deutschen Perfekt dazugekommen, gebildet mit haben plus einem Infinitiv. Zählt man zusammengesetze Formen und die mit Partikeln mit, kommt man auf über hundert Formen, also ähnlich viele wie im Latein.

Das Germanische Formenschrumpfen mit zwölf Indikativformen und zwölf Konjunktiv­formen (die oft mit dem Indikativ zusammenfallen und ohnehin in der mündlichen Sprache nur bei einer Handvoll Verben wirklich vorkommen) ist also schon ein Extremfall. Andererseits hat Deutsch mit der Unterscheidung zwischen Vorgangspassiv und Zustandspassiv dann doch wieder etwas hervorgebracht, was die anderen Sprachen nicht können.

Im Deutschen wird halt mehr über Wortbildung ausgedrückt. Belassen, verlassen entlassen, weglassen, unterlassen, vorlassen, zerlassen, überlassen, … ist schon ein System, mit dem man sehr viel ausdrücken kann, auch wenn es nicht sonderlich systematisch ist.

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lumbricussi  20.01.2019, 12:38
@indiachinacook

Vielen vielen Dank für die ausführliche Erläuterung. Zuerst dachte ich, dass so eine Vielfalt von grammatischen Funktionen müsste doch ein sehr differenziertes Denken voraussetzen, ein größeres wie heute. Aber das kann nicht sein; denn z.B. Gedichte können soviel aussagen, wie es Menschen in früheren wilden Zeiten vielleicht nicht möglich war. Ich hab nur gemerkt, dass so eine große Schrumpfung in der Ausdrucksfähigkeit stattgefunden hat, seit den Zeiten von Goethe, Fontane, Keller usw. Naja, ich bin ein blutiger Laie auf dem Gebiet, lese nur gerne und viel, aber finde Sprachen überaus interessant. Hab Wittgensteins Satz gelesen: "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt." Seitdem geistert mir das im Kopf herum. Und ich denke, es gibt doch Ahnungen, Wahrnehmungen, Gefühle, die sich nicht in Worten ausdrücken lassen. Vielleicht sind die Grenzen nicht so absolut dicht. :-)

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Nicht ganz. Das Lateinische kennt mehr Fälle.

Nein. Im Deutschen gibt es vier Fälle, im Lateinischen sieben.

Piinguin123  13.01.2019, 10:31

Sieben? Du meinst eher 6, oder?
Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Ablativ und Vokativ

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Volens  13.01.2019, 10:56
@Piinguin123

Im Einzelfall kommt der Lokativ hinzu.
Aber ob man Vokativ und Lokativ als Fälle zählen will, steht dahin.

Nur der Ablativ zieht sich wie die ersten 4 Fälle durch alle Numeri und Genera.

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Tannibi  13.01.2019, 12:07
@Piinguin123

Nein, ich meine eher sieben.

Muss aber zugeben, dass ich zwar das größte Latinum habe, das man haben kann, den Locativ aber erst nach meiner Schulzeit kennengelernt habe.

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indiachinacook  13.01.2019, 22:40
@Volens

Tut er das? Mir fällt kein einziges lateinisches Wort ein, bei dem Dat Pl ≠ Abl Pl. Das ist genauso durchgehend wie beim Vokativ, auch wenn sich der Ablativ häufiger als dieser im Singular unterscheidet (nur nicht bei o- und i-Stämmen).

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