Kritik an Jürgen Habermas idealer Sprechsituation?
Ich soll für den Ethik Unterricht einen Vortrag über verschiedene Positionen zu dem Modell von Jürgen Habermas mit seiner „idealen Sprechsituation“ halten. Hab dazu verschiedene Texte von verschiedenen Personen bekommen, die alle Stellung zu Habermas Modell beziehen (die Texte haben also nichts miteinander zutun), und ich versteh die auch alle soweit, finde das tatsächlich garnicht so uninteressant.
Ein Text davon ist von Harald Weinrich (siehe Unten). Soweit verstehe ich den auch, aber 2 Textstellen eben nicht, egal wie oft ich sie mir durchlese (😂). Ich hab diese auf dem Bild in Grün markiert.
Welche „Verhältnisse“ sind gemeint? (Zeile 31) Verhältnisse zwischen was?
Die „Komplexität“ (Zeile 37) bezieht sich dann, denke ich mal, auf diese Verhältnisse, aber was da mit dem Sprichwort (Zeile 38/39) genau gemeint ist verstehe ich auch nicht so wirklich 😅 (das liegt aber vermutlich dann daran, dass mir das mit den Verhältnissen nicht klar ist, und das ist ja mit dem Sprichwort gemeint).
Gibt es hier also jemanden, der mir die 2 Textstellen etwas genauer erklären könnte?
Vielen Dank schonmal im Voraus!👍🏻
PS: eine Verständnistext zu dem Modell von Habermas hab ich übrigens nicht bekommen. Super, ich weiß 🤦🏻♂️
Also basiert mein Wissen über sein Modell nur auf dem, was dazu in den Stellungnahmen steht 😂
2 Antworten
Ich habe den Begriff: ,,Verhältnisse" im Wahrigs Wörterbuch nachgeschaut.
Es kann bedeuten: ,,Proportion" (Meßbarer Vergleich zwischen mehreren Skalargrößen)
Aber auch (nur im Plural): Umstände, allgemeine Lage
In Deinem Text ist die zweite Bedeutung gemeint. Der grün angemalte Satz will sagen, dass die Umstände dermaßen vielfältig sind, dass es schwierig oder unmöglich ist, zu einem Konsensus zu kommen, weil die Voraussetzungen und das Vorwissen bei den Gesprächspartnern so viele Unterschiede ausweist, dass es eine ,,Ewigkeit" braucht um diese auszudiskutieren. ,,Die Komplexität der Verhältnisse" weist also hin auf die Tatsache, dass es viele Umstände gibt, die zu berücksichtigen sind.
Das Sprichwort: ,,Die Kunst ist lang; das Leben ist kurz" bestätigt diese Aussage. ,,Kunst" nicht im Sinne von Malerei oder Musik; sondern im Sinne der Rhetorik, eine der ,,Artes liberales". Das Leben ist zu kurz um alle Meinungsverschiedenheiten unter Berücksichtigung sämtlicher Verhältnisse (=Umstände) ,,zu Boden" zu diskutieren und somit einen vollständigen Konsensus zu erreichen.
Woher ich das weiß: Beschäftigung mit Sprachphilosophie
Habermas spricht von einer idealen Sprechsituation, die in einem herrschaftsfreien Diskurs zu einem Konsens aller Beteiligten führen soll. Dieses Konzept stellt jedoch ein kontrafaktisches Ideal dar, das in gesellschaftlichen Diskursen schwer zu erreichen ist, da sie stets von bestimmten Machtinteressen und strategischem Handeln beeinflusst werden. Zudem macht die Komplexität der Wissenschaften und gesellschaftlichen Probleme einen herrschaftsfreien Diskurs schwierig, da Experten mit dem notwendigen Fachwissen benötigt werden. In Situationen drängender Probleme kann sich eine Gesellschaft keine langwierigen Diskurse leisten, die eine rasche Entscheidung erfordern, um das Schlimmste abzuwenden. Pragmatische Gesichtspunkte müssen also ebenfalls berücksichtigt werden. Es ist wohl kaum möglich, dem hohen Diskursideal von Habermas vollständig gerecht zu werden, jedoch kann es uns als Orientierung dienen, um einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu strittigen Fragen zu finden.