Kennt ihr Handlungen die früher normal waren, jetzt als barbarisch gelten?

9 Antworten

Ich beziehe meine Antwort jetzt vor allem auf die Schule, wo ich in der Realschule und damit nach der 2000 (!) einige sehr dunkle Auswüchse miterlebt habe bis hin zu teilweise halboffenem Alltags-Rassismus, der damals Standard war und wo heute jeder aufstehen würde.

  • Zunächst denke ich (Jahrgang 1990) vor allem an Schwarze Pädagogik im Allgemeinen - gern auch unter Einbeziehung menschlicher ("wenn du nicht parierst, wird deine Mama dich nicht mehr lieb haben") oder auch religiöser ("wenn du nicht brav bist, schickt dich Gott in die Hölle") Druckmittel. So was habe ich in der fünften und sechsten Klasse der Realschule (Schuljahre 2001/02 und 2002/03) noch miterlebt - wir hatten damals noch sehr alte Lehrer kurz vor der Pensionierung, wo es auch zu körperlichen Übergriffen kam. Leider hat der Rektor nichts unternommen und der Konrektor war auch einer dieser "Schläger-Lehrer", dessen Spitzname sogar was mit "Watsche" zu tun hatte.
  • Stichwort religiöse Demütigungen -----> es gedenkt mir noch gut, als der Religionslehrer uns in der zweiten Klasse erzählte, die Welt ginge am 31. Dezember 1999 unter; die Bösen und nicht Folgsamen kämen in die Hölle und die Guten ins Paradies. Einer meiner Freunde fragte damals verunsichert, ob es dann eine neue Welt gäbe, aber der Lehrer verneinte deutlich. Mein Banknachbar fing an zu weinen und verkroch sich unter der Bank, weil er Angst hatte, er käme gleich in die Hölle - er war ein "Quatschmacher" der Klasse. Ich habe das Ganze nach der Schule gleich meinem Opa gesagt und der Opa meinte ... das ist Quatsch und wenn es doch mal soweit sein sollte, ist das so lange hin, dann gibt's uns alle sowieso nicht mehr und ruhen wir in Gottes Hand. Das gedenkt mir gut, es war im Juni oder Juli 1999. Wir hatten alle Riesen-Angst. Würde ein Lehrer heute so was Barbarisches erzählen, wäre bald Zappenduster.
  • Besonders schlimm war eine Schönstatt-Schwester, die in der Realschule katholische Religion unterrichtete. Sie lebt noch, ist heute in einer Art Schönstattzentrum mit Ordenstracht und Ordensnamen ansässig, ach so fromm und lieb; so fromm, dass sie beim Vaterunser und "Gegrüßet seist du Maria" weinte, hat Köpfe der Kinder aus nichtigen Gründen mit voller Wucht auf die Bank gedrückt, den Mädchen die Zöpfe lang gezogen und einem Kind aus der Parallelklasse Ende 2001 bei einer solchen archaischen Tischdrückaktion das Nasenbein gebrochen. Der Vater von dem Kind kam damals während dem Religionsunterricht ins Klassenzimmer (ich kannte den, später im Berufsleben war er ein Kunde von mir und erklärte mir das, als wir mal auf die Frau kamen) und sagte zu ihr vor der ganzen Klasse, wenn er ihr jetzt so richtig eine in die Fr... haut, kostet ihn das vielleicht 1000 Mark Strafe und es wäre ihm das Geld wert, aber das Niveau sei ihm zu niedrig. Gab einen Riesen-Eklat damals, ich kann mich noch gut erinnern. Der Rektor wusste alles, aber er sagte wie bei anderen alten Lehrern, die wird jetzt bald pensioniert, das kriegt man auch noch rum. Wir saßen die Frau schlussendlich einfach aus, nahmen sie irgendwann nicht mehr ernst und waren im Juli 2002 alle froh, als sie verabschiedet wurde. Davor hatte ein Mitschüler die Lehrerin "weggeekelt", indem er ihr Gesicht aus einem Lehrerfoto groß raus kopiert, an die Wand geklebt und vor lauter Wut auf diese Frau mit Dartpfeilen geworfen hatte, während sie just zum Halten der Religionsstunde ins Zimmer gelaufen kam. Sie war "vor Schreck" dann erstmal einige Wochen "krank".
  • Es gab an dieser Schule auch eine Lehrerin, die offen rumstänkerte auf Schüler aus der "Dädärä" (DDR) und "Sch...-Russengesichter" und diese auch so anredete - wenn so was heute passieren und publik werden würde, um Gottes Willen, das wäre ja beinahe schon Rassismus, wenn's nicht sogar Rassismus wäre. Ich weiß in dem Zusammenhang von einem Neuntklässler russlanddeutschen Hintergrunds, der Ende 2003 einen dieser älteren Lehrer, der ihn wiederholt provoziert und beleidigt haben muss (was ich dem Lehrer zutraute; der war hämisch) aus lauter Frust mal eben die Treppe vor dem Klassenzimmer runterschubbste, so dass der Mann sich die Achilles-Sehne gerissen hat. Wir waren schon schadenfroh, als dieser zu vielen Kindern gemeine und stichelnde Lehrer, der nach außen hin so schön tat mit Städtepartnerschafts-Komitee und AWO und Gemeinderat usw. dann mehrere Wochen nicht zur Schule kommen konnte und es hieß, er müsse operiert werden wegen der Sache. Danach war der Lehrer auf einmal richtig nett, aber ich traute ihm bis zu meinem Abschluss 2007 nicht über den Weg.
  • Es war zumindest in der Vorstadt auch lang geläufig, Familienzwistigkeiten bzw. Streitigkeiten zwischen Erwachsenen auf dem Rücken der Kinder auszutragen, weil sie sich nicht wehren konnten. Der schon erwähnte Konrektor hat es zum Beispiel auch noch Anfang der 2000er-Jahre doch tatsächlich fertig gebracht, uralte Streitereien zwischen rivalisierenden sudetendeutschen Clans (er war auch Sudetendeutscher) noch 30-40 Jahre später auf Kindern und Enkeln derer auszutragen, mit denen er mal Probleme gehabt hat oder wo er dachte, dass er damals zu kurz gekommen sei.

So was gibt es heute nicht mehr so oft wie damals, was nicht heißt, dass es das nicht mehr gibt. Es ist nur verpönt und wenn so was rauskommt, kann man sich seiner sicher sein, dass es richtig, richtig Ärger gibt und es Folgen haben wird, egal ob ein Lehrer den Kindern mit der Hölle droht oder ihnen sagt, dass die Mama sie verstoßen wird, wenn sie nicht artig sind. Wir waren damals so verschüchtert, dass wir das in uns reinfraßen ... die Kiddies von heute sind evtl. auch selbstbewusster als wir es damals gewesen sind.

Meinem Opa brach man die Hand, weil er Linkshänder war und das nicht gern gesehen wurde.

Eine Freundin von mir wurde noch in den 80ern von links auf rechts umerzogen, kenne ich alles noch. Die linke Hand habe als "unrein" gegolten und sie berichtete mir mal, es gab sogar Arbeitsblätter und Flayer für Eltern zu dem Thema, dass man es "mit rechts" machen müsse.

Ein Patienten von mir (mit angeborener Behinderung) wurde von seinen Eltern im Keller versteckt, weil die gesellschaftliche Schande so groß war, ein behindertes Kind zu haben.

Ja, das ist typisch für das Vorstadt-/Landmilieu, wo man sich "schämt" und andere einem auf der Straße sagen, man hätte so ein Kind "wegmachen lassen" sollen und "dass es das beim Adolf nicht gegeben hätte". Ich war mal mit einem Mädchen mehr oder weniger zusammen, das beidseitig oberschenkelamputiert war und im Rollstuhl saß - sie hatte die Beine im frühen Kindesalter verloren, soweit ich weiß. Wir sind schon seit der Grundschule befreundet - es war damals ein Kampf für ihre Eltern, dass sie auf die Regelschule konnte (90er halt). Als ich mit ihr mal so 2012 irgendwo unterwegs war (ich hatte da kein Problem damit; sie war freundlich, hübsch, sympathisch und intelligent, zieht sich super schön an und ist total fröhlich drauf), hat mich einer angesprochen, als sie grad nicht direkt in Reichweite war und mich ernüchtert gefragt, was ich "mit so jemandem" wolle; es fiel auch der Satz "beim Adolf hätte es so was nicht gegeben" ... wie gesagt, wir sind beide Jahrgang '90 und das wird so 2012 rum gewesen sein. Schlimm; das war so ein CDU-Katholik. Einfach nur widerlich, ich habe dem das auch gesagt, dass ich er sich schämen soll und ich unser Verhältnis damit für erledigt betrachte.

Ich weiß auch von einem Jungen, der ganz nett, aber sehr lebhaft war. Er hat gern auf "lose Lippe" gemacht, war ein kleiner "Musikus", der gut musizieren und singen konnte und stand gern im Mittelpunkt - und weil sich die Eltern in der Vorstadt so für den "nicht geduckten" und "nicht angepassten" und "zu fröhlichen" Buben schämten und erst recht nicht zum Psychologen oder zum Hausarzt wollten, weil sich Ersteres bald herumgesprochen hätte und Letzterer beim Stammtisch halb-besoffen gern solche Interna ausplauderte, über die sich dann jeder lustig machte von Nagelpilz bis Lungenkrebs (kann mich gut erinnern, es hat ihn aber eines Tages jemand angezeigt und er bekam dann die Approbation entzogen), bekam er irgendwelche Beruhigungstabletten verabreicht, die seine Eltern klammheimlich bei Schlecker (!) gekauft haben, leider genau das Falsche. Das Resultat war ein aggressiver, pöbelnder, gewaltbereiter Erwachsener mit extremen Stimmungsschwankungen, der immer aneckte und vor dem jeder Angst hatte. Ich bin mir sicher, der hat einen Hirnschaden oder was davon getragen.

Das war's jetzt, was mir dazu einfiel, aber es gibt sicherlich noch mehr.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
Loka95 
Fragesteller
 22.04.2023, 23:52

Vielen Dank für deine ausführliche Antwort :)

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rotesand  22.04.2023, 23:55
@Loka95

Gerne doch. Ist zwar keine "schöne" Antwort im eigentlichen Sinne, es hat auch in mir gewisse Beklemmungen ausgelöst, aber das ist nicht so schlimm.. ich höre noch etwas gute Musik, dann ist das Kopfkino wieder weg :-). Schönen Sonntag!

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GinaLaura086  23.04.2023, 16:18

Woher wusstest du über diesen Mann, der dich nur eben angesprochen hatte, dass er "so ein CDU Katholik" war?

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rotesand  23.04.2023, 19:56
@GinaLaura086

Ich war damals auch im Ortsverein und kannte den privat. Leider kannte ich ihn zu gut, er war absolut scheinheilig und gedanklich am rechten Rand der CDU zu finden. Ein furchtbarer Zeitgenosse.

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rotesand  23.04.2023, 21:13
@GinaLaura086

Dieser Mensch war einer der Hauptgründe, warum ich nicht mehr für den Gemeinderat kandidiert habe. Mit so was wollte ich nicht in einem Gremium sitzen oder allgemein irgendwie mit dem zu tun haben.

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GinaLaura086  24.04.2023, 16:25
@rotesand

Na, das kann ich gut verstehen - und zwar obwohl ich selbst aus einer katholischen CDU Familie komme

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rotesand  24.04.2023, 16:42
@GinaLaura086

Ich auch und ich bin immer noch aktiv, katholisch, konservativ und in der CDU - aber eben in meiner Wahlheimat. In meiner Heimat war das unerträglich geworden.

Der Ortsverband und der Kreisverband sind hier jedoch sehr integer und die Abgeordneten sind sehr nett. Es passt und ich fühle mich wohl.

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GinaLaura086  27.04.2023, 15:43
@rotesand

Das freut mich :) ich bin noch nicht viel aus meiner Heimat herausgekommen, hier ist auch einiges nicht so toll und es sind hauptsächlich die schönen Gebäude in der Stadt, die ich an meiner Heimat mag - wobei Deine Erzählungen auch keine schönen Häuser wettmachen könnten, glaube ich...

Es ist extrem, wie sich ein und die selbe Sache an verschiedenen Orten unterscheidet und ich finde es schön, von Dir zu lesen, dass Du Dir nicht Deine Grundsätze und Meinung durch solche Leute aus Deiner ursprünglichen Heimat vermiesen lassen hast!

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Eine Lobotomie. Das ist eine Gehirnoperation, die man vor allem bei Menschen mit psychische Erkrankungen angewendet hat, diese Vorgehensweise war sehr weit verbreitet bis man rausgefunden hat, dass eine Lobotomie keine Heilungswirkung aufweist. Die meisten Patienten wurden dazu gezwungen sich einer Lobotomie zu unterziehen.

Psychisch kranken Menschen hat man früher Elektroschocks verpasst, offiziell um sie zu heilen. Hat natürlich nicht funktioniert. So lange ist das noch gar nicht her.

Früher gab es die Todesstrafe.

Früher war es ungewöhnlich bis verpönt, wenn Frauen gearbeitet haben. Sie brauchten die Erlaubnis ihres Mannes.

Ich beziehe mich in dieser Antwort auf das "jetzt" in Deutschland. In manchen Ländern ist es heute immer noch so wie früher.

Loka95 
Fragesteller
 22.04.2023, 22:46

Danke :)

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Kieferorthopädische Behandlung aber ich habe gerade erfahren dass die das immer noch mit Drähten machen bei denen die Enden den Mund verletzen: Voll die Tortour...

Loka95 
Fragesteller
 22.04.2023, 22:43

Oh ja, das ist echt barbarisch 🙈

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Aus meiner eigenen Erziehung in den 70ern kenne ich das noch zu gut, Schläge mit dem Lederriemen, der Gerte und Schnitte mit dem Messer. Bei Ungehorsam, Frechheit,Faulheit und schlechten Noten wurde ich regelmäßig heftig bestraft, da floss auch öfters Blut. Weil wenn ich nicht genügend lernte und schlechte Noten nach Hause brachte, schlug meine Mutter erst mit dem Lederriemen auf den nackten Rücken und Po, dann riss sie mich in den Haaren den Kopf nach hinten und schnitt mir mit ihrem scharfen Messer die Gurgel auf. Das war ihre Art mich zu züchtigen, wenn ich ein Wort irgendwo davon weitererzählt hätte, hätte sie mich sofort geschlachtet. Meine Oma hetzte meine Mutter jedesmal auf, sie müsse noch strenger mit mir sein wenn es nötig wäre mich schlachten, dass wäre ich selber dann in Schuld, dass war der O Ton meiner Oma.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung