Interpretation Johann Wolfgang von Goethe: Das Göttliche?
Das Göttliche --> Gedicht
Edel sei der Mensch Hilfreich und gut! Denn das allein Unterscheidet ihn Von allen Wesen, Die wir kennen.
Heil den unbekannten Höhern Wesen Die wir ahnen! Ihnen gleiche der Mensch! Sein Beispiel lehr uns Jene glauben.
Denn unfühlend Ist die Natur: Es leuchtet die Sonne Über Bös und Gute Und dem Verbrecher glänzen wie dem Besten der Mond und die Sterne.
Wind und Ströme, Donner und Hagel Rauschen ihren Weg Und ergreifen Vorüber eilend Einen um den andern.
Auch so das Glück Tappt unter die Menge, Fasst bald des Knaben Lockige Unschuld, Bald auch den kahlen Schuldigen Scheitel.
Nach ewigen, ehrnen, Großen Gesetzen Müssen wir alle Unseres Daseins Kreise vollenden.
Nur allein der Mensch Vermag das Unmögliche: Er unterscheidet, Wählet und richtet; Er kann dem Augenblick Dauer verleihen.
Er allein darf Den Guten lohnen , Den Bösen strafen, Heilen und retten, Alles Irrende, Schweifende Nützlich verbinden.
Und wir verehren Die Unsterblichen, Als wären sie Menschen, Täten im großen, Was der Beste im kleinentut oder möchte.
Der edle Mensch Sei hilfreich und gut! Unermüdet schaff er Das Nützliche, Rechte, Sei uns ein Vorbild Jener geahneten Wesen.
Fragestellungen:
- Durch welche Eigenschaften und Verhaltensweisen unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen? Welche Ansprüche ergeben sich daraus für den Menschen? Beachten Sie insbesondere die Textstellen, die Goethe als Aufforderungen (Verben im 1. Konjunktiv!) formuliert hat.
- Der Titel des Gedichtes lautet das Göttliche. Goethe verwendet offensichtlich ganz bewusst nicht das Wort "Gott". Eher noch spricht er von "den Unsterblichen", also von Göttern im heidnischen Sinn des Wortes. Welche Gründe könnte er dafür haben?
- Wodurch können laut Goethe die Menschen zum Glauben an "das Göttliche", an die "höheren Wesen" gelangen? Meinen Sie, dass diese Auffassung mit dem christlichen Glauben vereinbar ist?
Bitte helft mir diese Fragen zu beantworten... Ich habe keine Ahnung!
Danke im Voraus!
1 Antwort
Zu 1. Der Mensch kann edel, hilfreich und gut sein. Da er als einziges Wesen so sein kann (und andere Wesen, die wir kennen, dies nicht können), sollte er dieser Ausnahmestellung auch gerecht werden (die Hilfsbereitschaft von Tieren bezieht sich ausschließlich auf ihre Brut, geschieht also aus einem Instinkt heraus, nicht aus freien Stücken). Hier bringt das lyrische Ich diese Ausnahmefähigkeiten des Menschen mit den „höheren Wesen“ in Verbindung (2. Str.), denn es huldigt emphatisch diesen Wesen („Heil, ihr unbekannten höheren Wesen!“) Warum diese Huldigung? Weil sie dem Menschen diese Ausnahmestellung eingeräumt haben. Deshalb soll der Mensch edel, hilfreich und gut sein, weil er den höheren Wesen dann gleicht und andere durch sein Beispiel veranlasst, an jene zu glauben (2. Str.). Goethe geht also davon aus, die höheren Wesen seien edel und gut etc.
Der Mensch nimmt nicht nur gegenüber den Tieren eine Sonderstellung ein, sondern auch gegenüber den Naturkräften, den Naturgesetzen und dem Glück. Die sind alle „unfühlend“, machen keine Unterschiede (s. Str. 3 – 6). Allein der Mensch kann das Folgende (Str. 7 und 8): er kann ein Mitgefühl für andere entwickeln, kann wählen, richten, belohnen, bestrafen, heilen, retten und das Nützliche tun etc.
Str. 9 und 10 nehmen wieder Bezug zu den höheren Wesen, die im Großen das Edle, Gute tun, so wie der Beste im Kleinen.
Am Schluss Wiederholung des Gedankens aus Str. 2: der edle Mensch soll den anderen Menschen Vorbild sein, indem er das Nützliche und Rechte tut, damit die anderen an die geahnten höheren Wesen glauben.
Zu 2. Goethe war ein Pantheist, d.h. für ihn waren Gott und Natur gleich. Für einen personalen Gott oder für Götter war kein Platz mehr. Es gibt nur die göttliche Kraft, die in allen Lebewesen und in der genialen Konstruktion des Universums spürbar ist. Goethe nennt diese Kraft „das Göttliche“.
Nun spricht Goethe aber auch von den Unsterblichen und den höheren Wesen. Das bedeutet: Goethe war kein radikaler Pantheist; manche sagen, er hätte ein kosmotheistisches Weltbild gehabt (denn für einen lupenreinen Pantheisten gibt es keinen Platz für unsterbliche Götter).
Zu 3: Die Antwort ergibt sich aus Frage 2: durch das Vorbild des edlen Menschen sollen die anderen zum Glauben an das Göttliche geführt werden.
Goethe hat sich zwar als dezidierten Nichtchristen bezeichnet (er glaubte nicht an die Erbsünde); m.E. stimmen aber die Gedanken in dem Gedicht „Das Göttliche“ mit dem christlichen Glauben überein. Durch die christliche Tat i.S. der Bergpredigt können viele zum christlichen Glauben geführt werden. Man kann natürlich darüber streiten, ob es an solchen vorbildhaften Taten heute eventuell fehlt. Auch kann man sagen, Christen glauben an einen persönlichen Gott, nicht bloß an eine göttliche Kraft.