Das Göttliche gedicht?

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Hallo Vivi,

lass mich gerne in dieser weiteren Antwort nach dem Thema 3 schauen.

Zu. 1. der Mensch bringt Ordnung ins Chaos

Das sehe ich eher in der siebten Strophe, wo Goethe sagt, dass der Mensch "unterscheidet, wählet und richtet", dem "Augenblick Dauer verleiht". Wir können in dem Richten das Schaffen von Ordnung verstehen, wenn wir im Gegenteil der Ordnung Chaos verstehen. In einer zeitlichen Dimension wäre einer Dauer - oder auch Zeitlosigkeit - gegenüber einer Dynamik (alle Zeit was anderes) auch Ordnung zu unterstellen.

Zu 2. das Antropomorphe des Götterbilds

Hier sehe ich in der neunten Strophe die "Unsterblichen, als wären sie Menschen". Doch finden wir in der zweiten Strophe "Höhere Wesen ... ihnen gleiche der Mensch". Was mag jetzt "zu erst" da sein? Gehen wir von der Reihenfolge der Strophen aber auch von einem Ansatz der Göttlichkeit als etwas Universales aus: und sehen in der neuten Strophe die Antropomorphie in der Umkehrung - vielleicht ein Hinweis auf genau das, was wir aus vielen Religionen und Religionismen kennen: humanoide Gottesbilder, die künstlich wirken mögen.

Zu 3. die Naturgewalt als Metapher

In der dritten bis sechsten Strophe finden wir dies - und in meinen Augen eine Allegorie des rein Natürlichen als etwas Unabdingbares. Doch darf ein Mensch sich zur Göttlichkeit entscheiden - worauf hin mir die siebte Strophe wieder auflöst, damit mit einer reinen Natürlichkeit Chaos, mit Göttlichkeit Ordnung suggeriert. Das rein Natürliche mag unabdingbar erscheinen, da es sehr lange und sehr oft beobachtet werden kann - und somit zu einer Art Quasi-Norm werden kann.

Zu 4. die Zirkelstruktur

In der ersten und letzten Strophe haben wir eine Klammer um das Gedicht herum. Dies suggeriert die Universalität der Göttlichkeit.

Doch liegt auch in der Thematik der Antropomorphie eine Art Kreisbezug: Göttlichkeit, die ein Mensch für sich (als Attitude, eig. Anmerkung) annehmen darf, die ihn quasi Gott-gleich macht: eben Göttlich. Da zeigt sich eine Einheit mit Gott in der Göttlichkeit.

Zu 5. der Mensch ist etwas Größerem unterworfen

In der neunten Strophe haben wir auch eine Verehrung. Das mag eine Unterwerfung suggerieren. Ich hatte diese neunte Strophe schon unter der Antropomorphe mit humanoiden Gottheiten in Zusammenhang gebracht. Diesen Gottesbildern mögen die Menschen sich gerne unterworfen haben, da sie nichts anderes kannten.

Denken wir an Sturm und Drang und Revolution gegen künstliche Hiearchien - so mag darin ein kleiner Hinweis versteckt sein. Denn unter Göttlichkeit - wir sehen sie in der zweiten Strophe in dem Zusammenhang - lösen sich alle Hiearchien auf, da alle Menschen gleich sind. So mag das Thema auch in Anführungsstichen stehen.

Zu 6. die Indifferenz der Natur
Zu 7. der Mensch vermag, kritisch zu sein

Möglicherweise gibt die fünfte Strophe mit dem unschuldigen Knaben und dem schuldigen Scheitel einen Hinweis, dass reine Natürlichkeit keine Unterscheidung macht. Die siebte Strophe zeigt, dass der Mensch sehr wohl unterscheiden kann: aus seinem Bewusstsein heraus, mag ich sagen - und aus seinem Bewusstsein heraus kann er sich auch für Göttlichkeit wie für reine Natürlichkeit entscheiden.

Zu 8. der Zufall

Wieder in den Strophen drei bis fünf mag das rein Natürliche zufällig oder nach Willkür, die nicht zu "berechnen" ist, jeden und alles beeinflussen - etwas, was in Richtung Chaos schon gezeigt hatte.

Zu 9. durch den guten Menschen entsteht der Glaube an die Götter

Wieder eher die neunte Strophe: das Gute - oder sagen wir genauer: das Göttliche - mag Menschen zu einem Glauben an etwas Universales - Götter, auch wenn diese dann humanoid ausgefallen seine - veranlasst haben. Da hätten sich die Menschen die Götter gut geschaffen - die Antropomorphie - wobei das Göttliche eher als universal dargestellt werden kann. Und nach meine Ansicht verschwindet jeglicher Glaube in der eigenen Göttlichkeit.

Zu 10. Das Idealbild der Weimarer Klassik

Wieland, Goethe, Herder und Schiller und die Zeit des Sturm und Drangs - s. https://de.wikipedia.org/wiki/Weimarer_Klassik. Vielleicht sind das in der sechsten Strophe diese ewigen - und damit universalen - Gesetze (die in meinen Augen keine Gesetze, sondern irgendwie ein Konzept sind). Wäre es ein herer Wunsch gewesen, wenn sich mit der Aufklärung und aller Revolution auch die Göttlichkeit verbreitet hätte - oder die Autoren dieser Zeit hatten das noch vermutet.

Ich hoffe, ich konnte Dir noch ein paar Gedankenanstöße, die sich sicherlich mit meiner persönlichen Attitude gefaltet haben, geben. Ich selbst bin auch ein großer Fan der Sturm und Drang Zeit - auch wenn ich nicht alles aus dieser Zeit gelesen habe.

Mit vielen lieben Grüßen
EarthCitizen

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
EarthCitizen20  02.09.2020, 21:05

Hallo Vivi,

hab vielen herzlichen Dank für den Stern. Ich freue mich sehr, wenn ich Dir habe helfen können.

Mit vielen lieben Grüßen
EarthCitizen

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Hallo Vivi,

auf die Schnelle kann ich eher zum Thema 4 - naiv oder idealistisch - etwas sagen.

Alleine aus Goethes Epoche - Sturm und Drang - sehe ich keine Naivität. Sie könnte naheliegen, wenn wir reiner Natürlichkeit (wie ich gerne sage), die wir in dem Gedicht dialektisch zur Göttlichkeit finden, nur wegen häufigerer Beobachtung eine Präferenz in Richtung dem, was wirklich wichtig ist, geben. Dann mag Göttlichkeit als naiv darstehen.

Sonst bleibt in meinen Augen ein Idealismus stehen, unter dem Göttlichkeit eine dem Menschen zugängliche Option, die er nicht ergreifen muss, aber gerne (auch nicht-religionistisch) nahe liegt.

Möglicherweise hatte Goethe in der ganzen Sturm und Drang Zeit, nach der Aufklärung, in einer Umbruchssituation die Möglichkeit der gesellschaftlichen Veränderung in Richtung Göttlichkeit gesehen. Die Aufklärung hatte mit bestehenden Religionismen in meinen Augen "abgerechnet" - und somit vielleicht auch mit Religionen. Da Göttlichkeit mit Religion historisch verbunden war - und sich das auch in dem Gedicht noch widerspiegelt - mag diese in den Hintergrund getreten sein. Somit hatte in meinen Augen die reine Natürlichkeit in einem neuen Gewand die eher eine Prominenz behalten.

Mit vielen lieben Grüßen
EarthCitizen

Woher ich das weiß:Hobby