Haben wir alle etwa zwei unterschiedliche Persönlichkeiten?
Damit meine ich, dass wir eine angepasste Persönlichkeit (soziale Persönlichkeit) in uns haben und eine unangepasste Persönlichkeit (wilde oder archaische Persönlichkeit). Die angepasste Persönlichkeit zeigen wir z.B. im Berufsleben, also in der Öffentlichkeit, und die unangepasste Persönlichkeit verbergen wir lieber vor der Öffentlichkeit und lassen sie - wenn überhaupt - nur im Privatleben raus.
Wie sonst könnte man es sich erklären, dass wir im Internet plötzlich zu einer scheinbar anderen Person werden als im wirklichen Leben?
Vor ein paar Tagen war die Polizei bei uns in der Firma und stellte einen meiner Arbeitskollegen bezüglich einiger Hass-Kommentare zur Rede, die er in der Vergangenheit gegenüber einigen Politikerinnen und Politikern im Internet geäußert hatte. Ich muss sagen, ich staunte nicht schlecht als ich davon erfuhr. Wie konnte es sein, dass mein Arbeitskollege, der seit mehreren Jahren ein Büro mit mir teilt und den ich immer als friedliebend und tolerant erlebt hatte, sich im Internet zu krassen Hass-Kommentaren hinreißen ließ?
Habt Ihr auch schonmal solche Erfahrungen gemacht, dass Menschen von denen Ihr meintet sie gut zu kennen plötzlich eine ganz andere Person zu sein schienen?
6 Antworten
Jeder Mensch hat verschiedene Gesichter, z. B. ein professionelles und ein privates. Und diese beiden Gesichter können in sich auch noch unterschiedlich sein. Zum Beispiel zeigt man im Privatleben ja auch nicht allen Menschen das gleiche Gesicht. Der engste Vertraute (z. B. Partner) oder die engsten Vertrauten (z. B. Partner und/oder Mutter, Vater, allerbeste Freundin) wissen vielleicht, dass man extrem verletzlich ist, aber nach außen immer absolut sicher wirkt und ein total dickes Fell zu haben scheint. Die anderen kennen einen aber nur als jemanden, den nichts erschüttern kann und der anscheinend unangreifbar ist. Auch im Beruf zeigt man sicher ein anderes Gesicht, wenn man vor Publikum auftritt, ein Unternehmen repräsentiert o.ä., als wenn man sich im Kreise von Kollegen über Gott und die Welt unterhält. Die Kollegen wissen, ob man Humor hat, und auch, was für eine Art von Humor man hat, ein größeres Publikum aber kann das vielleicht nur erahnen aufgrund von (gezielten oder auch spontanen) Randbemerkungen in einer Rede.
In manchen Berufen - vor allem, wenn man in der Öffentlichkeit steht - geht es gar nicht ohne ein wenig Schauspielerei. Vor allem Launen sollte man nicht herauslassen. Wenn ich etwas erreichen und mit meinen Wünschen, Forderungen oder auch mit meiner Zurückweisung Erfolg haben möchte, darf ich beispielsweise kein müdes, abwesendes Gesicht zeigen oder dass ich gerade angeödet bin von dem Gelaber meines Gesprächspartners und sowieso schon meine Entscheidung getroffen habe. Je mehr man (im Beruf und im damit verbundenen gesellschaftlichen Umgang) in den unterschiedlichsten Situationen mit Menschen zu tun hat, umso wandlungsfähiger muss man sein. Das heißt natürlich nicht, dass man den anderen nur etwas vorspielt, sein Ich versteckt, sie also gewissermaßen betrügt, aber man muss sich der jeweiligen Situation anpassen können.
Was du nun von deinem Kollegen berichtest, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Da kann ich mir nur vorstellen, dass er ein total frustrierter Mann ist, vielleicht einer, der im Beruf nicht vorankommt und die anderen (Jüngeren?) auf der Karriereleiter an sich vorbeiziehen sieht, vielleicht hat er auch zu Hause nicht das große Sagen (Die Frau bestimmt, und die Kinder kümmern sich nicht um sein "Geschwätz".), am Stammtisch macht man oft Witze auf seine Kosten, er wird also nicht für voll genommen. In ihm hat sich viel Wut und Verzweiflung aufgestaut, weil er so ein "Niemand"/Versager ist oder er sich jedenfalls so fühlt. Wie und wo kann er Dampf ablassen? Da bietet sich das Internet doch geradezu an für Hasstiraden gegen irgendwelche Menschen, die hier als Vertreter für all die stehen, die ihn als kleines Würstchen behandelt und nie ernst genommen haben.
Klar, das ist unwürdig, und eigentlich müsste derjenige überhaupt nicht mehr in den Spiegel schauen mögen. Aber er hat ja sowieso gar kein Selbstwertgefühl.
Tatemae und Honne heißt es in Japan.
Eine Front für den Job und wie wir wirklich sind.
Ich gehe davon aus, dass wir drei Ich haben.
Nee, ich meine damit etwa, Geist, Seele und Ego. Also drei Konzepte von Selbst.
Zu den Persönlichkeiten:
Wir haben viele verschiedene Rollen in unserem Leben. Die Rolle des Arbeitnehmers, des Vaters, des Geliebten, des Gamers etc..
Dementsprechend verhalten wir uns in verschiedenen Situationen immer unserer Rolle entsprechend. Diese zusammen sind Teil deiner Persönlichkeit.
Wie sonst könnte man es sich erklären, dass wir im Internet plötzlich zu einer scheinbar anderen Person werden als im wirklichen Leben?
Im Internet, wie auch hier, gilt Anonymität. Du kannst hier also (theoretisch) schreiben was du willst, ohne dass es Konsequenzen hat. Das selbe Prinzip gilt z.B. auch im Auto. Deshalb können es sich Fahrer leisten so ungestüm zu reagieren, weil ihre Beschimpfungen auf taube Ohren stoßen. Im Netz als ein Niemand kannst du bestimmen wer du bist bzw. wer du sein willst.
Zur Kollegin:
Nur weil du neben ihr arbeitest, heißt es nicht, dass du den Menschen kennst. Ted Bundy war auch ein toller Arbeitskollege und Freund. Kennen deine Arbeitskollegen dich denn so wie du wirklich bist? (Vergleiche Rollen spielen)
Habt Ihr auch schonmal solche Erfahrungen gemacht, dass Menschen von denen Ihr meintet sie gut zu kennen plötzlich eine ganz andere Person zu sein schienen?
Ich kann verstehen wieso du so naiv denkst. Kein Mensch ist immer ehrlich zu dir. Oft wird nur das gesagt, was man erwartet oder eben das, was man sich leisten kann. Du bist bestimmt auch nicht immer ehrlich zu deinem Chef oder deiner Partnerin. Weil Lügen ein Alltagsgeschäft sind. Man biegt sich in einer Rolle so zurecht, dass es passt. "Nein, du bist nicht dick geworden." und "Nein, natürlich erledige ich das noch am Wochenende." sogen für Ruhe und Frieden. Genauso geht man aber auch mit dir um. "Gut so und dir?" ist die Antwort für die Frage, bei der die Leute am aller meisten und aller liebsten lügen. Wer will dann schon Ehrlichkeit?
Danke für diese ausführliche Antwort. Mir gefällt besonders die Formulierung, dass "Lügen ein Alltagsgeschäft sind". ;-)
Dein Kollege verbirgt vor euch, welche Politiker er hasst. Er will keinen Streit mit euch.
So frage ich mich, wer da oft so gehässig schimpft im Internet und wie die Leute wären, würden sie mir gegenüber stehen!
Damit meinen Sie das Ich, das Über-Ich und das unterbewusste Ich so wie Sigmund Freud es dargelegt hat?
Aber ist dieses Konstrukt auch gleichzusetzen mit der Persönlichkeit?
Ich dachte immer, dass die drei Ichs mehr unsere Wahrnehmungsweise widergeben, aber nicht die Ausprägung unserer Persönlichkeit?
Aber ich kann mich täuschen...