Attische Demokratie Pro und Contra?

2 Antworten

Eine Bezweiflung, die athenische Demokratie sei wirklich eine Demokratie gewesen, unterliegt der Anforderung einer Darlegung, was eine »wirkliche Demokratie« ist und warum es im antiken Athen im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. nach diesem Maßstab keine Demokratie gegeben hat. Eine »wirkliche Demokratie« gibt es, wenn die wesentlichen Merkmale einer Demokratie vorhanden sind. Die athenische Demokratie ist eine direkte Demokratie gewesen. In Athen hat es eine wirkliche Demokratie gegeben. Sie ist darin wegen der Ausschließung der Frauen von politischen Rechten unter einem Gesichtspunkt unvollkommen, nämlich der politischen Teilhabe aller zur Gemeinschaft gehörenden ausreichend handlungsfähigen Menschen.

Es kann bei der athenischen Demokratie ein Mangel gegenüber einem Ideal festgestellt werden, allen zum Staat gehörenden Personen ab einem Mindestalter politische Rechte zu geben. Frauen, Kinder, Sklaven und ansässige Ausländer (sogenannte Metöken) sind von der politischen Teilhabe ausgeschlossen gewesen und sie waren ein großer Teil der Bevölkerung Athens. Die erwachsenen männlichen freien Bürger waren nicht die Mehrheit der Gesamtbevölkerung, sondern wohl kaum mehr als 20 – 30 %, in Zeiten mit großer Sklavenzahl vermutlich deutlich weniger (eine genaue Bevölkerungsstatistik gibt es nicht). Es ist aber unpassend und geschichtlich unangemessen, deshalb (die Vollbürger sind zahlenmäßig eine Minderheit) so weit zu gehen, der athenischen Demokratie den Begriff »Demokratie« abzusprechen. Dieser Begriff ist in Bezugnahme auf einen vorhandenen Staat geprägt worden. Der athenische Staat ist damals als »Demokratie« bezeichnet worden.

Vollbürger war, wer volle politische Rechte hatte. Insofern ist ein Einwand, in Athen habe die Demokratie nur für Vollbürger gegolten, nicht sinnvoll. Denn definitionsgemäß sind alle mit demokratischen Rechten ja Vollbürger und logischerweise kann daher die Demokratie nicht auf gleiche Weise auch für andere gelten.

Der Argumentationsversuch sollte besser auf die Ausschließung bestimmter Bevölkerungsgruppen von politischen Rechten ausgerichtet sein, also darauf, wer nicht Vollbürger sein konnte.

Aufgeschriebene Rechte hat es im antiken Athen gegeben. Was es nicht gab, war eine weitgehende systematische schriftliche Zusammenstellung von Grundrechten (Menschenrechte und Bürgerrechte) als Teil einer Verfassung oder eigene Erklärung.

Die athenische Demokratie war durch Rechtsbestimmungen gesichert. Es gab ein hohes Ausmaß an rechtlicher Absicherung der politischen Ordnung durch Gesetzesbestimmungen, Pflicht zur Rechenschaftsablegung nach der Ausübung von Ämtern und die Möglichkeit von Anklagen bei Verstößen. Wohl Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurde eine Klage wegen Rechtswidrigkeiten (γραφὴ παρανόμων [graphe paranomon) eingeführt, die Bürger gegen Beschlüsse erheben konnten, die gegen Verfahrensvorschriften oder ein bestehende Gesetz verstießen.

Die wesentlichen Merkmale einer Demokratie (Volkssouveränität, Abstimmungen, Mehrheitsprinzip, Wahlen, Freiheit und politische Gleichheit als zentrale Grundsätze und tragende Ideen) hat es gegeben.

In der athenischen Demokratie waren Freiheit und Gleichheit wichtige Prinzipien und Werte. Sie wurden von Zeitgenossen mit der Demokratie verbunden. Aristoteles, Politik 4, 4, 1291 b: „Wenn nämlich die Freiheit am meisten in der Demokratie vorhanden ist, wie einige annehmen, und die Gleichheit, so dürfte es sie am meisten da geben, wo alle zusammen in gleicher Weise besonders gemeinsam an der Verfassung teilhaben. Weil aber die Mehrzahl das Volk ist, entscheidend aber das ist, was die Mehrheit beschließt, ist diese (Verfassung) notwendig eine Demokratie.“

Pro-Argumente

  • Volkssouveränität, Verwirklichung von Demokratie (Volksherrschaft) und direkte/unmittelbare Demokratie: Die Macht ging in starkem Ausmaß vom Volk aus, weil das Volk mit seinen Beschlüssen und Urteilen (in der Volksversammlung und in Gerichten, die von Leuten aus dem Volk besetzt wurden) ausschlaggebend war. Entscheidungen waren durch Abstimmungen nach Mehrheitsprinzip legitimiert. Die Vollbürger trafen mit ihrer Stimmabgabe die wichtigen Entscheidungen selbst, statt nur alle paar Jahre Vertretern (Repräsentanten) ihre Stimme zu geben, damit sie Abgeordnete in einem Parlament werden.
  • hoher Grad an Teilhabe (Partizipation) der Bürger: Eine direkte umfassende Bestimmung durch die Bürger selbst stand im Mittelpunkt. Das Losverfahren für die meisten Ämter (für einige, die besondere Fähigkeiten erforderten, gab es Wahlen, z. B. die 10 Strategen, Architekten und Bauaufseher, hohe Finanzbeamte) sorgte für Gleichheit unter den Bürgern, Verhinderung von übergroßer Machtkonzentration und Machtmißbrauch, Vermeidung von Korruption (vor allem bei den Gerichten konnte so die Anfälligkeit für Bestechung eingeschränkt werden).
  • Armut und einfache Herkunft kein Hindernis für politische Mitbestimmung und Mitarbeit: An der Politik konnten alle athenischen Vollbürger teilhaben, ohne Einschränkung durch Herkunft/Abstammung oder Besitz/Einkommen. Alle, die nach damaligem Denken für eine politische Teilhabe in Frage kamen, hatten in der athenischen Demokratie wirklich Anteil an der Herrschaft.
  • viel Gleichheit: In der Volksversammlung hatte jeder Vollbürger Rederecht und konnte einen Antrag stellen. Unter den Bürgern war politische Gleichheit (τὸ ἴσον [to ison] = das Gleiche) mit Abwechslung von Herrschen/Regieren und Beherrschtwerden/Regiertwerden grundlegend. Eine starke Spaltung zwischen Regierenden und Regierten wurde so vermieden.
  • Verwendung des Begriffes »Demokratie« für den athenischen Staat im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr.: Der Begriff »Demokratie« ist für die Art von Verfassung geprägt worden, wie sie Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. hatte. Der Begriff kam zeitlich nach der Sache. δημοκρατία (demokratia), gebildet aus δήμος (demos), was in einer Grundbedeutung „Volk“ heißt, und κϱάτος (kratos), was „Stärke“, „Kraft“, „Gewalt“, „Macht“, „Herrschaft“ heißt, bedeutet „Volksherrschaft“, „Herrschaft des Volkes“. Quellen für die Bezeichnung des athenischen Staates als Demokratie sind z. B. »der Alte Oligarch« ([Xenophon], Athenaion politeia 1, 4; 1, 5; 3, 1); Herodot 6, 131, 1; Antiphon 6, 45; Lysias 2, 18; Andokides 1, 96; Aristoteles, Athenaion politeia 29, 3; 41, 2; Aristoteles, Politik 6, 4, 1319b; Supplementum Epigraphicum Graecum (SEG) 12 87, 9. 13.16; 28, 46

Kontra-Argumente, die versucht werden können:

  • Ausschließung der Frauen, Kinder, Sklaven und ansässigen Ausländer von politischen Rechten
  • Fehlen einer weitgehenden systematischen schriftlichen Zusammenstellung von Grundrechten (Menschenrechte und Bürgerrechte)
  • Mangel an Gewaltenteilung

Folgerungen, die athenische Demokratie sei deshalb keine wirkliche Demokratie gewesen, lassen sich aber entkräften.

Auschließung der Frauen, Kinder, Sklaven und ansässigen Ausländer von politischen Rechten:

Ausgeschlossen von Rechten zu politischer Teilhabe waren Frauen, Kinder, Sklaven und ansässige Ausländer (die sogenannten Metöken; ein Metöke - μέτοικος [metoikos]; »Mitbewohner« Plural: μέτοικοι [metoikoi] - war ein in Athen ansässige Fremder/Ausländer mit festen Wohnsitz, aber ohne athenisches Bürgerrecht).

Die Ausschließung der Frauen ist tatsächlich ein Mangel an vollkommener Demokratie. Allerdings hat es damals keine Forderung nach politischer Gleichberechtigung der Frauen gegegeben.

Kinder sind nicht sofort nach der Geburt zu Informationsbeschaffung, ausreichender Überlegung, Beurteilung und Abstimmung fähig. Männliche Kinder der Bürgerschaft bekamen Anteil, wenn sie volljährig waren.

Metöken gehörten nicht zur Bürgerschaft der Athener. Bürgerrechtsgesetze haben bestimmt, wer als Bürger anzuerkennen war. Politische Rechte in einem Staat sind auch heute in einem großen Ausmaß an die Staatsbürgerschaft gebunden (in Staaten der Europäischen Union (EU) gibt es ein kommunales Wahlrecht für Einwohner, die EU-Bürger sind).

In der politischen Praxis und Theorie galten damals die Vollbürger als Demos/Volk (δῆμος).

Ein Absprechen von Demokratie für das antike Athen ist nicht überzeugend. Wenn die Existenz von Sklaverei und die fehlende Frauenemanzipation bzw. die Nichtbeteiligung von Slaven und Frauen als Grundlage für eine Behauptung genommen wird, die Verfassung/politische Ordnung Athens in der Antike sei niemals eine Demokratie gewesen, wird ein wichtiger Sachverhalt (politische Teilhabe für alle zur Bürgerschaft gehörenden Männer, unabhängig von Besitz/Einkommen, und sozialer Herkunft aus einer bestimmten Schicht, also auch für die Armen und aus der Unterschicht Stammenden) nicht erkannt und die Unterscheidung zwischen Demokratie und anderen Verfassungen (z. B. Königtum, Tyrannis, Aristokratie, Oligarchie, Timokratie, Plutokratie) verwischt oder unbeachtet gelassen.

Die Nichtbeteiligung der ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen war nicht durch eine bestimmte einzelne Staats- und Regierungsform verursacht, sondern eine allgemeine Angelegenheit des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems. Was an Sklaverei und fehlender Gleichberechtigung der Frauen zu bemängeln ist, ist diesem System vorzuwerfen, nicht spezifisch der Staats- und Regierungsform Demokratie. Bei der Sklaverei ist nach ethischen Prinzipien Abschaffung richtig, nicht eine Beibehaltung von Sklaverei mit Vergabe eines politischen Wahlrechts.

Die ausgeschlossenen Gruppen kamen nach damaligem Denken nicht als an der politischen Herrschaft Beteiligte in Frage. Dies ist eine Einschränkung, aber alle in Betracht kommenden Bürger (ohne Begrenzung nach gesellschaftlicher Herkunft oder Besitz) hatten Anteil und sie stellten nach zeitgenössischen Äußerungen das Volk (den Demos) dar.

Fehlen einer weitgehenden systematischen schriftlichen Zusammenstellung von Grundrechten (Menschenrechte und Bürgerrechte): In der modernen Demokratie hat es eine starke Entwicklung dahin gegeben, Grundrechte als Teil in einer schriftlichen Verfassung systematisch aufzustellen. In der antiken Demokratie gab es keine derart weitgehende systematische Zusammenstellung von Freiheitsrechten in schriftlicher Festsetzung (auch wenn z. B. Redefreiheit ein wichtiges Prinzip war), wohl auch, weil in der damaligen Gesellschaft Freiheit als individuelles Nichtbeherrschtwerden der Bürger in großem Ausmaß vorhanden war, indem sie Selbstregierung hatten und die Herrschaft des Staates in die persönliche Existenz hinein eher gering war, Freiheit also nicht so stark gegen eine mächtige Institution zu schützen war. Die Bürger waren nicht politisch rechtlos.

Gewaltenteilung: Gewaltenteilung ist kein wesensnotwendiger Bestandteil von Demokratie. Außerdem sind die Bedingungen direkter Demokratie zu berücksichtigen, bei der die einzelnen Gewalten stark an das Volk gebunden bleiben. Viel Gewaltenteilung paßt nicht gut in eine direkte Demokratie hinein. Heutige demokratische Verfassungen sind stark von dem Gedanken einer Gewaltenteilung (Exekutive, Legislative und Judikative) mit wechselseitiger Kontrolle und Gleichgewichten (checks and balances) bestimmt. Allerdings sind sie nicht wirklich völlig getrennt. In der athenischen Demokratie wurden Gewalten/Herrschaftsfunktionen (Tätigkeiten des Beratens, Entscheidens, Richtens und Ausführens/Vollziehens) unterschieden. Es hat eine Verteilung von staatlichen/öffentlichen Aufgaben/Zuständigkeiten an verschiedenen Institutionen (Einrichtungen) gegeben. Gegenseitige Zusammenarbeit und Kontrolle hat stattgefunden. In der athenischen Demokratie spielte ein Gedanke der Gewaltenteilung aber keine große Rolle. Einen feststehenden Ausdruck als Begriff gab es dafür gar nicht.