Verfassungsschema attische Demokratie ohne Areopag?

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Die Vorstellung über einen durch Ephialtes und Perikles herbeigeführten Sturz des Aeopags (Ἄρειος πάγος [Areios pagos]; der Rat auf dem Areshügel) 462/461 v. Chr. ist übertrieben.

Aussagen, der Areopag sei Wächter bzw. Aufseher des Staates, der Verfassung oder der Gesetze gewesen, sind darin undeutlich, welche Befugnisse er tatsächlich hatte und, und erwecken den Eindruck einer politischen Leitung, die er gemäß der von Kleisthenes geschaffenen politischen Ordnung nicht hatte.

Die weitgehende Entmachtung des Areopags bestand wahrscheinlich hauptsächlich darin, ihm Möglichkeiten der Aufsicht und Kontrolle über die Beamten/Amtsinhaber/Amtsträger zu entziehen. Vermutlich hatte der Areopag dabei keine Befugnisse, die ihm mit bestimmten Regelungen ausdrücklich von der Verfassung zugeteilt worden waren, sondern die Tätigkeiten (für die bisher auch keine andere Institution ausdrücklich zuständig war) in der Praxis ausgeübt. Bis 462/461 v. Chr. hatte der Areopag so Möglichkeiten der Aufsicht, der Kontrolle und des Eingreifen bei der Dokimasie/Dokimasia (δοκιμασία), einer hauptsächlich formalen Eignungsprüfung von Bewerbern für Ämter (z. B. Besitz des Bürgerrechtes, Erfüllung vorgeschriebener Bürgerpflichten, geistige und charakterliche Mindestvoraussetzungen), der Überprüfung der Rechenschaftsablegung/Euthyna/Euthynie (εὐϑύνα) von Beamten/Amtsinhabern am Ende ihrer Tätigkeit und der Behandlung der Eisangelia (εἰσαγγελία), einer öffentlichen Klage in Strafsachen.

Aufsicht und Kontrolle über die Beamten/Amtsinhaber/Amtsträger sind teils auf die Volksversammlung, teils auf den Rat der 500, vor allem aber auf die Volksgerichte übertragen worden. Vielleicht gab es dabei nicht sofort ein genau geregeltes Verfahren, sondern erst einige Zeit später. Der Areopag urteilte nach 462/461 v. Chr. über Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Tötungsabsicht, Giftmiescherei und Brandstiftung mit Todesfolge (bei Verurteilung drohte die Todestrafe; die Zuständigkeit des Areopags wird als »Blutsgerichtsbarkeit« bezeichnet), außerdem lag bei ihm Aufsicht und Rechtverhandlung in ein paar Angelegenheiten des religiösen Kultes (sakrale Obliegenheiten wie die Sorge um die heiligen Ölbäume).

Daher ist es richtig, in einem Verfassungsschema für die athenische Demokratie in der Zeit, als Perikles der führende Politiker war, den Areopag mit seiner Zuständigkeit für einen kleinen Teil der Rechtsprechung einzubeziehen. Dargestellt werden kann seine Bildung aus ehemaligen Archonten.

Im Internet habe ich kein ganz optimales Verfassungsschema gefunden, aber ausreichend passende, die etwas abgeändert werden könnten.

http://www.thomasgransow.de/Athen/Staetten_der_Attischen_Demokratie/demokp.jpg

Die Volksversammlung heißt griechisch ἐκκλησία, der Vorsitzende heißt griechisch ἐπιστάτης, der Rat der 500 heißt griechisch βουλή. Neben „Amtsträger“ steht „Archaí“, griechisch ἀρχαί (Singular: ἀρχή) bedeutet in diesem Zusammenhang: Ämter, Behörden.

Es gab ungefähr 700 Beamte/Amtsinhaber/Amtsträger. Davon wurden etwa 100 durch Wahl bestimmt (darunter die 10 Strategen, Architekten und Bauaufseher, hohe Finanzbeamte), 600 durch ein Losverfahren. Ihre Amtszeit betrug meistens 1 Jahr.

An der Volksversammlung konnten volljährige athenische Bürger (mindestens 18 jahre alt) teilnehmen. Keine politischen Rechte hatten: Frauen, Kinder, dauerhaft ansässige Ausländer (μέτοικοι [metoikoi]: Metöken [Mitwohner]), Sklaven.

http://docplayer.org/docs-images/68/58483455/images/4-0.jpg

487 v. Chr. wurde von den Athenern die Losung der Archonten (griechisch: ἄρχοντες [archontes]) aus von den Demen (Gemeinden) jeweils für eine Phyle vorgewählten Kandidaten (πρόκριτοι [prokritoi]) eingeführt (Aristoteles, Athenaion Politeia 22, 5). Seit 457 v. Chr. konnten nicht nur Angehörige der 1. und 2. Vermögensklasse – Fünfhundertscheffler (πεντακοσιομέδιμνοι) und Reiter (ἱππείς) -, sondern auch der 3. Vermögensklasse – Zeugiten (ζευγῖται) - Archonten werden.

http://stupor.heimat.eu/GeschichteLk/Athen.gif

Der Rat der 500 bestand aus je 50 Mitgliedern der 10 von Kleisthenes eingerichteten Phylen, wobei die Ratsmitglieder aus den einzelnen Demen (lokalen Untereinheiten) entsprechend ihrer Größe kamen. Mitglieder des Rates konnten Bürger über 30 Jahre werden.

Spätestens seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurden die Ratsmitglieder des Rates der 500 durch Los 1 Jahr lang Mitglied. Spätestens im 4. Jahrhundert wurde die Ratsmitgliedschaft eines Bürgers auf ingesamt höchstens 2 Jahre beschränkt, wobei dies nicht direkt hintereinander sein sollte (einerseits Rücksichtnahme auf die große Arbeitsbelastung als Ratsmitglied, andererseits Verhinderung einer persönlichen Machtstellung).

Je 1/10 des Jahres waren 50 Ratsmitglieder einer Phyle der geschäftsführende Ausschuß. Diese Ratsherren wurden Prytanen (πρυτάνεις [prytaneis]; Singular: πρύτανις [prytanis]; »Vorsteher«) genannt. Die Leitung hatte unter ihnen täglich wechselnd ein Vorsitzender (ἐπιστάτης [epistates]). Er hatte auch den Vorsitz des Rates und der Volksversammlung. Im 4. Jahrhundert v. Chr. hat es in einer Änderung aus den anderen Phylen 9 Vorsitzende (πρόεδροι [prohedroi]; Singular: πρόεδρος [prohedros]) gegeben und unter ihnen einen Vorsitzenden (ἐπιστάτης [epistates]), der die Sitzungen des Rates und Volksversammlung leitete.

Der geschäftsführende Ratsausschuß rief den Rat der 500 und die Volksversammlung zusammen und setzte die Tagesordnung fest. Er trat täglich außer an Festtagen zusmamen. Der Rat der 500 hat einen Vorbeschluß (προβούλευμα [probouleuma]) als Vorlage ausgearbeitet. Ihm wurden Wünsche und Anträge übermittelt.

Der Rat der 500 übte Aufsicht und Kontrolle aus und hatte so eine Mitwirkung an der Verwaltung (Überwachung der Arbeit zahlreicher Ausschüsse mit besonderen Aufgaben, deren Mitglieder er auch oft stellte, Aufsicht über Finanzen der Gemeinde und der Heiligtümer; Kriegsflotte/Schiffsausrüstung, Reiterei und ihre Pferde, Preise am Fest der Panathenaia, öffentliche Bauten, Versorgung der Invaliden, die staatlichen Unterhalt erhielten). Der Rat der 500 hatte gerichtliche Funktionen, besonders in Fällen, die Beamte oder öffentliche Aufgaben privater Bürger betrafen, war an der Einleitung von öffentlichen Klagen bei bedeutenden Vergehen gegen den Staat beteiligt, und überprüfte die Amtstauglichkeit (das Prüfungsverfahren hieß δοκιμασία [dokimasia]) der Anwärter für den Rat des folgenden Jahres.

Der Rat der 500 trug stark zur politischen Entscheidungsfähigkeit der Volksversammlung bei, aber ohne wichtige Angelegenheiten zu entscheiden und ohne letzte Instanz zu sein.

Die große Rolle des Losverfahrens ist Ausdruck der Wertschätzung von Gleichheit als demokratisches Prinzip. Dem athenischen Volk war politische Teilhabe (Partizipation) sehr wichtig.

In der athenischen Demokratie hat es (eine Einführung von Zahlungen gegeben, die auch Ärmeren besser eine Beteiligung ermöglichten: Tagegelder für Geschworene in Volksgerichten, Mitglieder des Rates der 500 und etliche Amtsinhaber, eine μισθός (misthos [Lohn, Besoldung]) genannte finanzielle Aufwandsentschädigung (heute wird so etwas „Diäten“ genannt) und wohl auch Einrichtung einer Schaugelderkasse (θεωρικόν [theorikon]) zur Teilnahme an den Theateraufführungen während des dreitägigen Staatsfestes der Großen Dionysien (in den antiken Quellen gibt es auch Aussagen über eine Einführung in späterer Zeit ducrh andere Politiker).

In Bibliotheken gibt es Bücher zum Thema, z. B.:

Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie. 2., völlig überarbeitete und wesentlich erweiterte Auflage. Paderborn ; München ; Wien ; Zürich : Schöningh, 1994. ISBN 978-3-506-71901-0

S. 45: „Mit einiger Sicherheit läßt sich feststellen, daß der Areopag 462/61 die Überprüfung der Qualifikation (Dokimasie) der Beamten, insbesondere der damals noch einflußreichen Archonten, die allgemeine Aufsicht über sie durch Anklagen, die er bei Verdacht von Unregelmäßigkeiten von sich aus oder auf Antrag von Privatpersonen erheben konnte, und auch die Prüfung der Amtsführung nach dem Amt (Euthynie) verloren hat. Dokimasie und Euthynie sowie gegebenenfalls Anklagen bei Verdacht von politischen Stzraftaten wurden später jedenfalls in besonderen, systematisierten Verfahren von Rat, Volksversammlung und Geschworenengerichten sowie von Spezialbeamten wahrgenommen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß zumindest die groben Umrisse der späteren Ordnung z. Zt. von Ephialtes errichtet wurden. Damit war dem Areopag die Kontrolle über die Exekutive entzogen und auf die zentralen Masseninstitutionen, letztlich auf die Geschworenengerichte, übertragen worden."

S. 191: „Mit seiner Entmachtung im Jahre 462/61 […] verlor der Areopag an politischer Bedeutung, genoß aber sowohl wegen seines Alters als auch deswegen, weil ihm ein Teil der Gerichtsbarkeit über kriminelle Deliktbestände, auf die die Todestrafe stand, gelassen worden war, hohes Ansehen. Er urteilte über Mord, insbesondere Giftmord, ferner über Körperverletzung mit Tötungsabsicht und gefährlcihe Brandstiftung. Darüber hinaus waren ihm manche sakrale Obliegenheiten, wie die Sorge um die heiligen Ölbäume geblieben."

Angela Pabst, Die athenische Demokratie. Originalausgabe. 2., aktualisierte Auflage. München : Beck, 2010 (Beck'sche Reihe ; 2308 : C. H. Beck Wissen). ISBN 978-3-406-48008-9

Peter J. Rhodes, Areios pagos. In: Der neue Pauly (DNP) : Enzyklopädie der Antike ; Altertum. Band 1: A - Ari. Stuttgart ; Weimar, Metzler, 1996, Spalte 1043 – 1045

Spalte 1043 - 1044: „Zur Zeit Solons hatte er eine gewisse Gerichtsbarkeit erworben, bes. in Mordfällen. Vielleicht bildete er auch das Gremium, das die dokimasía durchführte, um die Qualifikation der Beamten bei der Bestellung zu prüfen, und ebenso die euthýna, die Prüfung ihres Verhaltens am Ende ihrer Dienstzeit. Seine Beschreibung als Wächter des Staates oder der Gesetze spiegelt die machtvolle Stellung des A. im frühen Athen wider und mag als Grundlage einer Erweiterung seiner Macht genutzt worden sein. Solon verlieh oder bestätigte ihm das Recht, → eisangelíai zu verhandeln, Anklagen wegen gewichtiger Verbrechen gegen den Staat (Aristot. Ath. Pol. 8, 4).“

bes. = besonders  

A. = Areios pagos/Areopag  

Aristot. Ath. Pol. = Aristoteles, Athenaion Politeia

Spalte 1044: „→ Ephialtes soll dem A. die richterlichen Befugnisse entzogen haben, die ihn zum Wächter des Staates machten. Dazu gehörten vermutlich die Behandlung der eisangelíai (falls sie ihm nicht schon früher entzogen worden war), die dokimasía und euthýna. Er behielt das Recht, in Fällen von Totschlag, Körperverletzung und Brandstiftung sowie in einigen rel. Rechtsfällen zu verhandeln.“

A. = Areios pagos/Areopag  

rel. = religiösen

Michael Stahl, Gesellschaft und Staat bei den Griechen: Klassische Zeit. Paderborn ; München ; Wien ; Zürich : Schöningh, 2003 (UTB : Geschichte ; 2431). ISBN 978-3-8252-2431-8 (UTB). ISBN 978-3-506-99001-3 (Schöningh)

Karl-Wilhelm Welwei, Athen : von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus. Einbändige Sonderausgabe, 2., bibliographisch aktualisierte und mit einem neuen Vorwort versehene Auflage der Bände "Athen", 1992, und "Das klassische Athen", 1999. Darmstadt : Primus, 2011. ISBN 978-3-89678-731-6

7taif7 
Fragesteller
 28.01.2018, 11:53

Danke, diese Antwort hat mir sehr weitergeholfen.

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Recherchier nochmal genau zum Areopag. Der "Sturz" durch Ephialtes bedeutete keineswegs eine Abschaffung, sondern in erster Linie, dass dem Areopag die Aufsicht über die Beamten (Dokimasie = "Eignungsprüfung" und Euthynie ="Prüfung der Amtsführung nach Abschluss, Rechenschaftsabnahme") entzogen wurde. Damit hatte der Areopag keine Aufsicht mehr über die Exekutive. Die Tendenz geht also im Rückblick mit modernen Begriffen in Richtung Gewaltenteilung (was anachronistisch ausgedrückt ist; den Athenern selbst ging es nicht um Gewaltenteilung, sondern um die Einschränkung des Einflusses des Adels auf die Politik ).

Wenn es Dir so wichtig ist, dass der Areopag nicht zu sehen ist, kannst Du ja auch ein Schema abändern, das ansonsten zutrifft, indem Du einfach den Areopag überdeckst. Wenn das Schema tatsächlich zutreffend ist, sollten dabei ja keine Pfeile zwischen demokratischen Institutionen und Areopag vorhanden sein.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Studium der Klassischen Philologie
7taif7 
Fragesteller
 28.01.2018, 11:53

Danke, diese Antwort hat mir sehr weitergeholfen.

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