Aktualitätsbezug zum Roman Irrungen Wirrungen (von Fontane)?

2 Antworten

Um 1850 hatten sich die Klassengesellschaft und die Fürstenherrschaft weiter behauptet, man begann sich in der Literatur mit diesen unabweisbaren Gegebenheiten abzufinden und sich innerhalb der Klassengesellschaft einzurichten bzw. die Schriftsteller stellten dies dar. Dieses Resignieren und Sich-abfinden mit den realen Gegebenheiten ist das Hauptthema des Romans „Irrungen, Wirrungen“.

 Die Geschichte spielt im Berlin der 1870er Jahre. Die hübsche und pflichtbewusste Lene wohnt mit ihrer alten Pflegemutter Nimptsch in einem kleinen Häuschen. Bei einer Bootspartie lernt sie den Baron Botho von Rienäcker kennen. Im Gegensatz zu Botho, der von einer heimlichen Mesalliance mit dem natürlichen und heiteren Mädchen träumt, ist Lene „realistisch“ genug, ihrer Liebe auf die Dauer keine Zukunft zu geben. Nach mehreren gemeinsamen Treffen wird der Baron eines Tages brieflich zu einer Unterredung mit seinem Onkel Kurt von Osten bestellt. Dieser erinnert ihn daran, dass Botho seiner reichen Cousine Käthe von Sellenthin so gut wie versprochen sei. Allmählich merken Lene und der Baron, dass es ihnen aufgrund des vorhandenen Standesunterschieds in der Öffentlichkeit unmöglich ist, weiter einen natürlichen Umgang miteinander zu pflegen. Als Botho bald darauf einen Brief seiner Mutter erhält, in dem sie die prekäre Finanzlage der Familie bemängelt und Abhilfe durch Bothos Heirat mit seiner reichen Cousine empfiehlt, resigniert Botho und trennt sich von Lene. Er muss erkennen, „dass das Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zugrunde gehn, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht.“

Hier wird das Motiv des Resignierens vor der übermächtigen „Realität“ der Standesstrukturen deutlich. Der Held will nicht, wie ein Romantiker, gegen diese Gegebenheiten ankämpfen oder in eine andere, heile Welt flüchten (in die Natur z.B.) oder sich auf die Suche nach ihr durch Wanderschaft begeben, sondern er richtet sich mit den Verhältnissen ein. Nicht dass er sie gut heißt, aber er meint, es sei besser, sich der Ordnung der Klassengesellschaft (dem „Herkommen“) zu unterwerfen, als dagegen anzukämpfen. Im letzteren Falle gehe man auf jeden Fall zu Grunde.

Lene, die diese Entwicklung von Anfang an kommen sah, hat Verständnis für Bothos Entschluss, entsagt seiner und ergibt sich ihrem Schicksal. Botho heiratet die lebenslustige, recht oberflächliche Käthe und führt seitdem eine zwar wenig leidenschaftliche, doch zufriedene konventionelle Ehe. Als Lene ihren ehemaligen Geliebten später einmal zufällig von weitem auf der Straße sieht, beschließt sie, in ein anderes Stadtviertel umzuziehen. In ihrer neuen Umgebung lernt Lene den schon etwas in die Jahre gekommenen Fabrikmeister Gideon Franke kennen. Als dieser ihr einen Heiratsantrag macht, fühlt Lene sich verpflichtet, ihm von ihrem Vorleben zu erzählen. Gideon ist geneigt, über diese Vorgeschichte hinwegzusehen, sucht aber dennoch Botho in dessen Wohnung auf, um sich von der Beziehung zu Lene erzählen zu lassen. So erfährt der Baron erneut von Lene und auch davon, dass die von ihm verehrte alte Nimptsch inzwischen gestorben ist. Von alten Erinnerungen aufgewühlt verbrennt er Lenes Briefe. Doch dies kann seine Sehnsucht nach seiner ehemaligen Geliebten nicht auslöschen. Anlässlich der Hochzeitsanzeige von Lene und Gideon Franke in der Zeitung gesteht sich Botho am Schluss des Romans ein: „Gideon ist besser als Botho.“

Auch hier wird ein typisches Motiv des Realismus deutlich, das der Entsagung. Bodo liebt zwar Lene immer noch, aber der Kampf um diese Liebe ist aussichtslos, nicht nur wegen der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch weil die finanziellen Erfordernisse der in Geldnot befindlichen Adelsfamilie ihm keine andere Wahl lassen. Bodo muss seiner Liebe entsagen. Die Realität der Umstände (Klassenunterschied, Zwang, eine reiche Cousine zu heiraten) ist übermächtig.

 Soweit die Situation in der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts. Ähnelt die Problematik der heutigen Zeit?

Cum grano salis: ja! Auch heute haben sich Gesellschaftsstrukturen herausgebildet, die man mit den damaligen Strukturen der Klassengesellschaft in etwa vergleichen kann. Nicht mehr steht der Block der Adligen dem Bürgertum bzw. der Arbeiterschaft (Proletariat) abgeschlossen gegenüber, sondern es hat sich eine Oberschicht herausgebildet, die der Gut-Verdienenden. Ihr steht die breite Schicht der nur „prekär“ Verdienenden bzw. der Hartz-IV-Empfänger gegenüber. Ein Gut-Verdienender geht  im allgemeinen höchst ungern eine Ehe mit jemandem ein, der / die wenig verdient (denn bei einer Scheidung muss der Gut-Verdienende - gemäß den heutigen Ehegesetzen - viel Geld an die Schlecht-Verdienende abdrücken). So heiratet ein Rechtsanwalt wahrscheinlich lieber eine Ärztin oder eine Kollegin oder eine Architektin. Nun kann es aber passieren, dass ein gut situierter Mann sich in eine - sagen wir -  Sozialarbeiterin oder Pflegekraft oder gar in eine Hartz-IV-Empfängerin verliebt und mit ihr eine Beziehung eingeht (im Unterschied zu damals auch eine sexuelle Beziehung). Man kann sich vorstellen, dass die Frau (vor allem wenn sie nicht sehr gebildet ist) in die Familie und den Kollegen- und Freundeskreis des Mannes nicht gut hineinpasst und deshalb stark verunsichert ist bzw. Probleme macht. Auch wird auf den Mann seitens seiner Familie eventuell Druck ausgeübt, sich besser mit einer vermögenden und gut verdienenden Frau zusammenzutun, um den geforderten bzw. gewünschten hohen Lebensstandard zu sichern bzw. noch zu steigern, ein Standard, welcher durch die nur wenig verdienende Freundin im Falle einer Trennung (hoher Unterhalt für eventuelle Kinder und die erziehende Mutter), erst recht aber im Falle einer Scheidung gefährdet wäre. Die beiden Liebenden würden eventuell diese Probleme miteinander besprechen, die Frau würde auf die Schwierigkeiten hinweisen, die auf ihre Ehe zukämen (sie müsste bei der Familie vergeblich um Anerkennung kämpfen, die Freunde des Mannes würden sich vielleicht abwenden, man landete u.U. sogar in der Isolation). So käme man vielleicht überein, sich besser zu trennen, als so eine schwierige und wahrscheinlich zum Scheitern verurteilte Ehe einzugehen.

Die Beziehung bzw. Ehe mit einem Partner von niederem gesellschaftlichem Stand (vlg. früher: morganatische Ehe) ist doch noch aktuell? 

mzollstock 
Fragesteller
 17.11.2019, 18:41

Aber in dem roman haben sich sich ja getrennt weil der stand nicht der gleiche war... also ist das doch etwas anderes oder?

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achwiegutdass  17.11.2019, 18:48
@mzollstock

Aber es geht doch um dasselbe Problem: ist eine solche Beziehung heute möglich oder nicht?

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