Inzest: Abneigung kulturell oder biologisch bedingt?

Das Ergebnis basiert auf 28 Abstimmungen

(eher) biologisch 57%
(eher) kulturell 43%

12 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Sowohl als auch. Es gilt heute als erwiesen, dass es eine angeborene Inzucht-Hemmung gibt, nicht nur beim Menschen, auch bei anderen Tieren. Aus genetischer Sicht birgt Inzucht ein hohes Risiko. Einerseits kommt es dabei immer weniger zu einer "Durchmischung" (Rekombination) von Allelen, sodass die genetische Vielfalt stark abnimmt, wodurch die Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Umweltbedingungen kleiner wird. Andererseits wird durch die ständige Neukombination der immer gleichen Allele der Homozygotiegrad gefördert (homozygot bedeutet, dass ein Individuum auf den homologen Chromosomen jeweils die gleiche Variante (Allel) eines Gens besitzt). Viele Erbkrankheiten werden rezessiv vererbt, d. h. sie treten nur dann phänotypisch in Erscheinung, wenn ein Individuum homozygoter Träger des krank machenden Allels ist. Heterozygote Träger hingegen besitzen neben der "krank machenden" Variante noch ein "gesundes" Allels, das die Wirkung des krank machenden Allels unterdrückt, deshalb sind sie phänotypisch gesund. Ein hoher Homozygotiegrad fördert daher das Auftreten von schweren Erbkrankheiten, es kommt zur so genannten Inzuchtdepression. Das erkennt man besonders an stark geschrumpften und hoch isolierten Populationen, in denen Inzucht quasi unvermeidlich ist. So traten beispielsweise beim Florida-Panther, einer stark bedrohten Population des Pumas (Puma concolor) überdurchschnittlich viele Knickschwänze auf und die Jungtiersterblichkeit war als Folge durch die Inzucht stark gestiegen. Erst durch eine genetische Rettung (genetic rescuing) konnte die Vitalität des Florida-Panthers erhöht werden, indem man Mitte der 1990er Jahre einige Pumas aus Texas nach Florida brachte und so "frisches Blut" in die Population brachte. Seitdem haben viel weniger Tiere einen Knickschwanz und die Jungtiersterblichkeit ist nicht mehr so hoch wie früher.

Die meisten Tiere vermeiden Inzucht durch das Dispersal. Als Dispersal bezeichnet man das Abwandern der Individuen mit Erreichen der Geschlechtsreife von ihrem Geburtsort. Das Dispersalverhalten ist tierartlich sehr unterschiedlich ausgeprägt. Manchmal wandern beide Geschlechter ab (z. B. beim Wolf, Canis lupus und bei Orang-Utans, Pongo sp.), manchmal nur die Männchen (z. B. Löwen, Panthera leo und Hyänen, Crocuta crocuta) und manchmal nur die Weibchen (z. B. Schimpansen, Pan paniscus und Bonobos, Pan troglodytes).
Aber auch bei hochsozialen Tierarten, bei denen beide Geschlechter Teil der Geburtsgruppe bleiben, wo also keine Individuen abwandern, wird oft eine natürliche Inzucht-Hemmung beobachtet, z. B. bei Pavianen (Papio sp.). Dafür ist es natürlich notwendig, dass die Tiere "erkennen" können müssen, wer in der Gruppe eigentlich ein Verwandter ist und wer nicht.

Wie Tiere einen Verwandten erkennen, ist bis heute noch nicht ganz eindeutig klar.
Möglich ist, dass Vertrautheit eine Ursache für das Erkennen von Verwandten ist. Wenn zwei Individuen miteinander von Kleinauf gemeinsam aufwachsen, könnte das zu einer gewissen Prägung und zu einer späteren Abneigung führen. Die Verwandtschaft muss dabei dann auch nicht zwingend biologischer (d. h. genetischer) Natur sein, sondern es reicht dann schon aus, wenn sich die Individuen sozial als Verwandte betrachten. In Zoos hat man z. B. oft beobachtet, dass Tiere häufig nur schwer züchten, wenn sie sehr jung (d. h. noch vor der eigentlichen Geschlechtsreife) miteinander vergesellschaftet werden. Es könnte sein, dass sie sich dann gewissermaßen aneinander gewöhnen und einander als Geschwister betrachten (obwohl sie ja eigentlich nicht miteinander verwandt sind). Auch für viele Menschen ist es z. B. unvorstellbar, etwas mit der langjährigen Sandkastenfreundin oder dem Sandkastenfreund aufzuwachsen. Möglich wäre auch hier, dass beste FreundInnen in diesem Fall schon als kleine Kinder aufeinander geprägt werden und weil sie quasi wie Geschwister miteinander aufwachsen und einander vertraut sind, verhalten sie sich dann später auch wie Geschwister. Auf der anderen Seite fällt die natürliche Inzest-Hemmung oftmals genau dann, wenn zwei Geschwister nicht miteinander aufachsen, sondern sich erst als Erwachsene begegnen und dann gewissermaßen nie "gelernt" haben, dass sie Geschwister sind. Man spricht in diesem Zusammenhang häufig auch vom so genannten Westermarck-Effekt.
Beim Menschen wurde der Westermarck-Effekt u. a. in einer Studie von A. P. Wolf im Jahr 1995 belegt. Er hatte Familien eine alte chinesische Tradition untersucht, bei der Familien Mädchen adoptierten, die später mit ihren biologischen Söhnen verheiratet wurden und hatte dabei festgestellt, dass die Scheidungsrate deutlich erhöht war. Der Westermarck-Effekt hatte auch Einfluss auf die Fruchtbarkeitsrate, denn die zwangsverheirateten Paare hatten auch weniger Nachkommen als normale Paare.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass beim Erkennen von Verwandten das Abgleichen phänotypischer Muster (phenotype matching) eine Rolle spielen könnte. Wir alle kennen das ja, dass Kinder ihren Eltern oft sehr ähnlich sehen (ein literarisches Beispiel: Harry Potter hat das Gesicht seines Vaters, aber die Augen seiner Mutter) und auch Geschwister häufig gemeinsame Merkmale haben. Oder anders ausgedrückt: an der Nase des Mannes erkennt man seinen ... Vater! ;-)
Bei Rhesusaffen (Macaca mulatta) wurde nachgewiesen, dass Weibchen ihre Schwestern väterlicherseits anhand ihrer Rufe akkustisch von nichtverwandten Weibchen unterscheiden können, indem sie häufiger auf abgespielte Playbacks von verwandten Weibchen reagierten. Um nachzuweisen, dass die Erkennung auf dem Vergleichen des (in diesem Fall akkustischen) Phänotyps beruht, muss man aber immer auch die Vertrautheit als mögliche Ursache ausschließen. Im Fall der Rhesusaffen zeigte sich, dass Vertrautheit keinen Einfluss auf die Reaktion auf einen abgespielten Ruf hatte. Vertrautheit meint hier, dass ein Weibchen im gleichen Geburtsjahr geboren wurde und/oder in der gleichen Gruppe aufwuchs, also ein "sozialer", aber eben kein "biologischer" Verwandter war.
Andere Studien deuten darauf hin, dass Rhesusaffen einander auch optisch anhand ihrer Gesichter als Verwandte erkennen können. Möglicherweise spielt sogar die geruchliche (olfaktorische) Erkennung unter Verwandten eine Rolle. Letzteres wurde u. a. bei Belding-Zieseln (Urocitellus beldingi) nachgewiesen.

Beim Menschen ist das Inzest-Tabu aber v. a. auch kulturell verankert. In vielen Kulturen besteht ein moralisches Inzest-Tabu, in nicht wenigen ist es auch gesetzlich verankert (darunter bislang auch in Deutschland durch den so genannten "Inzestparagraph" § 173, StGB). Das hat die Menschen aber freilich nicht davon abgehalten, das Inzest-Tabu zu umgehen, wenn es andere Interessen gefährdete. In den europäischen Königshäusern wurde Inzest über viele Jahrhunderte hinweg nicht nur toleriert, sondern war geradezu üblich. Um den Einfluss, die Macht und den Reichtum zu erhalten, heirateten die verschiedenen Adelshäuser munter untereinander, aber bloß nicht mit Angehörigen niederen Standes. Die negativen Folgen dieses Inzests wurden billigend in Kauf genommen, denn dass in den europäischen Königshäusern viele Erbkrankheiten wie z. B. die Rot-Grün-Sehschwäche oder die Bluterkrankheit gehäuft auftreten, ist kein Geheimnis.

Das Inzesttabu wird allgemein damit begründet, dass es die Gefahr von Erbschädenverhindern soll (siehe: erster Absatz oben). Es gibt aber auch kritische Stimmen, die eher das Aufkommen von (Hoch)kultur als Ursache für das Aufstellen von Inzestverboten sehen. Bedeutendster Vertreter dieser Hypothese war der Ethnologe Claude Lévy-Strauss.
Ihm zufolge könne das Inzest-Tabu nicht die Ursache in der Verhinderung von Erbschäden sein, da erstens das Wissen um die genetischen Risiken erst seit Kurzem besteht, Inzest-Verbote hingegen bestehen schon seit Jahrtausenden. Zweitens schaffe erst das Inzest-Verbot selbst die Gefahr durch Erbschäden. Was Lévy-Strauss damit meint, ist der so genannte Purging-Effekt. Da die schädlichen Allele die Überlebensfähigkeit eines Individuums herabsetzen, werden sie durch die natürliche Selektion nach und nach aus dem Genpool aussortiert. "Übrig" bleiben dann nur noch die Individuen, die gesunde Allele besitzen. Purging wird von einigen (aber nicht allen) Naturschutzbiologen deshalb als eine probate Möglichkeit gesehen, wie stark vom Aussterben bedrohte Populationen genetisch gesund gehalten werden können. Die Mehrheit der Biologen ist aber überzeugt, dass die Risiken der Inzuchtdepression den Nutzen des Purgings weit übersteigen und halten Inzucht deshalb für ein Mittel, das wirklich nur dann in Kauf genommen werden sollte, wenn es sich nicht anders vermeiden lässt (weil beispielsweise die Population schon so stark geschrumpft ist, dass gar nichts anderes mehr übrig bleibt als verwandte Individuen zu verpaaren).
Auch Lévy-Strauss' erster Einwand ist jedoch nicht unangreifbar. Er übersieht, dass man nicht alles wissen muss, um etwas trotzdem nutzen zu können, dass viele Dinge intuitiv geschehen. Wir haben gesehen, dass Inzucht-Vermeidung auch im Tierreich vorkommt und die Tiere wissen ganz bestimmt nichts über Gene, Vererbung, DNA und Verwandtschaft. Sie verhalten sich ganz einfach intuitiv richtig, weil die Evolution Verhalten, das die Verpaarung mit Verwandten verimieden hat, ganz einfach gefördert hat. Zu argumentieren, das Inzest-Tabu sei nicht zur Inzuchtdepressionvermeidung entstanden, weil man erst seit kurzer Zeit über Vererbung und Erbschäden das notwendige Wissen hat, wäre in etwa so als behaupte man, der Mensch habe das Feuer nicht genutzt, um sich zu wärmen, weil ihm die chemischen Prinzipien der Verbrennung nicht bekannt gewesen seien. Ein Steinzeitmensch muss ja aber nicht wissen, dass das brennbare Material eine stark exotherme Reaktion mit Sauerstoff eingeht - es reicht schon aus, dass das Feuer an sich für die Menschen vorteilhaft war und dass der Mensch erkannte, wie ein Feuer gemacht werden kann.
Trotzdem liefert Lévy-Strauss wertvolle Ideen, die gleichsam nicht von der Hand zu weisen sind - Verhalten hat ja oftmals nicht nur eine Ursache, sondern mehrere, die eng miteinander verknüpft sein können. Somit kann das Inzest-Tabu also auch noch aus weiteren Gründen entstanden sein. Lévy-Strauss meint beispielsweise, das Inzest-Tabu habe die Entstehung exogener Ehen (also zwischen Nichtverwandten) gefördert und damit zur Kooperation in der Gruppe zwischen Nichtverwandten beigetragen, was letzten Endes die Entwicklung der modernen Gesellschaften, Staaten und Hochkulturen erst ermöglicht habe.

Aus heutiger Sicht ist das Inzest-Tabu veraltet. In immer mehr westlichen Staaten wird das gesetzliche Inzest-Verbot aufgehoben, in Europa z. B. in Spanien, den Niederlanden und in Frankreich. Auch in Deutschland gab es schon Bestrebungen, zumindest zwischen Geschwistern die Strafbarkeit von Inzest aufzuheben, so plädiert beispielsweise auch der Deutsche Ethikrat für die Streichung des entsprechenden Abschnitts auf dem § 173. Demzufolge sollte das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung höher bewertet werden als die angeblichen Risiken für das Kind und der "gesellschaftliche Schaden", die mit Inzest verbunden seien. Man darf nicht vergessen, dass es mit den heutigen Methoden der Pränataldiagnostik möglich ist, mögliche Gendefekte frühzeitig zu erkennen. Man muss sich auch die Frage stellen, ob Inzest überhaupt ein gesellschaftliches Problem von Relevanz ist. In den allermeisten Fällen greift ja ohnehin die natürliche Inzest-Hemmung und man muss davon ausgehen, dass nach einer Entkriminalisierung ganz gewiss die Häufigkeit inzestuöser Beziehungen nicht sprunghaft ansteigen wird. Außerdem dürfen Nichtverwandte, bei denen dennoch ein erhöhtes Vererbungsrisiko genetischer Krankheiten besteht (z. B. Eltern eines an Trisomie 21 leidenden Kindes), ja ebenfalls selbst bestimmen, ob sie (weitere) Kinder bekommen möchten oder nicht. Nicht zuletzt ist das Gesetz ein zahnloses Gesetz, da es nur den Beischlaf (d. h. den Vaginalverkehr) verbietet, nicht jedoch die eigentliche Zeugung (zwei Geschwister könnten beispielsweise völlig legal durch künstliche Befruchtung ein Kind miteinander bekommen). Eine Mehrheit im Parlament haben Vorstöße zur Entkriminalisierun von Inzest bislang jedoch nicht finden können.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

GebildeterUser 
Fragesteller
 11.10.2021, 15:42

Vielen Dank für diese ausführliche Antwort!

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Eher psychologisch.

besonders bei Bruder-Schwester-Beziehungen spielt der sogenennte Westermarck-effekt eine große Rolle.

Der Westermarck-Effekt besagt, dass zwei Menschen, unabhängig davon, ob sie miteinander verwandt sind oder nicht, sich später als nicht sexuell anziehend empfinden, wenn sie längere Zeit in großer Nähe zueinander aufgewachsen sind.[1] Der evolutionäre Sinn des Effekts läge darin, Inzucht zwischen Geschwistern – die häufig einen großen Teil der Kindheit miteinander verbringen – zu vermeiden. Die Exogamie biete einen biologischen Selektionsvorteil, es handle sich um kein kulturelles Phänomen. (Wikipedia)


eciruam100  11.10.2021, 11:40

Also biologisch. alles was du schreibst bezieht sich auf die Biologie. Psychologie ist nämlich Biologie.

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ulrich1919  11.10.2021, 11:41
@eciruam100
Psychologie ist nämlich Biologie.

Na ja, das ist Deine Meinung. Die Fachleute sehen das anders . . .

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(eher) biologisch

Hallo,

klar uns Menschen wird das anerzogen, war auch schon in der Frühzeit so - also kulturell.
Allerdings ist es in der Tierwelt auch so, dass sich Verwandte kaum miteinander paaren (Ausnahmen gibt es ja immer!)

Deshalb gehe ich schon von dem biologischem Grund aus.

Grüße aus Leipzig


Juvianne879  11.10.2021, 10:39

Wie kommst du denn auf die Idee das verwandte Tiere sich nicht paaren? Das ist so nicht richtig.

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AlterLeipziger  11.10.2021, 11:03
@Juvianne879

Richtig lesen: ...kaum...

Das ist meistens nur dann der Fall, wenn sie keinen Raum haben. Ansonsten gehen sie ja weite Wege...

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(eher) biologisch

Es ist halt einfach ziemlich gefährlich, zumindest wenn dabei die Gefahr einer Schwangerschaft steht, da Erbkrankheiten viel häufiger auftreten je näher man verwandt ist. Aber solange es keine leiblichen Geschwister, oder andere direkte Verwandte sind, sondern beispielsweise Cousin/Cousine oder ähnliches werden vielleicht paar seltsame Blicke kommen, aber wer dann nen blöden Kommentar gibt hat einfach keine Ahnung.

wenn sie aus schamidiotischen gruenden die Verwandtschaftsgeziehungen mit Dorfgeschwaetz verdrehen, passierte das schneller als man denkt. da braucht man nichtmal erst widernatuerlich eine Bruecke zu bauen? ich kann DAS echt! bestaetigen?!!? aber ein Kind mit 40 mit Down-Syndrom zum Kompensieren dann oder eine statistische Eliten-Partner-Selektion und Werbeansiedlung sei auch ein leichtes Ungleichgewicht?Risiko wie Spaetschwangerschaft wohl aehnlich, ohne provozieren zu wollen direkt, mit 45 wie mit Schwester?! Selbst Monogamie ist nicht 100 Prozent die Balance der Natur, wenn auch pragmatisch eine gute als noch Balancierung? Die Risiken kaemen selten zum Tragen, aber es kommt selten zu dummen rezessiven Einzelfaellen und leichten Reibereien wohl?!? Recuerdos de la Querbach realtivitiva merda surrealis frontiera idiotia chiatteria lala dinkewinke ici 1 minuta andare piccolo villagio stabilo sano in Lara despito come junkyardo media n ausdia amnesia? stella fallite Bella villagio piccolo usita elecita della sano mentale vita?


MythosAetsch  21.09.2022, 00:09

jetzt nimer mehr, vorher durchaus

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