Es ist eine Selbstgeißelung, die Tatbir heißt:

Tatbīr [...] ist ein Trauerritus, der von einigen Zwölfer-Schiiten am Aschura-Tag am 10. Muharram und am Arba'in-Tag ausgeübt wird. Der traditionelle Ritus beinhaltet, dass man sich weiße Kleidung anzieht und mit einem scharfen Gegenstand selbst am Kopf, Rücken und Brust verletzt oder derart geißelt, dass Blut fließt. Mit diesem Ritus gedenkt man der Schlacht von Kerbela, bei der Prophetenenkel Husain ibn ʿAlī und seine Gefährten und nahen Verwandten durch die Truppen des umayyadischen Herrschers Yazid I. den Märtyrertod erlitten. [Wikipedia]

Hintergrund ist die Schlacht von Karbala:

In der Schlacht von Kerbela, die am 10. Oktober 680 beim zentralirakischen Kerbela stattfand, wurde der Prophetenenkel Hussein getötet. Mit dieser Schlacht war die schiitische Hoffnung, ihren dritten Imam anstelle von Yazid I. als Kalifen, als Oberhaupt der islamischen Gemeinde, einzusetzen, gescheitert. In der islamischen Geschichte nach der Schia steht die Schlacht von Kerbela symbolisch für den Kampf zwischen „Gut und Böse“ – „Unterdrückte gegen Unterdrücker“ – und gilt als einer der tragischsten Vorfälle für die Schiiten. [Wikipedia]

Es gibt Gelehrte, die Tatbir für falsch halten. Ayatollah Sistani sagt:

„[...] Also müssen Handlungen, die nicht verständlich sind und Missverständnisse und Missachtung der Religion verursachen, vermieden werden.“ [Wikipedia]

Ayatollah Sadegh Husseini Schirasi sieht es als erlaubt an:

„Tatbir ist an Arba'in, Fatimiyah und anderen traurigen Anlässen erlaubt, obwohl es besser ist, Tatbir als ein Ritual nur für Ashura alleine zu halten.“ [Wikipedia]

Nachfolgend ist der historische Hintergrund beschrieben:

«Während der zehn Tage des Moharrem ist die ganze Nation in Trauer. Der König, die Minister, die Beamten tragen Schwarz oder Grau. Fast jedermann hält es ebenso. Aber das Volk begnügt sich nicht mit dieser regelgerechten Trauer. Das Hemd, das bei den Persern nicht nach europäischer oder arabischer Weise in der Mitte der Brust, sondern auf der rechten Seite geschlossen wird, muß offen sein, so daß es die Haut frei läßt. Es ist dies ein Zeichen großen Kummers, und man sieht die Maultiertreiber, die Soldaten, die Ferraschs [Lakaien] den Dolch an der Seite, die Mütze auf dem Kopf, so mit offenem Hemd und nackter Brust herumlaufen. Ihre rechte Hand formen sie zu einer Art Schale und schlagen sich damit heftig und im Takt unter die linke Schulter. Das bringt ein dumpfes Geräusch hervor, das, wenn es von vielen Händen erzeugt wird, auf große Entfernung zu hören ist und einen großen Eindruck macht. So begleiten die Bruderschaften ihre Gesänge, die unerläßlichen Zwischenspiele der Ta«ziyehs. Manchmal fallen die Schläge schwer und im Abstand und scheinen den Rhythmus träge zu machen, manchmal sind sie hastig und in schneller Folge und erregen die Zuschauer. Haben die Bruderschaften einmal begonnen, dann kommt es fast immer dahin, daß nahezu das gesamte Publikum, vor allem die Frauen, es ihnen nachtut. Auf Zeichen des Chefs der Bruderschaft singen alle Mitglieder, schlagen sich und beginnen, auf der Stelle in die Höhe zu springen, indem sie immer wieder über kürzere oder längere Zeit mit kurzer, abgehackter Stimme rufen Hasan! Husain! Hasan! Husain!» Diese Schilderung des Rituals der Brustschläger (persisch sînezan) verdanken wir dem Grafen Gobineau, der sich 1855–1858 als Diplomat in Iran aufhielt. [...] Die blutigen Rituale sind in der Regel den drei letzten Tagen der Muharram-Dekade vorbehalten; sie sind ein Privileg der jüngeren Männer, der Vereine und Bruderschaften, die so – stellvertretend für die schiitische Gemeinschaft – Buße tun und Verdienst erwerben. Neben den Kettengeißlern (persisch zandschîrzan) treten die Schwert- oder Dolchschläger (tîgh-zan) auf, die sich die Stirn blutig schlagen; dabei tragen sie weiße Totenhemden, um ihre Bereitschaft zum Martyrium zu zeigen. [...] Im Ritual der Selbstgeißelung sind Bußfertigkeit und Passionsbereitschaft unlösbar miteinander verbunden; sie machen den eigentlichen Kern der schiitischen Religiosität aus. Eigentlich ist der sündige Schiit des Todes würdig; nur sein Tod vermag seine Schuld zu löschen. In der Geißelung wird das fällige Selbstopfer ritualisiert und damit wiederholbar – und überlebbar – gemacht: der Gläubige stellt nicht nur seine Bereitschaft unter Beweis, sein Blut zu vergießen und sein Leben hinzugeben, sondern er vergießt tatsächlich einen Teil seines Blutes; ein Teil der Schuld ist damit abgebüßt, und er darf für ein Jahr weiterleben – bis zum nächsten «Âschûrâ. [Die Schiiten von Heinz Halm, 2015]
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