Mir tut es jedes Mal in der Seele weh, wenn man anderen Personen einfach vorwirft, es ginge ihnen nur um Aufmerksamkeit. Woher will man das denn wissen? Wer kam denn schon in jemanden hineinsehen? Und selbst das wäre doch auch alarmierend und müsste ernstgenommen werden und die entsprechenden Hintergründe gesucht werden.

Aber ein Trend? Ist das nicht ganz schön happig? Nehmen nicht viel mehr die Zahlen der Betroffenen immer weiter zu? Bei Erwachsenen wie Heranwachsenden nehmen psychische Erkrankungen wie Depressionen immer weiter zu. Die Einen behaupten, es wäre ein Trend geworden, eine Depression zu haben, die Nächsten würden sagen, es erkranken immer mehr Menschen an einer Depression, Tendenz steigend. Und ich denke mehr, dass inzwischen offener darüber gesprochen wird und es dadurch zusätzlich nochmal sichtbarer wird. In der Pandemie hat sich das alles auch nochmals verschlechtert, genauso wie das Holfsangebot. Es dürfte also viele Faktoren geben, warum man das vermehrt hört und das auch von Jugendlichen.

Es mag sicherlich auch Jugendliche geben, die die Begriffe noch nicht richtig zuordnen können, eben weil sie es einfach noch nicht besser wissen. Natürlich gibt es solche Fälle. Dazu muss man diese Person zunächst jedoch einmal ernst nehmen und nicht gleich davon ausgehen, dass es keine tatsächliche Depression sein kann. Sollte man nicht zunächst versuchen, herauszufinden, warum die Person sagt, sie hätte eine Depression? Womit geht es dieser Person schlecht? Dann kann gemeinsam schauen, ob eine professionelle Anlaufstelle geeignet wäre oder sich bereits herauskristallisiert, dass der Begriff nicht korrekt eingesetzt wurde. Man kann dann erklären, was eine Depression ausmacht und was eben KEINE Depression ist. Man sollte insbesondere bei Kindern und Jugendlichen bedenken, dass sie noch in der Selbstfindungsphase sind und sich erst noch zurechtzufinden lernen müssen. Hilf den Personen doch lieber zu verstehen, dass es in Ordnung ist, sich auch mal schlecht zu fühlen, dass alle Gefühle ihre Berechtigung haben und so erst einmal normal sind. Es gibt schlechte Tage und Phasen, die wieder vorbeigehen, ohne dass dabei eine Erkrankung wie eine Depression zugrunde liegt. Doch findet unbedingt gemeinsam heraus, ob eine Depression und eine professionelle Unterstützung dennoch in Frage kämen.

Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass diese Person tatsächlich nach Aufmerksamkeit sucht, sollte auch das nicht einfach abgetan werden. Dahinter steckt immerhin auch eine Ursache, die mit Sicherheit oftmals sehr ernst ist. Man sucht doch nicht grundlos derart stark nach Aufmerksamkeit. Gibt es da möglicherweise ein enormes Defizit oder ist es ein Hilfeschrei?

Statt Heranwachsende zu verurteilen und abzustempeln, sollte man versuchen, ihnen dabei zu helfen, sich zurecht zu finden. Hör ihnen zu, denn alle Gefühle, Sorgen und Probleme verdienen es, ernstgenommen zu werden. Biete ihnen konkrete Unterstützung an und stell klar, dass du für sie da bist.

Ich denke zudem auch, dass es mehr Jugendliche mit einer echten Depression gibt, die leider überhaupt nicht ernstgenommen werden (das wird schnell als Phase abgetan oder runtergespielt oder man wirft ihnen vor, nur nach Aufmerksamkeit zu suchen), als Jugendliche, die das vermeintlich nur vorgeben, um Aufmerksamkeit zu bekommen, wobei auch sie ernstgenommen werden müssen (offensichtlich liegt ja auch hier etwas zugrunde, das dieses Verhalten dann auslöst).

Eine Depression kennt kein Alter oder Geschlecht! Statistische Wahrscheinlichkeit kann dir auch nicht sagen, ob dein Gegenüber an einer Depression erkrankt ist - es kann jede/n treffen, man sieht es ihnen nicht unbedingt an und in jeder Altersgruppe gibt es Betroffene.

Und mal ehrlich: Sich lustig machen? Ich denke nicht, dass das irgendjemandes Intension ist. Das dürfte wohl eher weniger dahinterstecken. Sie wollen ernstgenommen werden und dass man ihnen zuhört und ihre Sorgen/Probleme erkennt und versteht. Selbst wenn sie keine Depression haben und das nur irrtümlich annehmen sollten, selbst dann wage ich zu bezweifeln, dass sie damit jemandem schaden wollen. Ihnen ist in dem Fall möglicherweise die Tragweite der Erkrankung nicht bewusst und sie wissen es eben nicht besser. Doch dadurch, irrtümlich zu glauben, man hätte eine Depression, macht man sich doch noch nicht lustig über jemanden mit einer Depression.

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Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, erinnere ich mich leider auch zu gut daran, wie es war, sich diese Vorwürfe anhören zu müssen. Man vertraut sich schon so ewig niemandem an, weil man niemanden nerven will, sich überflüssig/unbedeutend fühlt und befürchtet, nicht ernstgenommen/verstanden zu werden. Und genau diese Befürchtungen werden durch ein solches Verhalten bestätigt. Als Folge zieht man sich noch weiter zurück und redet erst recht mit niemandem mehr. Nicht über die Suizidgedanken, nicht über Übergriffe (welcher Art auch immer), nicht über die eigenen Ängste, Sorgen, Gefühle etc. Man will niemanden damit belästigen und will keine Unterstellungen/Vorwürfe oder ach so klugen Ratschläge zu hören bekommen.

Am Ende hat man noch mehr das Gefühl, dass einem niemand zuhört, einen niemand versteht und man den Menschen um einen herum egal ist. Man fällt immer tiefer und tiefer in dieses schwarze Loch und niemand bemerkt es mehr.

Ich kam schon in sehr, sehr jungen Jahren in Therapie, was aber auch ruhig noch früher hätte sein können. Meine gesamte Jugend über war ich auch immer in Therapie, weil es eben nicht nur eine Phase war.

Jugendliche und sogar Kinder können auch schon unter einer Depression leiden!

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Und die hier schon mehrfach erwähnten Suizidversuche, um Aufmerksamkeit zu bekommen? Ich will nicht ausschließen, dass es sowas tatsächlich gibt. (Leider habe ich das sogar schon einmal miterlebt, dass jemand einen "falschen" Suizidversuch unternommen hat - doch die Person hat nicht "behauptet", depressiv zu sein, das war eine vollkommen andere Situation. Bei so etwas geht es meist um emotionale Erpressung und dreiste Manipulation. Den Unterschied merkt man schnell.) Doch wie anmaßend und vermessen ist es denn bitte, jemandem in einer solchen Situation derartige Unterstellungen an den Kopf zu werfen?

Wer Suizid begeht, will nicht sterben, sondern (so) nicht mehr leben.

Ich habe mich mal mit einer Person unterhalten, die in ihrer Jugend einen Suizidversuch unternommen hat, den die meisten als Wunsch nach Aufmerksamkeit abgestempelt hätten. Sie hatte das Gefühl, allen egal zu sein. Ihren Eltern war egal, wie es ihr ging oder was mit ihr war, so empfand sie es. Ihren Vater kannte sie nicht, ihre Mutter interessierte nichts, ihr Stiefvater war gewalttätig und ihre zwei Stiefbrüder missbrauchten sie. Also unternahm sie den Suizidversuch (ich möchte bewusst nicht schreiben, wie) und drehte die Musikanlage laut auf, damit jemand kommen würde, weil die Musik zu laut war. Doch ihre Familie interessierte es tatsächlich nicht, erst als sich schon eine ganze Weile später ein Nachbar über die laute Musik beschwerte, wurde sie gefunden - fast zu spät.

Sie wollte ihrer Situation entfliehen. Sie sagt, sie hatte Angst zu sterben, sie wollte nicht wirklich sterben, doch sie wollte (so) nicht mehr leben. Sie hat so sehr gehofft, dass sie jemand finden und retten würde. Sie hatte so sehr gehofft, dass es irgendjemanden gab, dem es nicht egal war. Sie hat es nicht für die Aufmerksamkeit getan, sondern weil sie gerettet werden wollte, gerettet aus ihrer Situation und ihrem Leid. Etwas völlig natürliches für jemanden, der im Grunde noch ein Kind war. Kinder hoffen, dass sie gerettet werden. Ein solches Verhalten ist ein Hilfeschrei, der lauter nicht sein könnte.

Es ging insofern um Aufmerksamkeit, dass sie wollte, dass ihr jemand zuhört und versteht, wie schlecht es ihr geht, jemand sollte sie on ihrem Leid wahrnehmen. Sie wusste nicht mehr weiter, sie wollte dem Ganzen entfliehen - und wenn es den Tod für sie bedeutet hätte. Sie wollte gerettet werden und eigentlich nicht sterben. Doch ihr Leid war dabei doch absolut real! Und sie war sich dessen bewusst, dass sie dabei durchaus hätte sterben können. Sie war sich aller Konsequenzen bewusst, doch das war ihr lieber als ihre aktuelle Situation.

Sie ist nach dem Krankenhausaufenthalt von zuhause abgehauen und in ganz üblen Kreisen und damit auf der schiefen Bahn gelandet (als junger Teenager!). Ihr hat niemand geholfen, niemand hat sie gerettet oder ihr zugehört und die helfende Hand gereicht. Es hat leider niemand ernstgenommen, niemand hat sich für die Hintergründe und sie interessiert. Sie hat viele Jahre gebraucht, wieder auf die gerade Bahn zu kommen und ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Erst als Erwachsene mit Mitte 40 hat sie ihren Frieden gefunden.

Mir persönlich ist mein Herz innerlich zerbrochen, als ich ihre Geschichte gehört habe.

Also urteilt nicht vorschnell! Ihr kennt die Hintergründe nicht, ihr wisst nicht, welches Leid sich dahinter verbirgt. Nicht alles ist immer so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Ihr könnt nicht sehen, wie es wirklich ist - ihr seid nicht allwissend, ihr seid nicht Gott, also spielt nicht Gott!

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