Also das ist der Text, auf den die oben genannte Frage gestellt ist. Die grauen Herren, jene Zeitdiebe aus Michael Endes Roman "Momo", sind weithin bekannt: Sie schwatzen den Menschen kostbare Lebenszeit ab, indem sie ihnen weismachen, man könne doch viel Besseres mit Zeit anfangen, als sie "nur" zum alltäglichen Leben zu nutzen. Die grauen Herren haben Erfolg. Immer mehr Zeit geben die Menschen aus der Hand, und immer weniger Zeit bleibt ihnen, um mit ihren Kindern zu spielen, gemeinsame Mahlzeiten einzunehmen, spazieren zu gehen oder Geschichten zu erzählen.
Die grauen Herren der Kindheit des 21. Jahrhunderts sind die Bildschirmmedien. So fand die amerikanische Wissenschaftlerin Elisabeth Vandewater in einer Studie des Zentrums für Medien und Kindergesundheit an der Harvard School Folgendes heraus: Für jede Stunde, die amerikanische Vorschulkinder vor dem Bildschirm sitzen, reduziert sich die Zeit für kreatives Spiel um etwa 20 Minuten. Die Zeit, die sie in direkter Interaktion mit ihren Eltern verbringen, ist sogar um 45 Minuten geringer. Bei einem kleinen Kind kann dieser Verlust die gesunde Entwicklung gefährden, wenn anstelle zwischenmenschlicher Kontakte und authentischer, alle Sinne ansprechender Welterlebnisse ein Bildschirm tritt. Was auf diesem Bildschirm zu sehen ist, ist für den Verdrängungseffekt zunächst zweitrangig Am vergangenen Donnerstag wurde in Berlin der deutsche Computerspielpreis verliehen. Zu den Sponsoren gehören etwa Electronic Arts, Nintendo, Activision-Blizzard, Microsoft, und Bigpoint. Eine Liste derer, die an Computerspielen Geld verdienen. Man verleiht sich also quasi selbst einen Preis. Und man bekommt dafür gute Presse: Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) betont, worum es geht: "darum, dass wir pädagogisch wertvolle, kulturell wertvolle Spiele auszeichnen". Schlechte Presse hat die Branche ja in letzter Zeit genug bekommen: "Vorsicht Bildschirm!" warnt das Transferzentrum Neurowissenschaften und Lernen in Ulm. Jeder fünfte jugendliche "World of Warcraft"-Spieler ist abhängig oder abhängigkeitsgefährdet. Gewalthaltige Computerspiele führen nach der neuesten amerikanischen Metastudie nun doch eindeutig zu Empathieverlust und Aggressionssteigerung (FR vom 29. April). Frühe Bildschirmnutzung erhöht das ADHS-Risiko. Und so weiter.
Es dürfte daher den Marketingfachleuten der Branche nicht entgangen sein, welch Möglichkeiten der Computerspielpreis bietet, das in Pädagogenkreisen arg angeschlagene Image der Computerspielbranche aufzupolieren.
In der Kategorie der Kinderspiele wurde am Donnerstag die interaktive Lernsoftware "Lernerfolg Vorschule - Käpt´n Sharky" mit 75000 Euro prämiert. Aha. Nur: Im Vergleich wozu soll denn ein Computerspiel für Kindergartenkinder bitte "pädagogisch sinnvoll" sein? Im Vergleich zum guten Buch, zum Blockflötenunterricht oder zum Waldspaziergang sicher nicht. Allenfalls im Vergleich zu anderen Spielen, die noch viel weniger geeignet sind. Unter den Blinden ist der Einäugige bekanntlich König. Das Spiel ist bereits mit drei anderen Auszeichnungen geschmückt. Für mich ein Fall von Augenwischerei. Computerspiele für Vorschulkinder sind und bleiben Zeitdiebe.