Als ich mich damals geoutet habe, hatte ich eine kurze Phase des Ausprobierens. Ich bin in die Szene gegangen, habe kurzzeitig Crusing Bars, Sex Kinos und Gay Saunen ausprobiert und auch Sex gehabt mit Männern aus GR und Grindr. Ich kann meine Sexpartner allerdings an zwei Händen abzählen, weil diese Art von Sex mir zu schnell, diskret und anonym war und nicht mein Fall (womit ich niemanden kritisieren will, der das mag, es ist nur persönlich nicht meins). Deshalb bin ich seitdem nicht mehr in die Szene gegangen und GR und Grindr habe ich auch auf Eis gelegt, da mir zu versext und oberflächlich.
Nennt mich spießig oder zu romantisch, aber für mich ist Sex etwas sehr intimes und vertrautes. Und Sex möchte ich deshalb nur mit einer mir vertrauten Person haben. Heißt, mit einem langjährigen Freund (also freundschaftlich, nicht Boyfriend) oder in einer Beziehung mit einem Mann, für den ich mehr bin als ein Sexobjekt, der fürsorglich ist und dem mein Wohlergehen wichtig ist. Dasselbe empfände ich natürlich auch für ihn. Man sollte einander das Gefühl haben, ein Privileg und etwas Besonderes für jemanden zu sein.
Nun, ich habe diese Phase also hinter mir und habe bislang auch keine Beziehung geführt, weshalb der Sex bei mir zu kurz kommt. Dennoch empfinde ich sexuelle Bedürfnisse, die nicht weggehen, nur weil ich Single bin. Wenn man nicht in der Szene unterwegs ist und auch diese Dating Apps nicht nutzt, muss man mit der Konsequenz leben, allein (nicht zwingend einsam) und untervögelt zu sein und immerhin Spaß mit sich selbst zu haben. Richtig? Genug gleichgeschlechtliche Freunde, die ich attraktiv fände oder die mich (zu Sex gehören ja mindestens immer zwei...) gibt es auch nicht und die, mit denen ich schlafen wollen würde, führen eine (angeblich und vermeintlich) offene Beziehung. Ich kann es allerdings moralisch nicht mit mir vereinbaren, mich in Beziehungen anderer Leute einzumischen, nur weil man einander erlaubt, auch Sex mit anderen Männern zu haben als nur mit dem Partner. Liegt das überhaupt in meiner Verantwortung, darüber nachzudenken?
Ich frage mich oft, ob der Grund, warum ich wenig Sex und noch keine Beziehung geführt habe, der ist, dass ich zu romantisch und moralisch eingestellt bin und mich dieser Art von Sexleben (F+, ONS, etc.) nicht hingeben kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen und das Gefühl zu haben, Opfer meiner Bedürfnisse und Hormone gewesen zu sein, mich also meiner Lust hingegeben zu haben mit einer Person, die offensichtlich in derselben Lage ist wie ich und dementsprechend ausschließlich Sex vereinbart, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Selbstbefriedigung ist schön und gesund, aber auf Dauer auch sehr langweilig und keine dauerhafte Lösung gegen das Bedürfnis nach Liebkosungen, Zärtlichkeiten und körperlicher Nähe.
Einerseits ist das Gefühl schön, von jemanden, wenn auch nur aus sexueller Absicht, begehrt zu werden und für jemanden attraktiv zu sein, ich möchte aber auch nicht nur auf das Sexuelle reduziert werden. Genauso wenig möchte ich auch niemanden an mich binden, nur weil wir eventuell guten Sex gehabt haben. Über die Jahre ist mir oftmals aufgefallen (durch Erzählungen von Freunden und durch meine eigene Beobachtung), dass Lust sehr schnell mit Liebe verwechselt wird, und dass man glaubt, den Mann fürs Leben gefunden zu haben, nur weil man guten Sex gehabt hatte. Diese Beziehungen hielten dann in der Regel keine 2 Monate.
Natürlich gibt es Ausnahmen, wie immer und überall. Ich frage mich bloß, muss man sexuell aufgeschlossener sein, sich also F+, ONSs, Sex Dates, die Szene usw hingeben, um ein erfülltes Sex- und Liebesleben zu haben, oder gar einen Partner kennenzulernen? Dass vorzeitiger Sex, also Sex zum Kennenlernen und vor einer Beziehung, notwendig ist, um jemanden nachhaltig kennenzulernen? Ich habe oft das Gefühl, dass wenn ich sage, dass ich nicht auf der Suche nach Sex bin, jedenfalls nicht ausschließlich, sondern dass mir neue Kontakte, Bekanntschaften, Freundschaften und gemeinsame Unternehmungen wichtiger sind und dass man über eine Beziehung nachdenken kann nach ausreichend Sympathie, Intimität, Persönlichkeit und gemeinsamer Zeit, dass ich für viele Männer langweilig wirke und damit sofort abgeschrieben werde, dass ich also persönlich wie menschlich uninteressant wirke aufgrund meiner (zu romantisch und moralischer) Einstellung.