Das VermĂ€chtnis der europĂ€ischen Revolution von 1848/49 zeigt sich in globaler, nationaler und europĂ€ischer Hinsicht. Global, weil in einigen europĂ€ischen Kolonien in Ăbersee, vor allem in den französischen Kolonien, die Sklaverei abgeschafft wurde â eine Inspiration fĂŒr den Abolitionismus in den Vereinigten Staaten unmittelbar vor dem BĂŒrgerkrieg. Politische FlĂŒchtlinge aus Europa brachten zudem radikale Ideen mit ins US-amerikanische Exil, die Einfluss auf die dortige Politik hatten. DarĂŒber hinaus standen die europĂ€ischen Revolutionen Pate fĂŒr die gescheiterte Praieira-Revolte in Brasilien, einen Aufstand gegen die Macht der Eliten in den Jahren 1848/49. Insgesamt betrachtet, helfen uns die Revolutionen von 1848/49, die Dynamik spĂ€terer revolutionĂ€rer Kaskaden in der ganzen Welt zu verstehen, etwa der Revolutionen 1989 in Europa, der "Farbrevolutionen" ab den frĂŒhen 2000er Jahren oder des "Arabischen FrĂŒhlings" 2011.
Auf nationaler Ebene liefern die Ereignisse von 1848/49 spĂ€teren politischen Bewegungen einen groĂen Fundus an historischen Erinnerungen, MĂ€rtyrern und Symbolen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen die kommunistischen Regierungen in Mittel- und Osteuropa in den Revolutionen von 1848/49 ein revolutionĂ€res Erbe, aus dem sie ihre Legitimation zu ziehen versuchten. Doch 1848/49 beinhaltet auch Erinnerungen an Liberalismus und Demokratie, die fĂŒr die modernen Demokratien in der Auseinandersetzung mit dem Erbe des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts sowohl nach 1945 als auch nach der Revolution von 1989 ein nĂŒtzliches VorlĂ€ufermodell boten, auf das man sich beziehen konnte. Der soziale Konflikt von 1848 hatte zudem ein lange bestehendes Problem zum Ausdruck gebracht, mit dem alle modernen Demokratien umgehen mĂŒssen: Wie wahrt man das Gleichgewicht zwischen kollektiver sozialer Gerechtigkeit einerseits und individueller persönlicher Freiheit andererseits?
Es gab jedoch auch ein europĂ€isches VermĂ€chtnis, das an Giuseppe Mazzinis Vision von Europa als einer friedlichen Bruderschaft freier Völker erinnerte. Die revolutionĂ€re Kaskade von 1848/49 schien zu zeigen, dass alle europĂ€ischen Liberalen die gleichen Ziele verfolgten. RevolutionĂ€re im einen Land sprachen RevolutionĂ€ren in anderen LĂ€ndern ihre UnterstĂŒtzung aus oder baten einander um Hilfe. Doch in der Praxis brachten die Revolutionen auch eine andere, negative Eigenschaft ans Licht: Zwischen den Liberalen verschiedener LĂ€nder kam es immer wieder zu Konflikten wegen umstrittener Gebiete. In einigen LĂ€ndern brachen im Kampf um die Rechte nationaler Minderheiten BĂŒrgerkriege aus. Daher ist das wahre europĂ€ische VermĂ€chtnis der Revolutionen von 1848/49 vielleicht weniger in der "Bruderschaft der Völker" zu suchen, sondern gleich in dreifacher Hinsicht als Warnung der Geschichte zu verstehen. Erstens zeigt sich darin, wie selbst die lobenswertesten liberalen Ziele scheitern können, wenn sie mit einem kompromisslosen Nationalismus verbunden sind, der den Bestrebungen anderer Völker wenig Raum lĂ€sst. Zweitens kann man daraus schlieĂen, dass in Demokratien, die mit akuten Krisen konfrontiert sind, Menschen aus Angst vor sozialen UmwĂ€lzungen dazu verleitet werden können, Zuflucht in autoritĂ€ren Lösungen zu suchen. Und drittens erinnert 1848/49 an die Herausforderung, eine europĂ€ische Ordnung zu schaffen, die zum einen den Ambitionen und Hoffnungen der verschiedenen Völker gerecht wird und zum anderen in der Lage ist, Streitigkeiten zwischen ihnen friedlich beizulegen â und dabei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu wahren. Die Geschichte Europas der vergangenen 175 Jahre liefert also gute GrĂŒnde, sich eingehender mit dem Erbe der EuropĂ€ischen Revolution von 1848/49 zu befassen."
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim
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