Die Frage, ob Vernunft wichtiger sei als die Erhaltung der Leitkultur, führt uns an einen spannenden Schnittpunkt zweier fundamentaler Prinzipien: dem universalen Anspruch der Vernunft und dem identitätsstiftenden Wert kultureller Tradition.
Für die Vernunft zu sprechen, heißt, sich auf das zu berufen, was uns als Menschen miteinander verbindet – unabhängig von Herkunft, Religion oder Nation. Die Vernunft ermöglicht es uns, ethische Maßstäbe zu entwickeln, Konflikte friedlich zu lösen und in einer pluralistischen Welt verantwortungsvoll zu handeln. Sie fordert Reflexion statt blinden Gehorsam, Dialog statt Dogma. Ohne Vernunft verkommt jede Kultur zur bloßen Wiederholung und verliert ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur. In diesem Sinne ist Vernunft nicht nur ein individuelles Werkzeug, sondern auch ein gesellschaftliches Fundament – gerade in Zeiten von Globalisierung und kultureller Vielfalt.
Doch auch die Leitkultur verdient philosophische Anerkennung, insofern sie Ausdruck historischer Erfahrungen, gemeinsamer Werte und gewachsener Normen ist. Sie bietet Orientierung, Zugehörigkeit und einen symbolischen Rahmen für das Zusammenleben. Kultur ist das Gedächtnis einer Gemeinschaft – sie erzählt, wer wir waren, und gibt Hinweise darauf, wer wir sein wollen. Eine rein rationale Gesellschaft ohne kulturelle Verwurzelung würde Gefahr laufen, in Beliebigkeit und Identitätsverlust zu zerfallen. Die Leitkultur, verstanden als dynamischer und offener Wertekern, kann die Vernunft fruchtbar ergänzen – sie verleiht ihr einen konkreten Ort, an dem sie wirkt.
Daher ist es kein Widerspruch, sondern eine gegenseitige Bedingung: Die Erhaltung einer kritischen, sich weiterentwickelnden Leitkultur braucht die Vernunft, um nicht in starre Tradition zu erstarren. Umgekehrt braucht die Vernunft kulturelle Kontexte, in denen sie wirken kann – als lebendige Praxis, nicht als abstraktes Prinzip. Wahre kulturelle Stärke zeigt sich darin, dass sie vernünftige Kritik nicht fürchtet, sondern integriert.
Fazit: Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch – die Vernunft ist das Licht, das den Weg zeigt, und die Leitkultur der Boden, auf dem wir diesen Weg gemeinsam gehen.