Hier ein Auszug von 1982 vom Spiegel............ Noch überzeugendere Argumente gegen die schlichte Idee, daß Wachstum Wohlfahrt stifte, liefert der britische Ökonom Fred Hirsch. Seine These: Die zunehmende Verbreitung an sich wünschenswerter Güter entwerte diese zugleich. Der Elitekonsum von heute könne niemals der Massenkonsum von morgen werden. »Wenn sich alle auf die Zehenspitzen stellen«, resümiert Hirsch, »kann keiner besser sehen.«

Die Entzauberung des Wachstums als Heils- und Glückspender trifft vor allem jene, deren Zukunftsentwürfe allein auf die Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts gründeten. Immer nachdrücklicher fordern die Gewerkschaften Beschäftigungsprogramme, immer törichter werden die Argumente, mit denen die Sicherung der Arbeitsplätze begründet wird.

»Wir sind an einem Punkt angelangt«, umreißt der französische Philosoph Andre Gorz die Situation, »wo es im offiziellen Sprachgebrauch nicht mehr heißt, die Arbeit schafft Produkte, sondern die Produktion schafft Arbeit.«

Wie recht Gorz hat, zeigte sich gerade erst wieder auf dem Konvent der SPD. Die Sozialdemokraten machten die Floskel »Arbeit schaffen« zum Parteitagsmotto.

In der Antike galt jeder, der durch Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen mußte, als beklagenswert. Nur die vom Erwerbszwang unabhängige Tätigkeit sahen die gebildeten Griechen als menschenwürdig an.

Im Paradiesgarten Eden ernährten sich Adam und Eva von den Früchten der Bäume, wanderten umher und faulenzten. Im 1. Buch Mose wird das Paar aus dem Paradies vertrieben und dazu verdammt: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.«

»Dies könnte der erste Versuch sein«, spekuliert der schwedische Ökonom Gunnar Adler-Karlsson, »das Bedürfnis nach Arbeit auf eine Art zu rationalisieren, die den tatsächlichen Zwang etwas annehmbarer machte.«

Erst die puritanische Arbeitsmoral verwandelte die Arbeit von einer Verbannung in eine Tugend. Ein Leben ohne Arbeit galt fürderhin als unmoralisch und schmarotzerhaft. »Arbeit ist des Blutes Balsam, Arbeit ist der Tugend Quell«, dichtete zum Beispiel Johann Gottfried Herder.

Andere Kulturvölker blieben da ganz anderer Meinung. Als die Europäer die Neue Welt eroberten, trafen sie dort ein Volk, in dessen Sprache das Wort »arbeiten« überhaupt nicht vorkam. Später setzten die Indianer das Wörtchen »fast« vor den Begriff »sterben« und meinten damit arbeiten.

Die modernen Industriegesellschaften blieben dagegen durch das puritanische Arbeitsethos geprägt. Nur wer einen Beruf hat, gilt als seriöses Mitglied der Erwerbsgesellschaft. Wer keine Arbeit hat, wird als minderwertig angesehen. »Die Arbeit«, meinte DGB-Chef Heinz Oskar Vetter, »ist ein Wert an sich.«

Es ist bezeichnend, daß zumeist jene die Arbeit verklären, die einen attraktiven Arbeitsplatz besitzen. Denn Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung, von Hegel als Ideal der Arbeit postuliert, finden nur die wenigsten Menschen in ihrer Erwerbsarbeit.

Die Mehrheit erlebt die Arbeit in der Industriegesellschaft wohl eher so, wie sie der Chemie-Gewerkschafter Werner Vitt beschreibt: »Ich kenne viele«, so Vitt, »die unter dem Druck der schnell voranschreitenden Technologisierung ihre Gesundheit ruinieren, ihre Arbeitskollegen durch erhöhte Leistungen auszustechen suchen, ihre soziale Umwelt durch Unzufriedenheit, Nervosität und Ungerechtigkeit in einer Weise belasten, daß sogar freundschaftliche und verwandtschaftliche Bande zerbrechen.«

Die Realität der Arbeitswelt spiegelt sich in den Zahlen der Rentenversicherung. Jeder zweite Arbeiter und jeder dritte Angestellte muß wegen Invalidität vor Erreichen der Altersgrenze aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Jeder sechste Arbeiter und jeder zehnte Angestellte wird vor dem 50. Lebensjahr arbeitsunfähig.

Was also heißt da Recht auf Arbeit? Selbst wenn sich unter diesen Frühinvaliden einige Drückeberger verstecken, so bestätigen die Zahlen nur, daß viel Arbeit nicht unbedingt Voraussetzung für ein erfülltes Leben ist.

Doch es wird immer schwerer für die Ideologen der Arbeitsgesellschaft. Sieben Prozent Wachstum wären nötig, um die Arbeitslosigkeit auf Null zu bringen. Und solche Zuwachsraten sind blanke Illusion.

Folglich bleibt auf mittlere und längere Sicht lediglich ein Ausweg, wenn die Gesellschaft nicht immer weiter in die Klasse der Arbeitsbesitzer und der Arbeitslosen auseinanderfallen soll: Alle arbeiten weniger, damit die vorhandene Arbeit auf mehr Köpfe verteilt werden kann.

Natürlich, die einfache Modellrechnung, daß 650 000 neue Arbeitskräfte S.63 eingestellt werden müssen, wenn alle Werktätigen eine Stunde weniger pro Woche arbeiten, geht nicht auf. Technische Rationalisierungen, organisatorische Veränderungen und auch höhere Arbeitsleistung des einzelnen mildern den Beschäftigungseffekt.

Aber ebensowenig läßt sich leugnen, daß kürzere Anwesenheitszeiten an Schraubstöcken und Schreibtischen die Unternehmen zwingen, den Ausfall zumindest zum Teil und auf längere Sicht durch mehr Arbeitskräfte auszugleichen.

Auch das gängige und griffige Argument, das Angebot an Arbeitskräften entspreche nicht dem Bedarf, der bei einer Arbeitszeitverkürzung entstehe, zieht nicht. Es kann ja wohl nicht angehen, daß all jene, die durch Wachstumseinbußen und Veränderungen in der Produktion ausgesondert werden, bis zur Renten-Reife arbeitsuntauglich bleiben.

Fraglich ist dagegen, ob die herkömmlichen Methoden für eine Senkung der Arbeitszeit - etwa die 35-Stunden-Woche oder das frühere Rentenalter - wirklich der Weisheit letzter Schluß sind.

Mehr Erfolg als die Modelle, die alle Arbeitnehmer in einheitliche Zeit-Schablonen pressen, versprechen Lösungen, die den Menschen mehr individuelle Möglichkeiten bei der Wahl ihrer Arbeitszeiten eröffnen. Berechnungen der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit haben ergeben, daß es theoretisch keine Arbeitslosigkeit mehr gäbe, wenn jeder nur so viele Arbeitsstunden leisten müßte, wie er wirklich für seinen Lebensunterhalt wünscht.

Modelle, die den einzelnen Arbeitnehmern mehr »Zeitsouveränität« verschaffen und ihnen erlauben, Arbeit und Freizeit besser zu mischen, gibt es zuhauf: Teilzeitarbeit und Jobsharing, Langzeiturlaub und gleitender Ausstieg aus dem Arbeitsleben.

Der Abschied von den konventionellen Zeitnormen mildert nicht nur die Arbeitslosigkeit; er könnte auch die Qualität der Arbeit grundlegend verändern. Erst die extrem arbeitsteilige Industriegesellschaft hat die Arbeit zu dem gemacht, was sie heute ist: eine aus anderen Lebenszusammenhängen herausgelöste Tätigkeit.

Erfindergeist, Technik und Energieeinsatz haben den Menschen soviel Arbeit abgenommen, daß sie sich erlauben können, statt fremdbestimmter Arbeit wieder mehr Arbeit für sich selbst zu leisten. Denn weniger Erwerbstätigkeit, das muß beileibe nicht nur mehr Muße oder Langeweile und schon gar nicht mehr Zeit zum einfallslosen Konsumieren heißen. Im Gegenteil: Weniger Arbeit in der Geldwirtschaft schafft Freiräume für Arbeit, die nicht zerstückelt ist, die der einzelne gern verrichtet, die ihm persönlich nützt. Diese Art von Arbeit schafft zwar kein Einkommen und wird daher nicht in die Statistik des Bruttosozialprodukts aufgenommen, aber sie stiftet zumeist mehr Nutzen und Lebensfreude als ein paar Geldscheine oder das, was man dafür kaufen kann.

Die Neuaufteilung der Arbeit müßte nicht einmal mit Einkommenseinbußen verbunden sein. Es reichte schon, wenn der Produktivitätsfortschritt, der bisher zur Steigerung der Kaufkraft verwendet wurde, in Zukunft für die Verminderung der Arbeitszeit genutzt würde.

Daß dies die Politiker dazu zwingen würde, das auf stetig steigende Einnahmen ausgelegte Sozialsystem zu reformieren, wäre kein Nachteil. Die auf totalen Schutz zielenden staatlichen Zwangsversicherungen sind immer weniger in der Lage, die sozialen Schäden auszugleichen, die durch die Arbeitsgesellschaft verursacht werden. Der wachsenden Zukunftsangst, der zunehmenden Vereinsamung und dem Mangel an menschlicher Wärme stehen die Sozialbürokratien hilflos gegenüber.

Eine Gesellschaft, die von den alten Arbeitsformen Abschied nimmt, könnte zwar den Sozialstaat herkömmlicher Art nicht mehr bezahlen. Sie böte dafür aber eine bessere Lösung an: Soziale Dienstleistungen wie Kindererziehung, Altenpflege und Krankenbetreuung könnten in die kleinen Netze der Familie, des Freundeskreises oder der Nachbarschaft zurückverlagert werden. Denn für solche Tätigkeiten hätten die Menschen dann mehr Zeit.

Zukunftsentwürfen dieser Art haftet ein Hauch Realitätsferne und Utopie an. Doch die Wirklichkeit zeigt, daß immer mehr Menschen - nicht nur jugendliche Aussteiger - nach neuen Arbeits- und Lebensnormen suchen.

Noch nie zuvor haben sich so viele in Selbsthilfegruppen und Kleingenossenschaften, in Interessengruppen und Bürgerinitiativen zusammengeschlossen. Und was sonst demonstrieren die vielen Wohngemeinschaften als den Versuch, verlorengegangene Familienbande durch neue Beziehungen zu ersetzen?

Die Abkehr von den ökonomischen Werten der Arbeit und des Habens hin zu den humanen Werten des Seins oder, in eine gängigere Formel gefaßt, von industriellen zu nachindustriellen Wertvorstellungen läßt sich auch an einer Fülle von Meinungsumfragen ablesen. Der Berliner Politologe Richard Löwenthal irrt, wenn er glaubt, der Bewußtseinswandel betreffe nur eine kleine Minderheit.

Was also hindert Arbeitgeber und Gewerkschaften, die Arbeit zum Nutzen aller umzuverteilen und neu zu ordnen?

Ganz einfach: Die Frage nach der Organisation und dem Stellenwert fremdverrichteter Arbeit ist zugleich auch die Frage nach der Herrschaft über die Menschen. Je weniger Bedeutung die Arbeit bekommt, desto mehr schwindet auch die Macht von Arbeitgebern und Gewerkschaften.

Der britische Ökonom Denis Pym trifft den Punkt, wenn er feststellt: »Wir sind alle Sklaven der Arbeit und ihrer Institutionen - Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung -, nicht weniger, als die Menschen im Mittelalter Sklaven der Kirche, des Adels und der Sitten waren.«

Der Arbeitsgesellschaft, hat Hannah Arendt vor 20 Jahren vorausgesehen, geht allmählich die Arbeit aus. Schaden muß das nicht.

Hier der ganze Bericht https://www.spiegel.de/wirtschaft/wir-sind-alle-sklaven-der-arbeit-a-90290b08-0002-0001-0000-000014348362

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