Inwieweit, mit einer historischen Betrachtung das Gegenwartsphänomen „Migration“ erklärt werden kann?

Als er im Oktober 1648 endlich vorüber war, dieser "langwierige Teutsche Krieg", wie ihn der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620 bis 1688) nannte, lag sein Land danieder - gebrandschatzt, verwüstet, eine große Ödnis und die Hälfte der Bürger war tot. Und natürlich blieb auch Berlin-Cölln, die Hauptstadt Brandenburgs, nicht verschont. Die kölnischen und berlinischen Vorstädte lagen in Asche, von 845 Häusern standen in Berlin 200, in Köln von 364 Häusern gegen 150 leer". [...] Dann schaffte es des Großen Kurfürsten "Geist und Kraft, in diese Verwirrung wieder Ordnung und Harmonie zu bringen" - gewissermaßen der Startschuss für Berlins internationale Karriere. Nur etwa 6000 Einwohner lebten hier am Ende des Dreißigjährigen Krieges, im Jahr 1680 waren es schon über 16 000, eine Generation später 55 000. Mit "jährlichen Wachstumsraten zwischen drei und reichlich vier Prozent" habe sich binnen kurzem, errechnete die Historikerin Helga Schultz, Berlins Einwohnerzahl vervierfacht - und konnte bald Wien, bis dahin die größte Stadt im Heiligen Römischen Reich, überflügeln. Aus der Puppe einer kurfürstlichen Residenz", schwärmt die Expertin, sei der "Schmetterling einer königlichen Hauptstadt von europäischem Rang geschlüpft". […] Eine für die Entwicklung der Stadt weise, bahnbrechende Entscheidung hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm am 29. Oktober 1685 getroffen, nach dem damals in Brandenburg noch nicht geltenden gregorianischen Kalender war es der 8. November. Der Regent ließ, auch auf Französisch, ein gedrucktes Edikt verbreiten, mit dem er calvinistischen Hugenotten "Privilegia und andere Wolthaten" versprach, wenn sie in sein Land kämen. Im katholischen Frankreich hatte König Ludwig XIV. den Reformierten wenige Wochen zuvor jegliche Religionsausübung verboten.

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Die ersten Zuwanderer begrüßte der Kurfürst bei ihrer Ankunft noch persönlich, wie die steinerne Stadtchronik am Berliner Rathaus auf einer der Tafeln zeigt. Sie kamen zu Tausenden, schätzungsweise 16 000 waren es bis zum Anbruch des 18. Jahrhunderts, rund 6000 von ihnen siedelten sich in Berlin an. Damit war fast jeder sechste Berliner ein protestantischer französischer Flüchtling, ein "Réfugié", wie sich die Hugenotten selbst nannten. Ein Drittel von ihnen ließ sich in der Dorotheenstadt, zwischen Brandenburger Tor und Kupfergraben, nieder, die meisten aber in der südlich davon gelegenen Friedrichstadt. Dort wies im Jahr 1700 Kurfürst Friedrich Ill., der spätere erste Preußenkönig Friedrich l., neben der lutherischen auch der französisch-reformierten Gemeinde Berlins ein noch unbebautes Gebiet zwischen Charlotten- und Französischer Straße zum Bau je einer Kirche zu. Die Hugenotten zeichneten sich besonders durch ihr handwerkliches Geschick aus. Sie konnten Stoffe aus Samt und Seide bearbeiten, ebenso aus Leinen und Baumwolle, sie waren Färber und Schneider. So wurde Berlin schon im 18. Jahrhundert für seine Textilindustrie berühmt. Uhrmacher und Goldschmiede aus Frankreich belieferten die feine Gesellschaft, Bäcker und Konditoren kreierten süße Leckereien, Gastwirte pflegten eine für preußische Gaumen ungewohnte Nouvelle Cuisine. Auch andere Errungenschaften gingen auf die Immigranten zurück. Ihnen verdanke Berlin "seine Polizei, einen Teil seiner gepflasterten Straßen und seine Wochenmärkte", rühmte der Schriftsteller Karl Ludwig von Pöllnitz in seinen 1791 postum veröffentlichten Memoiren. Die Franzosen hätten "Überfluss und Wohlstand eingeführt und diese Stadt zu einer der schönsten Städte Europas gemacht".Alteingesessene Berliner neideten den Neubürgern oftmals die wirtschaftlichen Erfolge. Aber sie äfften gern die fremden Manieren nach. Französische Sprachbrocken einzustreuen wurde zur Marotte. Ein Einheimischer mokierte sich: "Alle Lächerlichkeiten, welche Mode und Nachahmung erzeugen, treten recht lebhaft hervor, wenn man sich französisch ,bœuf à la mode' oder ,bœuf naturel' fordern muss, um seinen deutschen Hunger mit deutschem Rindfleisch zu stillen." Ein anderer Zeitgenosse mäkelte: "Seitdem das Monsieur bei uns Deutschen eingerissen und eingeschnitten, reden es jetzt auch alle Mägde, Knechte und Stiefelschmierer." Französische Wörter gingen in den Alltagsgebrauch ein. "Boulette", das Kügelchen, hieß nun der Hackfleischklops. Man sprach von Kinkerlitzchen (von "quincailleries", Kurzwaren oder Kleinigkeiten) oder Muckefuck (von "mocca faux", falscher Kaffee) - die hohen preußischen Importzölle auf Kaffee im 18. Jahrhundert veranlassten französische Gärtner, Zichorie anzubauen, deren geröstete und gemahlene Wurzeln dem dünnen Kaffeeaufguss beigemischt wurden. Wie die starke hugenottische Minderheit - neben ebenfalls zugewanderten Schweizern, Böhmen, Pfälzern, Schwaben und Sachsen - Berlin prägte, so bildete auch eine andere stark wachsende Bevölkerungsgruppe einen neuen Schwerpunkt hauptstädtischen Lebens: das Militär. Bald nach seiner Thronbesteigung ließ Friedrich Wilhelm I., der von 1713 bis 1740 regierte, Soldaten werben. […..] Berlin zog zudem Künstler und Gelehrte an, verstärkt nach der Gründung der Akademie der Künste 1696 und der Akademie der Wissenschaften im Jahr 1700. Mit der hauptstädtischen Bürokratie wuchs auch der Bedarf an Beamten und Juristen. Die tüchtige Multikulti-Gesellschaft im Verein mit den freisinnigen Intellektuellen prägte seit der Mitte des 17. Jahrhunderts den weltoffenen Charakter der Menschen.:

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