Dass eine Reform nötig ist, bestreitet angesichts der absurden Größe des Bundestags niemand. Ebenso wäre es lächerlich, in Abrede zu stellen, dass sich insbesondere die CSU in den letzten 10 Jahren höchst destruktiv in diesem Prozess verhalten hat. Außerdem ist es klar, dass das neue Wahlrecht nicht fairer/demokratischer sein kann, als das bisherige, das m.E. eines der cleversten und umfassensten Wahlrechte überhaupt ist.
Das was jetzt beschlossen wurde, ist allerdings schon kritisch zu sehen. Gerade in Zeiten, in denen es ganze Landstriche gibt, die sich von der Politk vergessen fühlen, an den direkten Wahlkreisvertretern den Rotstift anzusetzen, finde ich unklug. Es macht einen Unterschied, ob ich bei einem Problem in das örtliche Wahlkreisbüro meines MdB gehen kann, um Hilfe zu bekommen oder die Aufmerksamkeit des Bundestags auf ein Thema zu lenken, oder nicht. Zudem sind direkt gewählte Abgeordnete unabhängiger von der Partei und können sich mehr Widerspruch erlauben, da sie nur von ihrer ötlichen Basis nominiert werden müssen und keine Partei "von oben" bestimmen kann, wer ins Rennen geht.
Nun darf man durchaus die Frage stellen, wie legitimiert ein Abgeordneter ist, der nur mit 20% seinen Wahlkreis "gewonnen" hat und ich finde deshalb die Idee, die schlechtesten Direktmandate zu streichen auch nicht komplett verkehrt.
Der jetzt beschlossene Reformvorschlag läuft aber gar nicht darauf hinaus, die schlechtesten Direktmandate insgesamt zu streichen. Er streicht nur die schlechtesten Direktmandate einer bestimmten Partei in einem bestimmten Bundesland. Hat zum Beispiel die SPD in Niedersachsen zu viele Direktmandate gewonnen oder die CSU in Bayern, wird gestrichen. Ein mit 20 Prozent siegreicher Direktkandidat der Grünen wird aber immer einziehen können, da die Partei insgesamt wenige Direktmandate gewinnt. Wozu führt das? In bestimmten Wahlkreisen wird eine bestimmte Partei künftig nie wieder einen Abgeordneten stellen können. Das wird insbesondere die Union und städtische Wahlkreise treffen, denn dort schneidet die Union traditionell am schlechtesten ab. In München sind etwa die innerstädtischen Wahlkreise traditionell eng umkämpft, Grüne und SPD erhalten dort meist ihre besten Ergebnisse in Bayern, die CSU die schlechtesten. Die CSU braucht dort letztlich also niemanden mehr aufstellen, denn egal ob derjenige gewinnt oder nicht, in den Bundestag wird er kaum einziehen können. Die Hochburgen der Parteien bleiben allerdings unberührt, was dazu führt, dass die Demokratie in den wirklich interessanten Wahlkreisen teilweise ignoriert wird.
Dazu kommt die Abschaffung der Grundmandatsklausel, die theoretisch natürlich sinnvoll ist, aber an der praktischen politischen Parteienlandschaft in Deutschland vorbeigeht. Die CSU hatte bei der letzten Wahl 5,2% bundesweit und in Bayern trotzdem 45 der 46 Wahlkreise direkt gewonnen. Mal angenommen, es wären 4,9% gewesen, dann wären 45 der 46 Wahlkreise nicht vertreten gewesen. Da kann man dann eben nicht mehr von vereinzelten Wahlkreisen sprechen, die keinen Abgeordneten entsenden können, sondern muss von einem flächendeckenden Nachteil bayerischer Wahlkreise sprechen.
Kein Wahlrecht ist dafür da, der CSU den Einzug in den Bundestag zu garantieren, aber dieses Wahlrecht birgt in Anbetracht der politischen Realitäten eine Benachteiligung Bayerns, die schwer hinnehmbar ist.
Die Art und Weise, wie diese Reform durchgeboxt wurde, spricht Bände. Wie gesagt, die Rolle der CSU ist absolut unrühmlich, wenn man die letzten Versuche dieser Richtung Revue passieren lässt. Die Ampel hat aber entgegen des parlamentarischen Brauchs eine politisierung des Wahlrechts vorgenommen, wie es sie bisher nie gab. Änderungen des Wahlrechts wurden fraktionsübergreifend vorgenommen und nicht nach dem Schema "Regierung gegen Opposition". Wenn wir Pech haben, war das der Auftakt dazu, dass von nun an jede Regierung ihre eigene Wahlrechtsreform macht und sie ohne jede Rücksicht gegen die Opposition durchdrückt. Das ist einfach stillos. Auch die Art, wie mit Linker und Union umgegangen wurde, ist schwer verständlich. Im Entwurf aus dem Januar wurde die Grundmandatsklausel weiterhin zugesichert, sogar mit dem expliziten Vermerk, man wollte der Linken und der CSU nicht bewusst schaden. Die Streichung der Grundmandatsklausel wurde am Sonntag öffentlich und am Freitag wurde die Abstimmung trotz wiederholter Bitten, sie um 2 Wochen zu verschieben, um zu einem Kompromiss zu kommen, durchgezogen.
Das jetzt häufiger gebrauchte Argument "wer nicht hören will, muss fühlen" bezüglich der CSU ist absolut unangebracht, denn ein Wahlrecht darf nicht nach dem Prinzip geändert werden, dass man der Partei, die einem in den letzten Jahren nicht gepasst hat, das Leben schwer macht. Sie muss fair sein und den Realitäten Rechnung tragen. Das ist diese Reform nicht.