Wie war die Auswanderung für euch Russlanddeutschen?

3 Antworten

Moin Moin, deine Nachbarn sind vermutlich gar keine echten Russlanddeutschen, sie hatten lediglich einen deutschen Schäferhund, den Scharik, und der jammerte solange in seiner Hundehütte und wollte zu seinen Vorfahren nach Deutschland, bis sie schließlich nachgaben und ihm seinen Wunsch erfüllten. Nun hocken sie hier und wissen nicht so recht, was sie hier sollen.

So, ok das wäre geklärt. Nun zu mir. Ich wollte schon immer Punk werden. In der Sowjetunion war das aber schwierig, denn sobald man auch nur ein Loch in seine alte, ausgewaschene Bluejeans schnitt, sammelten einen die Bullen mitten auf der Straße ein, und man musste solange mit der eigenen Zahnbürste die Klos auf der Polizeistation putzen und dabei die sowjetische Nationalhymne singen, bis einem sämtliche Punk-Allüren verflogen waren, und man wieder als geläuterter Komsomolze in den Schoß der Familie zurückkehren durfte.

Diese Zustände fand ich unhaltbar, zumal Cousin Waldemar, der über Norwegen, Marokko und Sansibar nach Osnabrück geflohen ist, dort sogar ein richtiger Rocker sein durfte. Also packte ich meine sieben Sachen (vielleich waren das auch acht oder neun, ich weiß es nicht mehr), überquerte zu Fuss das Uralgebirge, schlug mich nachts über Umwege nach Archangelsk durch, versteckte mich dort im Rumpf eines Schiffes, der eine Ladung Fischkonserven nach Stavanger fuhr. Schlug mich der Route von Cousin Waldemar folgend, weiter bis nach Maghreb durch, nahm allerdings dann eine Abkürzung über Israel. Dort mischte ich mich in eine Gruppe deutscher Touristen, die sich bloß ein bisschen über mein antiquiertes Schwäbisch wunderten. Ich klaute einem der Typen seinen Reisepass und reiste damit nach Deutschland ein.

In Osnabrück bei Cousin Waldemar angekommen, erfuhr ich, dass Punk in Deutschland schon seit Jahren out sei, und ich, um hier nicht negativ aufzufallen Grunger, Raver oder Hip Hopper werden sollte. Oder Nazi, das sei besonders in Ostdeutschland gerade in. Ich war am Boden zerstört, der ganze lange Weg völlig umsonst. Dann hörte ich im Radio dieses Lied: https://www.youtube.com/watch?v=hTWKbfoikeg das gerade frisch in den Charts lief, und es war um mich geschehen. Ich wusste nun, das ganze Leiden, die Gefahren und Entbehrungen der Flucht haben sich gelohnt. Seitdem lebe ich nun hier und bin glücklich und zufrieden.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
letatlin  23.06.2023, 22:44

So, das war die scherzhafte Antwort, ich schätze aber, du hättest auch gern eine ernsthafte. Meine deutschen Vorfahren gründeten 1823 eine kleine, feine, deutsche Kolonie in der Ostukraine etwas nördlich von Mariupol (ja genau da, wo jetzt gerade gekämpft wird). Ein Teil davon kam aus Schwaben, ein Teil aus Westpreussen, einige polnische Vorfahren habe ich auch, denn zu den Westpreußen haben sich einige Preußen polnischer Abstammung dazugesellt, jedenfall habe ich ein halbes dutzend polnischer Nachnahmen im Stammbaum meines Großvaters entdeckt, den mir ein entfernter kanadischer Verwandter vor Kurzem zusandte.

Dort lebten sie unter sich glücklich und zufrieden bis 1914, wobei ein Teil um die Jahrhundertwende nach Kanada auswanderte, weil das Land in den Kolonien langsam knapp wurde, und man hatte die Wahl: entweder Sibirien oder Kanada (Kanada war die bessere Wahl, wie sich später herausstellte) Dann kam es Schlag auf Schlag: Erster Weltkrieg, die beiden Revolutionen, Bürgerkrieg (wo die vor allem vom ukrainischen Machno-Anarchisten drangsaliert wurden). Die haben es irgendwie ganz besonders auf die deutschen Kolonisten abgesehen. Dann kam die NEP-Zeit als kleine Verschnaufpause. Dann kam Stalin und mit ihm die Kollektivierung, Entkulakisierung, Holodomor, die Säuberungen von 1937, denen alle meine Urgroßväter zum Opfer vielen. Dann der Krieg, wobei sie knapp einer Erschießung durch die Rote Armee entgingen (die Deutschen kamen 15 min. früher ins Dorf und verhinderten es). Dann 1943 die Flucht nach Deutschland, dort lebten sie 2 Jahre bei irgendwelchen Bauern in Sachsen-Anhalt. Dann die Deportation hinter den Ural. Gulag, Verbannung, von da aus ging ein Teil nach Tadschikstan (drei meiner Großtanten haben in der Verbannung deutsche Kriegsgefangene geheiratet, einer hatte Tuberkulose, wegen der trockenen Wüstenluft, ging es dahin) von da aus ging es sukzessive seit Anfang der 70er nach Westdeutschland, zu den Verwandten, die da geblieben sind, bzw. zu den Verwandten des einen kriegsgefangenen Ehemannes. Wir kamen 1991 als letzte Nachzügler nach, landeten gleich in Ostdeutschland, in Sachsen, und mussten da erstmal klarkommen.

Wir wussten nicht nur etwas über die deutsche Kultur und die Sprache. Wir haben sie gelebt. Auch ich habe als Kind schon Deutsch gekonnt, wenn auch nicht so gut wie die Älteren. Ich war damals 15, als wir her kamen. Habe hier ganz normal die Schule beendet, Ausbildung gemacht, Abitur, dann Studium. Ich verfüge über zwei akademische Abschlusse, und bin in meinem Traumberuf als Bildender Künstler erfolgreich. Punk bin ich trotzdem geworden. In Leipzig der frühen 90er konntest du nur Punk sein oder Nazi. Der ganze Grunge-Kram war was für verpeilte Gymnasiasten, aber Nirvana höre ich immer noch ganz gerne.

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Blacki126 
Fragesteller
 24.06.2023, 22:00
@letatlin

Bei deiner ersten Antwort wären mir fast die Augen ausgefallen vor Lachen;) Du bist ist echt kreativ im schreiben! Bei dem ersten Punkt, mit dem Schäferhund würde ich sogar noch zustimmen;)

Danke, dass du mir deine Geschichte geschrieben hast! Unglaublich interessant!

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Ich kann nur aus der Sicht von meinen (Groß)Eltern reden. Für sie war es nicht so einfach. Es war anfangs sehr schwer für sie, da sie die deutsche Sprache nicht so gut beherrschten. Damals wurde in Russland erzählt dass Deutschland das beste Land ist was die Lebensweise betrifft. Sie haben viel erwartet und hatten viele Hoffnungen. Es war teilweise so wie sie es sich vorgestellt hatten. Es ist Minimum 30 Jahre her also noch zur Zeit der Sowjet Union.Auf sie kam viel Papierkram dazu bla bla bla und letztendlich bereuen sie die Entscheidung nicht nach Deutschland gekommen zu sein.

Also ich selbst bin zwar in Deutschland geboren, aber meine Mutter und ihre Eltern sind Russlanddeutsche, aus deren Sicht kann ich das mal beschreiben.

Erst mal zum Hintergrund, bis zum ersten Weltkrieg ging es den Deutschen tatsächlich sehr gut in Russland. Sie waren größtenteils unter sich, ernährten sich selbst, hatten zum Teil sogar eigene Schulen, in denen Deutsch unterrichtet wurde. In dem ersten Weltkrieg waren die Russlanddeutschen dann die ersten, die zum Sündenbock erklärt wurden. Das hat aber erst mal nicht viel am Wohlstand geändert.

Schlimm wurde es mit der Oktoberrevolution, die Deutschen wurden wie auch viele Russen vollständig enteignet, bei der Verteilung wurden sie oft aber sehr benachteiligt behandelt oder gar nicht erst berücksichtigt. Zusätzlich wurden viele der Männer in Arbeitslager verschleppt. Die Hungersnot in den 20er und 30er Jahren haben viele nicht überlebt, überproportional viele Russlanddeutsche mussten sterben. Zu Stalins Zeiten wurde das bekanntlich nicht besser, eher schlimmer.

Spätestens da hatten viele Russlanddeutsche den Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren. Dort könne man in Freiheit und Reichtum (verhältnismäßig) leben, was ja auch zumindest zum Teil stimmte und sich für die meisten erfüllt hat.

In den 60ern und 70ern gelang einigen die Flucht über Drittländer. Offene Grenzen gab es erst im Zuge der Perestroika, die dann von vielen Russlanddeutschen schnellstmöglich ausgenutzt wurden. Die Launen der Sowjets waren nur zu gut bekannt.

Warum deine Nachbarn Putin-Fans sind, musst du sie aber schon selbst fragen. Viele Russlanddeutsche sind ja eher konservativ, könnte daher kommen. Aber ich kenne persönlich niemanden, der Putin wirklich toll findet.

letatlin  23.06.2023, 20:22

Welche Drittländer? DDR oder sowas? Da kam doch auch niemand raus. Der ganze Ostblock war Sperrzone. Höchstens über Jugoslawien hätte man eventuell noch flüchten können, weil die Jugos ihre Grenzen gen Westen nur lasch überwachten. Aber da durften, wenn überhaupt nur Bonzen Urlaub machen, der gemeine Bauer aus der deutschen Kolchose in Kasachstan kam da niemals hin. Nein, meine Familie ist seit Anfang der 70er sukzessive ganz normal über das Vehikel der Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen.

Meine Großeltern waren hier im Krieg als Flüchtlinge und wurden hier eingebürgert. Mussten dann 1945 wieder zurück nach Mordor, weil sie zunächst in der späteren sowjetischen Besatzungszone gelandet sind. Ein paar Verwandte haben es aber in den Westen geschafft und haben seit den 60ern nach und nach ihre Leute mittels der besagten Familienzusammenführung rausgeholt. Die Wolgadeutschen, die seit 1941 in der kasachischen Kulundasteppe hockten, hatten diese Möglichkeit freilich nicht und konnten erst ab 1989 überhaupt aussiedeln, weil, dank Gorbi, konnte nun Hinz und Kunz einem aus Deutschland eine Einladung schicken und nicht nur Verwandte ersten Grades. So war das.

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JimBeammm  23.06.2023, 20:42
@letatlin

Ab den 50ern wurden vereinzelt Auswanderungsanträge bewilligt. Bessere Chancen hatte man, wenn man nach Südamerika auswanderte und von da aus nach Deutschland. Es gab aber auch einige, die irgendwie auf Schiffe nach Amerika (sowohl Norden/USA als auch Südamerika) gelangten, wohl wissend, dass sie erschossen werden würden, sollten sie erwischt werden. Auch über China, Korea oder Mittelasien gab es Flüchtlinge, da waren die Chancen höher, nach Amerika weiter zu kommen. Gerade China war zu der Zeit ein Chaos, ein paar Flüchtlinge aus der Sowjetunion hatten keine hohe Priorität. Das sind aber Einzelfälle, die allermeisten kamen zur Gorbatschows Zeiten.

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letatlin  23.06.2023, 21:26
@JimBeammm

Wie bitte? Lies bitte nochmal meinen Kommentar! Meine ganze Verwandschaft (und die ist groß) ist seit 1971 sukzessive nach Deutschland ausgewandert (Wir kamen als letzte Nachzügler 1991 dazu). Ganz normal per Flugzeug über Scheremetjewo 2 nach Frankfurt oder Stuttgart, nachdem natürlich zig unserer Ausreiseanträge abgelehnt wurden. Insgesamt waren es ca. 70 000, die bis 1989 ganz normal auf diese Weise auswanderten. Allein 1976 waren es 10 000. In diesem Jahr kam Tante Luzia mit ihrer ganzen Sippe in Stuttgart an. Wo hast du diese abgefahrenen Infos her? Über Südamerika, Korea und China bis nach USA, wozu das, wenn wir bereits Verwandte in Bielefeld hatten, die bei der Botschaft einen Ausreiseantrag für uns stellten? Alter, seid ihr auch Wolgadeutsche aus der Kulundasteppe, oder woher kommen diese Märchen?

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JimBeammm  23.06.2023, 22:36
@letatlin

Ich kenne das aus Geschichten von Verwandten mütterlicherseits, Onkel Tanten, Oma, Opa + Geschwister von Oma und Opa, die haben sich natürlich extrem dafür interessierst und alle Bücher gelesen die es zu dem Thema gibt. Das sind keine Märchen davon kannst du ausgehen.

Vielleicht hatten deine Verwandte Glück? Die wenigsten hatten nach so vielen Generationen Verwandte in Deutschland, und seit Mitte der 80er konnte ohnehin jeder deutschstämmige zurück nach Deutschland, definitiv auch ohne Einladung.

Welche Wahl haben denn die Unterdrückten in den 50ern bis 70ern gehabt? Schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr werden. Mein Opa kannte einige, die über Südamerika nach DE gekommen sind. Muss man natürlich nicht glauben, ich bin überzeugt davon dass das keine "Märchen" sind.

Die Herkunft lässt sich so genau nicht sagen, Opa war Wolgadeutscher, Oma Oblast Donezk, zwischenzeitlich in Kaukasus gelebt, und noch einige andere Gebiete

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letatlin  23.06.2023, 23:14
@JimBeammm

Hm, lies noch mal meinen Kommentar durch. Fast alle Schwarzmeerdeutschen kamen 1941 unter deutsche Besatzung, kamen 1943 als Flüchtlinge nach Deutschland, wurden hier eingebürgert, etliche blieben hier, nur meine Urgroßmütter gingen mit Kindern zurück, weil Stalin ihnen eine Rückkehr in ihre Dörfer in der Ukraine versprach, außerdem hofften sie ihre Männer, die im Gulag waren, wiederzusehen (Die waren da natürlich schon längst tot). Das war also ein Fehler. Sie landeten in kleinen Bergbaustädten hinter dem Ural, dort waren auch viele verschleppte junge Ostpreußen und deutsche Kriegsgefangene. Man heiratete sogar untereinander. Ich habe drei kriegsgefangene Großonkel, der Opa von meiner Cousine war sogar ein richtig hohes SS-Tier (ist allerdings hinter dem Ural schnell zum Kommunismus "konvertiert"). Ab 1971 ging es langsam mit Einladungen (Wysow) nach Deutschland zurück. Das war mühsam, denn nur Verwandte ersten Grades durften einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen. Also bildetete man "Ketten" und holte sich gegenseitig raus. Unsere Kette war: 1971, 1976, 1978, 1980, 1984, 1987 und schließlich kamen wir 1991. Ohne eine Einladung konnte man erst ab 1989 nach Deutschland einreisen, davor nicht!

Unsere Leute haben übrigens sehr gut dort gelebt, waren alle nebenbei in der sogenannten "Schattenwirtschaft" tätig. Das war eine riesige illegale Privatwirtschaft, die in der Sowjetunion quasi parallell zur Planwirtschaft existtierte, und ohne die die Versorgung vermutlich schon viel früher zusammengebrochen wäre. Gorbatschows Reformen zielten ja auch zunächst darauf ab, diese Schattenwirtschaft in die Legalität zu überführen. Es ist zum Lachen, aber wir sind auch deswegen erst so spät hierher gekommen, weil eine Tante von mir ubedingt sicher sein wollte, dass es ihr in Westdeutschland nicht schlechter geht, sie hatten in der SU zwei Wohnungen eine Datscha, Auto, Motorrad - alles was das Herz begehrt. Onkel musste mit ihr 1987 eine Tour durch Westdeutschland machen und unsere zahlreichen Verwandten dort besuchen, um sie zu überzeugen. Wir sind also nicht aus wirschaftlicher Not dort weggegangen. Wir wollten als Deutsche unter Deutschen leben, zumidest die Älteren. Mir war das relativ egal, ich wäre auch nach Australien oder Kanada ausgewandert. Dort hatten wir auch entfernte Verwandte, die schon 1921 dahin geflohen sind. Aber so war das auch gut, deutsch konnte ich von zu Hause aus ja bereits schon eingigermaßen ganz gut. Ich war damals 15, also kein Kleinkind mehr, und kann also einiges aus erster Hand erzählen.

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JimBeammm  23.06.2023, 23:35
@letatlin

Deinen Kommentar habe ich gelesen 😁 das war bei deinen Vorfahren anders, die Sowjetunion war groß. Zu der Zeit lebten Omas Eltern im Kaukasus, bzw. Opa war im Straflager. Diese Gebiete wurden nie von der Wehrmacht erreicht. Letztlich kamen Oma und Opa mit Mama und Geschwistern 1987 nach Deutschland, ohne Einladung. Ich glaube dir ja, aber auch den Erzählungen meiner Vorfahren, die sind ebenfalls aus erster Hand. 1971 hatten die wenigsten die Möglichkeit zur Auswanderung. Deine Vorfahren haben in dem Punkt Glück gehabt, sowas gab es bei meinen Vorfahren nicht.

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letatlin  24.06.2023, 00:04
@JimBeammm

Ja klar, die Wolgadeuschen wurden 1941 geschlossen nach Kasachstan verfrachtet und bauten dort ihre Kolchosen wieder auf. Die Kaukasusdeutschen kamen zur selben Zeit über das Kaspische Meer auch dahin. Die Altaideutschen waren schon zur Zarenzeit dorthin gelangt, da sie bereits in Sibirien waren, wurden sie dort quasi vergessen. Ich habe einige Familien von dort 1991 kennengelernt, da sprachen selbst die Kleinkinder nahezu perfektes Deutsch.

Die Schwarzmeerdeutschen waren zusammen mit den Wolynien- und den Bessarabiendeutschen mit ca 500 000 die zweitgrößte deutsche Minderheit nach den Wolgadeutschen, und da sind die meisten im Krieg im deutschen Reich gelandet, deswegen die vielen Verwandten da und die zahlreichen Ausreiseanträge.

Wie deine Familie 1987 ohne Einladung nach Westdeutschland kam, ist mir scheierhaft. Wir sind auch 1991 immer noch mit einer Einladung über die Familienzusammenführung hierher gekommen. Da war es halt leichter, weil jeder eine schicken konnte. Bei den vielen Freikirchlern, Mennoniten und Baptisten zum Beispiel waren es die deutschen Glaubensbrüder, die Einladungen verschickten. Wie es bei euch ohne geklappt hat, musst du nochmal genauer erklären.

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JimBeammm  24.06.2023, 00:56
@letatlin

Da werde ich noch mal genau nachfragen, wo ganz detailliert hat mich das nie interessiert wenn ich ehrlich bin. Es war jedenfalls nie die Rede von einer Einladung, und 1987 ist auch Fakt:))

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JimBeammm  24.06.2023, 01:10
@letatlin

Nein, Oma und Opa waren die ersten aus der Verwandtschaft.

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letatlin  24.06.2023, 02:18
@JimBeammm

Ok, dann wird es spannend. Ich frage mich tatsächlich, wie die das geschafft haben, denn 1987 durften unsrere Jungs nicht mal in den Afganistankrieg ziehen. War ja im Ausland. Da würden sie ja als Deutsche sofort zum Feind überlaufen. Sobald "deutsch" in deinem Pass stand, wurdest du nicht mal als Matrose auf einem Schiff eingestellt, das ins kapitalistische Ausland fuhr. Nichts ging großartig. Deine Geschichten passen sehr gut in die 20er Jahre. Da herrschte erst Chaos und Bürgerkrieg. Dann kam die NEP-Zeit, wo Lenin so eine Art soziale Marktwirtschaft zu installieren versuchte und Privatwirtschaft in einem gewissen Maße wieder erlaubte. Da gab es wieder Handel mit dem Ausland, und die Möglichkeit zu reisen und somit auch Chancen abzuhauen. Als Stalin an die Macht kam, kassierte er ab 1929 alles wieder ein. Danach ging lange nichts mehr.

Andererseits war dieses Ausreisen zwecks Familienzusammenführung von der deutschen Seite total organisiert. Man musste es aus eigener Kraft nur nach Moskau schaffen. Dort wohnte man in einem von Deutschland angemieteten und bezahlten Hotel bis die letzten Formalitäten erledigt waren. Dann ging es in einem von Deutschland gecharterten Bus zum Flughafen. (Da stand allerdings die tschetschenische Mafia davor und verlangte Wegegeld, wer nicht zahlte, kam nicht rein, da musste man dann doch nochmal in die eigene Tasche greifen) Dann flog man mit einer Lufthansa- oder Aeroflotmachine auch von Deutschland bezahlt nach Frankfurt oder Stuttgart, da winkten einem die Verwandten zu, die bereits hier waren und umarmten einen kurz. Dann ging es mit dem Bus in das Erstaufnahmelager, dann in das zweite. Dann zum Bestimmungsort in ein Wohnheim, extra für Aussiedler gedacht, kein Asylantenheim, dort die sofortige Einbürgerung, Deutschkurs, Entschädigungszahlungen für die Zeit im Gulag (war eine hübsche Summe in den 80ern). keine andere Einwanderungsgruppe war so privilegiert wie wir, keiner wurde so der Hintern gepudert. Aber angefangen hat dieses Prozedere noch in der Sowjetunion mit dem "Wysow" aus Deutschland, man musste auch nachweisen, dass man Deutscher ist. Dann ging alles seinen Gang. Man konnte sicherlich auch "wild" nach Deutschland einreisen, aber da war man ja erst von dem ganzen Prozess ausgeschlossen, und wenn man nicht mal Verwandte hier hatte, bei denen man unterkam, wo landete man dann zuerst? Im Flüchtlingsheim? Man hatte ja auch kein Geld. In der SU durftest du offiziell 90 Holzrubel gegen 270 DM pro erwachsene Person umtauschen, auf dem Schwarzmarkt war der Kurs, als wir ausreisten, 1:30 aber umgekehrt - 30 Rubel für eine Mark. Da ging nicht viel.

Deswegen bin ich ja so gespannt auf deine Geschichte. Sowas hatte ich noch nie gehört. Alle die hier damals ankamen, hatten hier vorher schon Familie. Die ersten seit dem zweiten Weltkrieg. Als die Wolgadeutschen ab 1989 langsam ihre Kolchosen Richtung DE verließen, wurden sie ja auch erst von ihren Verwandten eingeladen, die mit Schwarzmeerdeutschen verheiratet waren, so kam langsam die Lawine ins Rollen.

Und irgendwann mal kamen auch solche, die sich "Deutsche nach Pass" nannten, so hat das mal eine Bekannte von mir einem judischen Kontingentsflüchtling aus Russland gegenüber mal ausgedrückt, um zu betonen, dass sie gar keine richtige Deutsche ist, sondern nur halt nach Pass. Ich dachte mir: "Rimma, was erzählst du hier für einen Quatsch!",- aber da dämmerte es mir, dass wir jede Menge Hottentotten jeglicher Couleur mitangeschleppt haben, mit denen wir hier noch jede Menge Spass haben werden.

Ja frag mal bei Mutti nach, das würde mich echt mal interessieren.

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JimBeammm  26.06.2023, 12:30
@letatlin

Hast Recht gehabt, es gab Verwandte, die den Antrag in Deutschland stellten. Opa hatte eine Schwester, die in Deutschland gelebt hatte. Die war bereits 1983 ausgewandert, habe da aber keine Informationen, auf welchem Weg das passiert war. Die ist jedoch noch vor meiner Geburt verstorben, die habe ich nie gekannt und war auch nie wirklich Thema. 1990 ist der Rest der Familie meiner Mutter rübergekommen, Mama als gerade noch nicht volljährige und unverheiratete durfte 1987 mit.

Es war jedoch alles so mehr oder weniger selbstverständlich, da die Familien und Verwandtschaften in der Regel recht groß sind, zumindest im Vergleich zur jetzigen deutschen Durchschnittsfamilie. Es entstand der Eindruck, jeder könne rüberkommen. Ab 1989 wurde es einfacher da es wohl auch über weitere Grade ging wie du schon schriebst. Aber dass dort jeder einen Antrag stellen konnte der dann auch bewilligt wurde, bezweifle ich, die meisten sind auch noch in den 90ern über Verwandte eingewandert.

Das Prozedere nach der Ankunft war recht ähnlich, einige Monate haben die in einer Notunterkunft gelebt, fanden jedoch recht schnell Arbeit und konnten für sich selbst sorgen bzw. sich eine eigene Wohnung leisten. Mama fand Papa, der hier schon ein Standbein, also eine abgeschlossen Ausbildung und recht gutes Einkommen hatte. Auch bei den Geschwistern + Familien meiner Mutter ging alles ziemlich schnell, da standen 5-8 Jahre nach Einwanderung die Eigenheime. Erging vielen so, ein Volk von Machern😁 ist natürlich auch den Sonderrechten zu verdanken, die andere Einwanderer oder Flüchtlinge nicht hatten/haben.

Die von dir als Märchen bezeichnete Geschichten stammen größtenteils aus Lenins und Stalins Zeiten, aber auch aus den 60ern.

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JimBeammm  26.06.2023, 12:54
@letatlin

Da hast du Recht, niemand wurde so empfangen wie die Russlanddeutschen. Ist doch aber auch ein Einzelfall auch von der Vorgeschichte her. Warum sollte der Wirtschaftsflüchtling aus sonst wo im Asyl- oder Duldungsstatus die gleichen uneingeschränkten Sonderrechte haben? Schließlich wurden Deutsche zurückgeholt, und die "Investition", wenn man es so sehen will, hat sich mit Sicherheit um ein hundertfaches rentiert. Natürlich kann man das nicht verallgemeinern, aber in meiner Verwandtschaft, die ebenfalls ziemlich groß ist, hat wirklich jeder einzelne Arbeit, ist selbstständig oder ähnliches. Oder erzieht Kinder, die später arbeiten und Steuern zahlen werden.

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letatlin  27.06.2023, 00:33
@JimBeammm

Ja, so ähnlich war das auch bei uns, man fand schnell Arbeit (sogar im Osten), baute sich ein Haus und versuchte sonst nicht negativ aufzufallen. Nur die jüngere Generation hat es nicht so mit dem Eigenheim. Ich habe keins, aber ich ziehe auch gerne alle paar Jahre um, da wäre so ein Haus nur ein Klotz am Bein.

Was mir noch eingefallen ist: man musste ja seine Deutschstämmigkeit nachweisen und zwar noch im Herkunftsland, bevor man einreiste, früher, zu unserer Zeit, ging das noch mit Hilfe der Papiere, später glaubte man hier den Papieren nicht mehr, denn man konnte in Russland der 90er jedes Dokument kaufen und zwar nicht mal beim Fälscher auf dem Schwarzmarkt, sondern man ging schlicht und einfach als Russe in das Einwohnermeldeamt rein, bezahlte dem Beamten eine gewisse Summe an Schmiergeld und kam als Deutscher wieder raus. Da wurden dann Deutschprüfungen eingeführt, und die hätten wir beide nicht bestanden, denn es reichte nicht perfekt deutsch zu sprechen, das konnte ja auch theoretisch jeder Russe lernen, man musste in seinem Heimatdialekt irgendwelche Geschichten von der Wolga erzählen. Da gab es witzige Anekdoten, wie die von einem alten Mann, der irgendwo in Semipalatinsk zur Prüfung musste, aber weder deutsch lesen noch schreiben konnte, und als die Fragebögen ausgeteilt wurden, fing er an leise im ostpreusischen Platt zu fluchen: "Donnerwetter... diese verdammten W...chser". Der deutsche Prüfer hörte das, kam zu ihm an den Tisch, nahm ihm die Blätter aus der Hand und sagte ganz streng: "So Herr Müller, sie brauchen gar nicht mehr weiter zu machen, für sie ist die Prüfung hier zu Ende!" Dem armen, alten Mann rutschte das Herz in die Hose: aus der Traum vom schönen Leben in Deutschland, was soll er bloß daheim den Verwandten erzählen? Doch dann lächelte der Prüfer: "Sie haben sie bereits bestanden!" Tja, wer nach vierzig Jahren Verbannung es immer noch nicht verlernt hat in seinem Heimatdialekt zu fluchen, musste einem nichts mehr beweisen. Nun, musste sich lediglich der Antragsteller der Prüfung unterziehen, und konnte dann den Rest der Familie, also alle Kinder und Enkel und Urenkel mitnehmen, auch wenn sie nur noch halb-, viertel- oder achtel- deutsch waren, und die ganzen nichtdeutschen Eheparthner durften natürlich auch mit, denn es ging ja offiziell immer noch um Familienzusammenführung, da machte es ja gar keinen Sinn wieder welche ausenander zu reissen. So kam es dann schließlich dazu, dass irgendwann mal ganze Großfamilien hier ankamen, wo es nur noch eine deutsche Urgroßmutter gab, und der Rest sich selbst dann mehr oder weniger als russisch empfand. Und gerade diese Familien fallen hier ganz besonders leider oft auch negativ auf und prägen so auch das Bild der Russlanddeutschen in den Medien. Weil eben die anderen so gar nicht auffallen, wie willst du einen Viktor Müller oder Julia Schmidt, die perfekt deutsch sprechen und auch sonst ihre russlanddeutsche Herkunft nicht an die große Glocke hängen, vom Rest der Bevölkerung unterscheiden? So bleiben eben nur Leute wie die Nachbarn des Fragestellers übrig, die man dann als typisch "russlanddeutsch" wahrnimmt und betrachtet. Das ist eigentlich schade, aber dass ist wohl die Schattenseite unserer guten Intergration.

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letatlin  27.06.2023, 00:55
@JimBeammm

Das war vor allem das schlechte Gewissen der Bundesdeutschen wegen dem Gulag, wo wir nach dem von Deutschland losgetretenen Krieg alle gelandet sind. Sonst wäre das auch nicht so einfach. Wenn du aus Blumenau oder Pommerode in Brasilien hier einwanderst, wirst du auch wie ein ganz normaler Brasilianer behandelt ungeachtet dessen, dass du deutsche Vorfahren hast, deutsch sprichst und dich als Deutschen empfindest. Solange du als Deutschstämmiger in deiner neuen Heimat nicht verfolgt und diskriminiert wirst, gibt es keine Notwendigkeit dich hier anders zu behandeln. Ja, die meisten sind dankbar gewesen und wollten hier gar nicht groß auffallen. Mich wundern diese ganzen negativen Berichte über die Russlanddeutschen hier, ich frage mich immer: "Wer sind diese Leute, und warum kenne ich sie nicht?"

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JimBeammm  28.06.2023, 06:43
@letatlin

Ja, da gibt's Geschichten, war immer interessant da zuzuhören. Die Familie lebte übrigens bis zum Schluss im Kaukasus. Der Chef der Firma, in der Opa nach seiner Freilassung arbeitete, schätze ihn und generell dir Deutschen in seiner Firma sehr und setzte sich für ihn ein. Zufällig hatte er guten Draht zur Partei oder war Mitglied kann ich nicht genau sagen. Hat sich auch sehr stark darüber beschwert, dass so viele auswandern würden. "Wer soll hier denn richtig arbeiten, wenn ihr alle abhaut?"

Für die negative Stimmung sind einzig und allein die Medien Schuld, als Beispiel fällt mir da diese SWR-Doku über "die Russlanddeutschen" ein. Da wird eine pro-russische Orthodoxe Familie im Alltag begleitet und interviewt, und das wird dann als repräsentative Familie gesehen.

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