Wie könnte man im Philosophieunterricht über John Rawls´ Gedankenexperiment "Der Schleier des Nichtwissens" diskutieren?

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Zuerst geht es darum, das Gedankenexperiment kennenzulernen und in den Grundzügen zu verstehen.

Eine Frage könnte an die Unterrichtsgruppe könnte danach sein, welche Grundsätze der Gerechtigkeit sie selbst bei einer Wahl „unter dem Schleier des Nichtswissens“ sie wählen würden und aus welchen Gründen. Aus Zweifeln und unterschiedlichen Auffassungen zu den vorzuziehenden Grundsätzen und unterschiedlichen Beurteilungen der genannten Gründe kann eine Diskussion entstehen.

Mit schon erreichter Kenntnis der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls könnten Überlegungen zur Beurteilung zur Diskussion gestellt werden (entweder durch Sammmlung und Sortierung von Argumenten aus der Unterrichtsgruppe für und gegen die Leistungskraft und Richtigkeit der Theorie oder durch Hineingeben von Fragestellungen, bei denen Argumente für und gegen die Gerechtigkeitstheorie entwickelt werden können).

Denkbar ist eventuell eine Aufteilung in zwei Gruppen, von denen die eine Gruppe Einwände vorbringt und die andere Gruppe eine Verteidigung versucht.

Es geht darum, auf welche Grundsätze der Gerechtigkeit (zur Grundstruktur einer Gesellschaft) in einem Urzustand/einem ursprünglichen Zustand/einer Anfangssituation unter fairen Bedingungen eine Einigung möglich ist. Untersucht wird also die Zustimmungsfähigigkeit von Grundsätzen. Daher ist ein fiktiver, hypothetischer Zustand für die Gerechtigkeitstheorie relevant (von Belang) und eine Argumentation möglich, die sich ergebenden Grundsätze als ethisch verbindlich zu beurteilen.

Die Grundsätze der Gerechtigkeit würden freie und rationale/vernünftige Personen, die sich um die Förderung ihrer eigenen Interessen kümmern, in einer Ausgangslage der Gleichheit als Bestimmung der grundlegenden Bedingungen ihrer Vereinigung/ihres Zusammenschlusses akzeptieren (annehmen). Von der persönlichen Lage mit Fähigkeiten, Zustand, Interessen/Bedürfnissen/Vorlieben und sozialer Stellung soll abgesehen werden (Ausblendung durch einen „Schleier des Nichtwissens“ [veil of ignorance]), weil sonst Verzerrungen die Wahl der Grundsätze beeinflussen (individuelle Eigeninteressen würden eine Rolle für eine parteiliche Gestaltung der Grundsätze spielen). Da in der Realität Informationen zu Fähigkeiten, Zustand, Interessen/Bedürfnissen/Vorlieben und sozialer Stellung, die jemand hat, in einigem Ausmaß vorhanden sind, handelt es sich wirklich um ein Gedankenexperiment. Die Wahl trifft im Grunde ein allgemeines Subjekt, kein individuelles Subjekt.

Beispiele für mögliche Fragestellungen für eine Diskussion:

  • Können aus der Wahl unter einem Schleier des Nichtwissens eindeutig die Grundsätze der Gerechtigkeit abgeleitet werden, die Rawls als Ergebnis annimmt?
  • Kann unter dem Schleier des Nichtswissens eine rationale Wahl nur die Bevorzugung eines Unterschiedsprinzips/Differenzprinzips (difference principle), sein, nach dem Ungleichheiten so beschaffen sein sollen, daß sie zum größten Vorteil der am schlechtesten Gestellten sind und mit Ämtern und Stellungen verbunden, die allen unter Bedingungen echter Chancengleichheit offen stehen? Im größten Vorteil der am schlechtesten Gestellten steckt eine entscheidungstheoretische Maximin-Regel (das Minimum wird maximiert). In einer Lage der Unsicherheit soll der ungünstigste denkbare Fall verhältnismäßig vorteilhafter für das eigene Interesse sein als bei anderen möglichen Grundsätzen. Ein Einwand dagegen ist: Jemand könnte etwas risikobereiter und optimistischer sein. Das tatsächliche Eintreten des ungünstigsten denkbaren Falles könnte für wenig wahrscheinlich gehalten werden, der mögliche Gewinn für das eigene Interesse bei einer etwas riskanteren Wahl als hoch. Warum sollte diese Wahl nicht als rational anerkannt werden?
  • Warum fällt die Wahl nicht auf einen Gesamtnutzen oder einen Durchschnittsnutzen?
  • Kann unter dem Schleier des Nichtswissens die Vorrangregel für das Prinzip der gleichen Freiheit (principle of equal liberty) vor dem Unterschiedsprinzip/Differenzprinzip (difference principle) eindeutig abgeleitet werden? Könnte es nicht vorteilhaft sein, manchmal etwas weniger Freiheit zu haben, dafür aber materiell bessergestellt zu sein?
  • Liegt in dem urspünglichen Zustand mit einem Schleier des Nichtwissens schon eine gewisse Auffassung, was gerecht ist, nämlich eine Unparteilichkeit und eine Gleichberechtigung (Grundsätze sollen für alle zustimmungsfähig sein)? Ist also, bevor Grundsätze der Gerechtigkeit abgeleitet werden, schon ein Stück weit eine Vorentscheidung gefallen und die Theorie damit zirkulär?
  • Ist eine rationale Wahl nach dem eigenen Interesse eine ausreichende Grundlage, Grundsätze der Gerechtigkeit zu begründen und sie als richtig und gut zu beurteilen? Sind keine Ziele als Kriterien, keine Wertorientierungen, keine Theorien des Guten erforderlich, um etwas als nützlich/vorteilhaft/im eigenen Interesse zu beurteilen?
  • Wie groß ist die Begründungsleistung durch das Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium)? Grundlegende Überzeugungen sollen in einen widerspruchsfreien Zusammenhang gebracht werden, indem wohlüberlegte einzelne Urteile und Grundsätze bei Abweichungen aneinander angepasst werden (was in beide Richtungen denkbar ist) und so eine Übereinstimung zustandekommt. Reicht eine solche Kohärenztheorie als Rechtfertigung aus?

Gute Darstellung:

https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/filosofix/was-ist-gerecht-gedankenexperiment-schleier-des-nichtwissens

Ich spiele Canaster, ein Kartenspiel. Ich weiß genau wie mein Gegenüber, welche Karten im Stock sind. Was ich nicht weiß, wenn ordentlich gemischt ist, wie sie verteilt sind. Obwohl ich also die Gesamtheit (Vergangenheit) kenne, ist der Schleier des Nichtwissens eigentlich kein Gedankenexperiment, sondern Realität. Wenn ich eine Karte ausspiele, weiß ich nicht oder nur sehr ungenügend, ob sie mein Mitspieler zu seinem Vorteil nutzen kann. Rawls Empfehlung: Tun wir mal so, als ob wir a) keine Ahnung, b) keine Interessen und c) keine gesellschaftlich-kulturelle Tradition hätten ist überflüssig. Selbst wenn wir die Vergangenheit, den Kartenstock, kennen (d.h. auch richtig interpretieren) würden, sind Entscheidungen in die Zukunft immer unter dem Schleier des Nichtwissens. Sie sind aber definitiv unter dem Schleier eingebildeter Strategien, auf das eigene Wohl ausgerichteter Hoffnungen und Erwartungen. Wir haben einen Zwang zur Wahl (Sartre) in eine immer ungewisse Zukunft. Aber wir haben nur eine Wahl zum nächsten Schritt. Die Wahl, eine vollkommen neue Ordnugnsgrundlage zu schaffen, wie Rawls es unterstellt, hat es nie gegeben.

Wer hätte 1975 (Gründung von Microsoft in einer Garage) prognostiziert, dass dieses Unternehmen mal zum größten der Welt wird und Bill Gates zum reichsten Mann aufsteigt? Und war das "gerecht"? Wie soll das gemessen werden?? War es die Absicht von Bill Gates, der reichste Mann der Welt zu werden oder war es das Bestreben, eines Computerfreaks, aus seinem Interessengebiet Positives zu schaffen? Wer hätte vor der Französischen Revolution diese vorausgesagt und erst recht Napoleon als dessen "Erlöser" aus dem selbstgeschaffenen Chaos? Was hat es Napoleon genutzt, dass er sich für den größten Feldherrn seiner Zeit gehalten hat, wenn seine Generäle versagt haben? Sie alle haben unter dem faktischen Schleier des Nichtwissens gehandelt und die Welt ist nicht unbedingt gerechter geworden. John Rawls Gedankenexperiment ist eine Illusion. Oder, um nochmal in die Geschichte zu schauen: Hätte Cäsar erwartet, dass ihn ausgerechnet der Nicht-Militarist Oktavian als Augustus beerbt? Immerhin galt Augustus als "Friedensfürst" (später von den Christen auf Christus umgemünzt). Wie lange haben Friede und Gerechtigkeit des Kaiser Augustus gehalten?