Was versucht Nietzsche in seinem Text "Der Wille zum Leiden und die Mitleidigen." zu vermitteln bzw. was sind die Hauptaussagen?

1 Antwort

Wir haben hier ein Prachtstück philosophischer Satire vor uns. Würde sowas heute im Kabarett vorgetragen, würden die Leute lachen und klatschen und nach Hause gehen, ohne es verstanden zu haben, weil es im Grunde eine ernste Psychoanalyse ist. Wie bei allen guten Stücken muss man lesen bis zum Ende, weil da erst die Pointe, die zweite Klammer steht: Die Mitfreude als Gegenentwurf zum Mitleiden.

Und wer den letzten Abschnitt genau liest, merkt, dass Nietzsche darin offenbart, dass er weiter vorne dem „falschen Mitleiden“ die Maske vom Gesicht reißt. Da redet er vom Mitleiden, das sich anderen aufdrängt ohne sich wirklich für den anderen zu interessieren. Es geht um die pharisäerhaften Mitleider, die sich jedes Mitleiden im Himmel extra ankreiden lassen. Es geht um die missionarischen Mitleider, die neben den Teller Suppe ein Heiligenbildchen der richtigen Religion legen.

Jetzt muss man die Zeit Nietzsches etwas kennen und seine Lebenserfahrung. Leid und Mitleid kannte Nietzsche zur Genüge. Falsche Mitleidende, die für gegebene 5,- € gleich 10,- € raushaben wollten, waren ihm zur Genüge über den Weg gelaufen. In diesem Beitrag sind aber auch wichtige Kernsätze seiner Lebensüberzeugung versteckt:

„… daß es eine persönliche Notwendigkeit des Unglücks gibt, daß mir und dir Schrecken, Entbehrungen, Verarmungen, Mitternächte, Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so nötig sind wie ihr Gegenteil, ja daß, um mich mystisch auszudrücken, der Pfad zum eigenen Himmel immer durch die Wollust der eigenen Hölle geht.

Die stabile, selbstständige und autarke Persönlichkeit muss reifen können, auch durch herausfordernde Erlebnisse. Das steht in Kontrast zur heutigen Einstellung des Bewahrens und Behütens, der Rundumabsicherung und dem Versichert sein gegen jede erdenkliche Unbill. Er nennt das:
Religion der Behaglichkeit. Ach, wie wenig wißt ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmütigen! denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die miteinander großwachsen oder, wie bei euch, miteinander – klein bleiben!

Nietzsche, dieser Anti-Gutmensch in Person, der fördert durch Fordern, wäre heute in die rechte Ecke geschoben. Dem hält Nietzsche entgegen:

„Wenn ihr Anhänger dieser Religion dieselbe Gesinnung, die ihr gegen die Mitmenschen habt, auch wirklich gegen euch selber habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswert, vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfindet: nun, dann habt ihr, außer eurer Religion des Mitleidens, auch noch eine andere Religion im Herzen, und diese ist vielleicht die Mutter von jener
– die Religion der Behaglichkeit.“

Nietzsche beharrt darauf, seinen eigenen Weg ohne Einmischung gehen zu dürfen, auch und gerade wenn er mit Leid – mit Wollust durch die eigene Hölle gehen - verbunden ist. Das ist keine Lebensphilosophie für zarte Pflänzchen. Das passt nicht in die Präsentation von Versicherungsmaklern und Politikern. Der Wille zum Leiden ist der unbedingte Wille, seinen eigenen Weg gehen zu wollen, ohne Einmischung, auch ohne fürsorgliche Einmischung. Und Freundschaft bedeutet nicht nur, sich mit dem Freund freuen, es bedeutet auch, mit dem Freund gemeinsam Leid auszuhalten. Echtes, verstehendes Mitleiden ist ein im Mitleiden aushalten, dem Freund in seinem Prozess der Erkenntnis, der auch über Leiden führt, zur Seite zu stehen ohne falsche Besänftigung.

nicomustermann 
Fragesteller
 09.05.2016, 21:32

Ich danke dir ;) 

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