Was meint Husserl mit "Substratwesen" und "Substratkategorien?

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Substratkategorien: Kategorien, die sich auf Substrate (Zugrundeliegendes) beziehen

Substratwesen: Wesen eines Substrats (Zugrundeliegenden)

Annäherungsversuche können davon ausgehen, welche Bedeutung die einzelnen Begriffe haben, von denen Zusammensetzungen gebildet sind.

Ein Substrat ist das Zugrundeliegende (griechisch: τὸ ὑποκείμενον [to hypokeimenon]).

Eine Kategorie (griechisch: κατηγορία [kategoria]) ist in logischer Hinsicht ein Grundbegriff, ein den einzelnen Ausdrücken einer Aussage, mit denen Dingen in einen Urteil Eigenschaften/Merkmale zugesprochen oder abgespochen werden, übergeordnetes Bedeutungsfeld, in ontologischer Hinsicht ein Seinsbereich.

Ein Wesen ist im philosophischen Sprachgebrauch einerseits das einzelne Exemplar einer Gattung, das durch sich selbst bestehende konkrete Individuum, andererseits die allgemeine und gleichbleibende Bestimmtheit und damit die Eigenart, das, was etwas ausmacht.

Die zusammengesetzen Ausdrücke sind im Werk eingehender zu untersuchen:

Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913)

Darin ist einer materialen (inhaltlichen/sachhaltigen) Ontologie eine formale Ontologie vorgeordnet, die Grundbestimmungen der Gegenstände als solcher unabhängig von jeder spezifisch materialen Bestimmtheit zuordnet.

Es gibt Aussagen, wie Edmund Husserl einzelne Begriffe der Wortzusammensetzungen versteht.

§ 3

„Zunächst bezeichnete »Wesen« das im selbsteigenen Sein eines Individuum als sein Was Vorfindliche. Jedes solches Was kann aber »in Idee gesetzt« werden. Erfahrende oder individuelle Anschauung kann in Wesensschauung (Ideation) umgewandelt werden - eine Möglichkeit, die selbst nicht als empirische, sondern als Wesensmöglichkeit zu verstehen ist. Das Erschaute ist dann das entsprechende reine Wesen oder Eidos, sei es die oberste Kategorie, sei es eine Besonderung derselben, bis herab zur vollen Konkretion.“

§ 10

„Wir merken hier noch an, daß wir unter Kategorien einerseits die Begriffe im Sinne von Bedeutungen verstehen können, andererseits aber auch und noch besser die formalen Wesen selbst, die in diesen Bedeutungen ihren Ausdruck finden. Z. B. »Kategorie« Sachverhalt, Vielheit u. dgl. besagt im letzteren Sinne das formale Eidos Sachverhalt überhaupt, Vielheit überhaupt u. dgl.“

Bei den formal-ontologischen Kategorien werden unterschieden (§ 11):

a) syntakische Kategorien: Kategorien, die den Formen entsprechen, durch die syntaktische Gegenständlichkeiten aus anderen Gegenständlichkeiten abgeleitet sind; zu den syntaktischen Kategorien gehören z. B. Sachverhalt, Relation, Einheit, Vielheit.

b) Substratkategorien: Kategorien, die sich auf Substrate (Zugrundeliegendes) beziehen, Gegenstände erster oder unterster Stufe oder von einer anderen Betrachtungsweise her letzte Begriffe, die nichts mehr von syntaktischer Formung in sich enthalten

Für Husserl bezeichnet Wesen zunächst »das im selbsteigenen Sein eines Individuums als sein Was Vorfindliche«, das in individueller Anschauung empirisch erfahren wird. Es kann durch Wesensschau» ‚in Idee gesetzt werden'«. Das Erschaute ist dann das entsprechende reine Wesen oder Eidos, sei es die oberste Kategorie, sei es eine Besonderung derselben, bis herab zur vollen Konkretion. Jedem individuellen Gegenstand gehört danach ein »Wesensbestand« »als sein Wesen« an und jedem Wesen entsprechen mögliche Individuen als »seine faktischen Vereinzelungen«.

Wesen in einem engen Sinn bezeichnet Husserl auch als Eidos.

Husserl nimmt in § 14 Begriffsunterscheidungen vor. Bei den Substratkategorien ist dies eine Gegenüberstellung von „sachhaltiges letztes Wesen“ und „Dies da!“. Das „sachhaltiges letztes Wesen“ wird auch „formloses letztes Wesen“ genannt, „Dies da!“ auch τόδε τι (griechischer Ausdruck, von Aristoteles verwendet) und „pure, syntaktische formlose individuelle Einzelheit“.

Außerdem wird eine Untersuchung eines Wesenszusammenhanges zwischen „sachhaltiges letztes Wesen“ und „Dies da!“ vorbereitet. Jedes Dies-da hat nach Husserls Auffassung einen sachhaltigen Wesensbestand, der den Charakter eines sachhaltigen/formlosen letzten Wesens hat. In einer Einzelheit steckt also auch etwas Allgemeines. Als Wesen in einem engen Sinn nennt Husserl dies Eidos (griechisch: εἶδος). Dabei geht es darum, das Wesen eines Phänomens zu erfassen. Ein Verfahren mit diesem Ziel ist die eidetische Reduktion.

In einer Ideation (Wesensschau/Wesenserschauung/Wesensschauung/Wesensanschauung/eidetischen Intuition) werden an Exemplaren/konkreten Erscheinungen typische Eigenschaften/Wesenseigenschaften erkannt.

Edmund Husserl, Husserliana Band 33: Die 'Bernauer Manuskripte' über das Zeitbewußtsein (1917/18). Herausgegeben von Rudolf Bernet und Dieter Lohmar. Dordrecht : Springer, 2001, S. 299 - 300:  

„Die Essenz, das Was des Substrats, ist einerseits konkretes spezifisches Wesen, das ein „Wiederholbares“ ist und wiederholbar an verschiedenen Individuen mit verschiedenen Substraten und möglichen Vereinzelungen dieses spezifischen Wesens, und andererseits das tóde ti. Das τόδε τι ist die niederste, nicht mehr spezifisch differenzierbare Spezies, individuell vereinzelt, das principium individuationis.“

Hans-Michael Baumgartner/Gerd Gerhardt/Klaus Konhardt/Gerhard Schönrich, Kategorie, Kategorienlehre. V. Vom Neukantianismus bis zur Gegenwart. 4. Phänomenologie und existentiale Hermeneutik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 4: I – K. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1976, Spalte 758 – 759:  

„Neben dieser Gliederung der formalen logischen K. in Bedeutungs-K. und formal gegenständliche K. im eingen Sinn entwickelt Husserl am Leitfaden der logischen Grammatik eine weitere Unterscheidung in syntaktische K. und Substrat-K. Gemäß der ihnen vorgeordneten Korrelate der syntaktischen Formen bzw. syntaktischen Gegenständlichkeiten (Sachverhalt, Relation, Beschaffenheit usw.) einerseits, den analog zu syntaktischen Substraten oder Stoffen gewonnenen letzten Substraten andererseits teilt sich ihm die formale Region »Gegenständlichkeit - überhaupt« in letzte Substrate und syntaktische Gegenständlichkeiten. In der Anwendung dieser K.-Differenz auf die materialen sachhaltigen Regionen führen insbesondere die Substrat.-K. zu der für alle materialen Ontologien wesentlichen Grunddisjunktion von »sachhaltiges letztes Wesen« und »dies da« (τόδε τι).

Husserls Grundunterscheidung der K., für deren reflexiv-kritische Verwendung in philosophischen Kontexten und zur vermeidung von Mißverständnissen er die strikte Unterscheidung von K. als Begriff (Bedeutung) und K. als kategoriales Wesen (bedeutete Gegenständlichkeit) einführt, ist gewonnen am Leitfaden der wissenschaftstheoretisch relevanten Unterscheidung von formaler Ontologie (logische Region des Gegenstandes überhaupt) und materialer Ontologie (materiale Regionen letzter sachhaltiger Bestimmtheiten verschiedener Gegenstände). Sie führt ihn zu einer Differenzierung der K. nach formalen, d. h. sowohl logisch-apophantischen wie logisch-ontologischen Grundbegriffen von Gegenständen überhaupt, die als unbedingt notwendige Konstitutionsbestimmtheiten eines Irgendetwas analogen Charakter besitzen, und nach regionalen K., die als oberste materiale Gattungen synthetisch-apriorische Wesenswahrheiten zum Ausdruck bringen.“

K. = Kategorien  

d. h. = das heißt

Julia Jansen, Kategorie. In: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Unter Mitarbeit von Klaus Ebner und Ulrike Kadi herausgegeben von Helmuth Vetter. Hamburg : Meiner, 2004 (Philosophische Bibliothek ; Band 555), S. 303:  

„Sowohl bei der materialen Ontologie als auch bei der formalen Ontologie sind syntaktische Gegenständlichkeiten und die ihnen zugehörigen K.n von den formalen Substraten zu unterscheide n, auf die sie jeweils verweisen. In der formalen Ontologie handelt es sich hierbei um das Leersubstrat »etwas überhaupt«. Den regionalen Ontologien […] liegen hingegen »sachhaltige Substrate als Kerne aller syntaktischen Bildung« […] zugrunde, denen die Substratkategorien des „Dies da!“ und des „sachhaltig letzten Wesens“ entsprechen […].“

K. = Kategorien

Rochus Sowa, Eidos. In: Husserl-Lexikon. Herausgegeben von Hans-Helmuth Gander in red. Zusammenarbeit mit Thiemo Breye, Daniel Kreuz, Sarah Eichner, Andreas Friedrich, Katharina Keßler, Philippe Merz, Andreas Staiti, Frank Steffen, Maren Wehrle. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010, S. 70:  

„Wesen im weiteren, gegenüber der Unterscheidung „rein – unrein“ neutralen Sinne bezeichnet allgemeine Bestimmungen, die wir Gegenständen prädikativ oder vorprädikativ (in kategorial artikulierten Erfahrungen; KATEGORIALE ANSCHAUUNG) zuschreiben und die sprachlich durch einfache oder komplexe Substantive, Verben und Adjektive ausgedrückt werden. Wo Wörter keine zwei- oder dreistelligen Gegenstandsbestimmungen (z. B. „Haus“ oder „grün“) ausdrücken, bezeichnet „Wesen“ in Bezug auf einzelne Individuen „das im selbsteigenen Sein eines Individuums als sein Was Vorfindliche“; dieses Was ist etwas, das prinzipiell „auch ein anderes Individuum haben [kann]“ (III/1, 13) und das sich als „begriffliches“ Allgemeines in Stufen der Allgemeinheit (Art und Gattung) einordnen lässt. „Sage ich ‚dies ist grün', so ist das Subjekt durch den Begriff, das Wesen Grün ‚bestimmt', es ‹ist› etwas des Wesens Grün.“ (III/2, 582) Wenn ein Gegenstand in einem anschaulich erfüllten Urteil überhaupt als Gegenstand-worüber eines Sachverhalts gesetzt ist (SACHVERHALT), so ist er gesetzt als „ein Dies, das mit irgendeinem Wesen gesetzt ist (XXVI, 210) und „erfährt […] durch das höhere oder niedere Allgemeine seine Wesensbestimmung“ (XXIV, 302).“

S. 70 – 71: „Demgegenüber gilt vom Wesen im engeren, prägnanten Sinne, das Husserl als E. bezeichnet. „Das Eidos, das reine Wesen, kann sich intuitiv in Erfahrungsgegegebenheiten, in solchen der Wahrnehmung, Erinnerung usw. exemplifizieren, ebensogut aber auch in bloßen Phantasiegegebenheiten. Demgemäß können wir, ein Wesen selbst und originär zu erfassen, von entsprechenden erfahrenden Anschauungen ausgehen, ebensowohl aber auch von nicht-erfahrenden, nicht daseinserfassenden, vielmehr ‚bloß einbildenden' Anschauungen." (III/1, 16; s. III/1, 172, 277, 345,; XXVi, 126; II, 68 f.; XXIV, 22, 230; XVI, 13; XIX/2, 691)

z. B. = zum Beispiel  

E. = Eidos 

usw. = und so weiter  

s. = siehe

Dieter Münch. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. In: Großes Werklexikon der Philosophie. Herausgegeben von Franco Volpi. Stuttgart : Kröner, 1999. Band 1: A – K, S. 721:  

„Im 1. Abschnitt des Werkes (»Wesen und Wesenserkenntnis« charakterisiert H.die Phänomenologie als Wesenswissenschaft: Ein individueller Gegenstand ist nicht nur ein Dies-da, ein raum-zeitlich individuiertes Etwas (»Tatsächlichkeit«), sondern besitzt Was-Bestimmtheiten, die sein »Wesen« (oder »Eidos«) ausmachen. Dieses kann in unterschiedlichen Individuen exemplifiziert sein und Gegenstand einer eigenen »eidetischen« Anschauung werden.“

H. = Husserl

Verena Mayer, Edmund Husserl. Originalausgabe. München : Beck, 2009 (Beck'sche Reihe ; 579 : Denker), S. 92 - 93:  

„Husserls terminologisch etwas unglückliche Entscheidung, den Begriff der Spezies durch den des Wesens oder Eidos zu verallgemeinern, ist durch gute Gründe gerechtfertigt. Der Ausdruck »Spezies« ist offenbar in seiner Verwendung zu sehr auf natürliche Gattungen beschränkt, als daß er der Allgemeinheit des phänomenologischen Verfahrens Rechnung tragen könnte; der Ausdruck »Idee« wiederum philosophisch zu belastet, um »vorurteilsfrei« verwendbar zu sein. Dabei ist es offensichtlich, daß die phänomenologische Reduktion nicht der Beschreibung der Details eines konkreten Erlebnisstroms dient: Wir wollen wissen, was die »wsentlichen« Strukturen von Bewußtseinsvorgängen und ihren Korrelaten sind, und zwar wesentlich nicht nur in dem Sinne, daß sie sich gewöhnlich in empirischen Subjekten finden, sondern eher im Sinne »notwendiger und hinreichender Bedingungen«, die allerdings nicht sprachlich fixiert sein müssen.

Diese Strukturbedingungen bezeichnet Husserl nun eben mit dem Begriff des »Wesens« oder der »Essenz«. Da es nicht um konkrete Erlebnisströme, sondern um deren essentelle Strukturen geht, ist dann auch die Rede von einem »reinen« oder »transzendentalen« Bewußwtsein gerechtfertigt: es ist nicht aus empirischen Subjekten generalisiert, sondern es wird von empirischen Subjekten exemplifiziert.“

S. 93: „Angeschaut wird also ein Einzelnes, erschaut das Allgemein; und so vollzieht sich die Ideation nicht etwa in einer mystischen Schau von Ideen, die selbst als individuelle Dinge aufgefaßt würden, sondern sie »reduziert« das Einzelne auf seine Wesensstrukturen und heißt deshalb eidetische Reduktion.“

Vielleicht kann ich dir auf der methodischen Seite weiterhelfen: in meiner Beschäftigung mit Sprachwissenschaften habe ich mich mit sprachlichem 'Superstrat' befasst - das bezeichnet ein Schichtensystem mit Überlagerungen, von denen eins zugrundeliegt, das andere dominant wird. In der Sprachgeschichte gibt es immer gesellschaftliche oder Herrschafts-Gründe für das eine und das andere. 

Du kommst sicher weiter, wenn du mal die Begriffe 'substrat superstrat' googelst - immerhin kannst du dann die abstrakten Bezüge besser verstehen.