Was ist mit der ambivalenz der Technik genau gemeint?

4 Antworten

Hi,-

Ambivalenz = Doppelbindung - im Sinne von Anbindung an positive wie ebenso negative Entwicklungs- und Auswirkungsoptionen für die Gesellschaft wie auch für das Individuum.

Aktuelle Beispiele: "Big Data" und "Internet der Dinge" als Doppelbindung von besserer Informationsvernetzung zu Kontrollmöglichkeiten und Algorhythmisierung menschlicher Profile oder "Globalisierung" zu Erpressbarkeit von Staaten und nationaler Wirtschaftspolitik. Die Beispiele sind nahezu zahllos und reichen bis zur Herstellung eines Küchenmessers, das man so oder so verwenden kann.

Allen Beispielen ist jedoch auch gemein, dass der Begriff eigentlich irreführend ist und vom wesentlichen Sachverhalt ablenkt. Denn in jedem Beispiel zeigt sich, daß nicht der technische Sachverhalt oder Gegenstand "ambivalent" ist sondern das System in welchem er eingesetzt wird - sowohl als gesellschaftliches wie auch als psychosoziales eines Individuums.

Um Letzters auch mit Beispielen zu verdeutlichen:

Ein sehr brisantes Beispiel ist z.B. die Frage ob die Pharmaindustrie systembedingt wirklich ein Interesse daran haben kann, Krankheiten, die quasi eine tragende Säule ihres Umsatzes darstellen wirklich "abzuschaffen" wenn ihr Geschätsmodell auf der fortgesetzten Behandlung der Symptome basiert und Börsen wahrscheinlich verrückt spielen oder kollabieren und zig-tausende Arbeitsplätze wegfallen würden wenn dieser Bereich tatsächlich wegbrechen würde. - Hier geht es nicht um eine Verschwörungstheorie zu einer geheimen Ansammlung von Bösewichtern sondern um die Frage nach einem Wirtschaftssystem, daß unter dem Zwang zu möglichst hohen Renditen die "falschen" Weichen bei der Lenkung von Forschungsgeldern und -schwerpunkten aus einem Eigen- oder Selbsterhaltungsinteresse stellt.

Ein anderes Beispiel ist der Staat und seine Raucher. Solange die Steuereinnahmen im Verhältnis zu den Behandlungskosten der Folgen des Rauchens in einem positiven Saldo stehen hat der Staat kein ernsthaftes Interesse daran, dass es möglichst keine Raucher mehr gibt. Er wird eher im Bereich "symbolischen Handelns" aktiv sein als Import, Herstellung und Konsum ebenso wie bei anderen Suchtmitteln unter Verbots- und Verfolgungsdruck zu stellen. Gleiches gilt für Alkohol.

PS: Ich plädiere nicht für ein Rauch- und Alkoholverbot - Menschen überall auf der Welt brauchen auch ihre "Unvernünftigkeiten" und "Ventile" für ihren sonst meistens recht regulierten und erlebnisarmen Alltag. Aber es macht die Systematik deutlich.

Ambivalenz ist ein systemimmanenter Begriff.

Gruß



Ambivalent = Zwiespältig. Das die Technik Segen und Fluch zugleich ist, z.B. Auto hat viele Vorteile und viele Nachteile.

Hauptproblem ist wohl auch, das Technik eben nicht nachwächst, die Ressourcen gehen aus. Wir sind bequem geworden, möchten die Maschinen behalten, aber auf Dauer geht es halt nicht. So wie ein Süchtiger, dessen Suchtmittel auf Dauer zur Neige geht.

Ein Hammer kann ambivalent (positivwertig oder negativwertig) gebraucht werden: Man kann damit ein Haus bauen oder die Schwiegermutter erschlagen. Die nüchterne Frage ist nur: Ist der Hammer Verursacher des einen wie des anderen? Wird es keinen Mord mehr geben, wenn ich generell Hammer verbiete? Menschen neigen immer gern dazu, von der eigenen Verantwortung abzulenken. So auch in Bezug auf Technik. Technik kann hilfreich sein. Technik kann zerstörerisch sein. Nimm ein Smartphone: Damit kann man einen Notarzt rufen, wenn man mit einem Schwerverletzten konfrontiert ist. Man kann sich aber auch im Autoverkehr damit ablenken lassen und einen Unfall verursachen. Es sind die Menschen, die das Smartphone als Lebensretter nutzen oder sich vom Verkehr ablenken lassen.

Eine Stufe höher wird dann gern behauptet, dass die bösen Systeme uns ins Unglück stürzen. Schaut man genauer hin, sind diese von Menschen eingerichtet, werden von Menschen missbraucht. Geld ist eine nützliche Sache, aber ich kann auch Mörder damit dingen. Ohne Pharmaindustrie wären die Seniorenheime leergefegt, weil deren Bewohner ohne ihre Tablettencocktails größtenteils tot wären. Sollen wir die Pharmaindustrie abschaffen, damit die Menschen auf natürliche Weise schneller sterben, schneller ihren Krankheiten erliegen? Das Gesundheitswesen wird von Menschen eingerichtet, in dem die Pharmaindustrie ihren Platz sucht und wo wir Grenzen setzen und wo nicht: Das ist die Verantwortung einer Gesellschaft und ihrer Politiker. Wenn wir Politiker wählen, die schon mit der "hohlen Hand" geboren wurden, müssen wir uns nicht wundern, dass überall Bestechung einkehrt, wo Politiker eingrenzen und es lukrativ machen, dass man sich mit Bestechung davonstehlen kann.

Solange niemand darauf achtet, ob Politiker weniger zum Wohl des Volkes als ihrem eigenen und dem ihrer Seilschaften arbeiten, liegt ein Teil dieser Verantwortung bei uns selbst. Es ist natürlich viel einfacher, sich als Opfer des Kapitalismus und irgendwelcher Industrien zu sehen, ausgerechnet noch derer, die zu 80% unseren Lebensunterhalt garantieren. Ambivalent sind wir selbst, indem wir als Nutznießer gern mal den Ast absägen, auf dem wir selbst einen bequemen Sitz haben.

Grautvornix16  13.04.2016, 15:07

Hallo Berkersheim,- ich finde es etwas schwierig wie du den Begriff "Wir" verwendest. - In einem komplexen Politik- und Wirtschaftssystem welches zudem eine hochkomplexe Vernetzung von Abhängigkeiten in einer Art Täter-Opferverstrickung des Einzelnen erzeugt und in welchem der Einzelne in den pragmatischen Alltagsabläufe und -entscheidungen weder Gesamtzusammenhänge erfassen, noch Verantwortlichkeiten einzelner Personen geschweige denn zielgerichteten Einfluß auf diese ausüben kann existiert der Wir- und der damit verbundene individuelle Verantwortungsbegriff doch nur noch in einer sehr abstrakten Dimension. Nein - es sind die tatsächlich handlungspotenten Eliten einer Gesellschaft, die aus meiner Sicht "in die Verantwortung genommen werden müssen". - Der sog. "kleine Mann" wird ja bei der Formulierung von Vorbehalten in aller Regel auf sein fehlendes Verständnis für die Zusammenhänge des "Großen Ganzen" zurückverwiesen und mit der "Macht des Faktischen und Alternativlosen erschlagen". Ich finde, dass der Wir- und Verantwortungsbegriff in diesem Sinne differenziert werden müßte. Eine Lösung hierfür sähe ich in einer Bildungsemanzipation des "kleinen Mannes". Statt dessen haben wir aber beispielsweise ein G-8 statt einem G-10 oder -11, Arbeitsverdichtung, Überstunden-Spiralen nach oben, Informationsfluten ohne Informationsinformationen usw. usw..  Wir sind auf dem Weg in eine sog. "Schwarmintelligenz" oder einen Ameisenstaat. Da klingen Begriffe wie Selbstverantwortung des Einzelnen fast schon bildungsbürgerlich-abstrakt entrückt. Die Verantwortung kann nicht bei den Entmündigten liegen außer das sie gegen ihre Entmündigung nicht aufbegehren. Kant soll gesagt haben: "Verurteilt nicht die, die Zäune errichten sondern die, die es zulassen." Das ist sicher richtig, ändert aber nichts an dem Fakt, dass sich die Katze hier immer in den Schwanz beißt. Die gesellschaftlichen Eliten erklären uns unser System als alternativlos weil es sie zu Eliten macht. Und wir hängen in unseren Alltagszwängen und -verstrickungen wie es dieses System organisiert weil wir keine Möglichkeiten haben ad hoc funktionsfähige Alternativen zu präsentieren. Aber ich frage da: hätte ein Thomas Münzer das Modell einer (parlamentarischen) Demokratie und eines gewaltengeteilten Staates präsentieren können als er sich auf die Seite der Schwachen in den Bauernkriegen geschlagen hat. Nein - er wußte nur das das was ist falsch ist. Und in dieser Perspektive paßt das "Wir" doch nur noch sehr bedingt um Verantwortlichkeiten zu beschreiben, die gleichzeitig Alternativen formulieren sollen. Und wer dennoch ausbricht und "Verantwortung" übernimmt wird abgestraft oder hast du beispielsweise jemals davon gehört, daß z. B. ein Vater in den 70% tariffreier Wirtschaft 2 Jahre Teilzeit beantragen könnte, um sein Kind beim Heranwachsen zu begleiten, ohne seinen Job zu riskieren und damit die (soziale) Existenz und Perspektive der ganzen Familie?

Gruß

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berkersheim  13.04.2016, 20:05
@Grautvornix16

Wow, also erst einmal Respekt - auch wenn ich nicht mit allem einig gehe - das ist ein wahrhaft guter Beitrag und als nachdenkenswerte Ergänzung zu dem meinigen, den ich übrigens nach dem Deinigen auch als Ergänzung, weniger als Kontra geschrieben habe. Jetzt sage ich mal was, was heute eigentlich Tabu ist und womit ich mich evtl.in Teufelsküche bringe. In der antiken Philosophie gab es keine Meinungsverschiedenheit, dass es die der Philosophie Zugeneigten und die Denkbereiten und die Interessierten, die Politischen Menschen gibt und den Plebs, das leicht zu verführende Volk. Nicht umsonst war Rhethorik gefragt, wenn man Politiker werden wollte. Obwohl Epikur noch der am volksnaheste ist, der Frauen und Sklaven in seinem Garten zugelassen hat, der der Volksseele näher war als andere aristokratisch Abgehobene, der Rhethorik ablehnte,  ist seine Warnung vor der Politik eine Warnung sich in die Fänge des Plebs zu begeben oder wie Seneca, sich an einen plebejischen Herrscher zu verkaufen.

Bei aller Bedeutung des Status des Menschen als Gemeinschaftswesen, die Trennung in Horde und Hordenführer haben wir als Menschen noch nicht abgelegt. Da liegt der Irrtum Kants in seiner Aufklärungsschrift, auch der von Smith und den Utilitaristen. Sie glauben daran, dass alle mal zum selbst denken kommen und zu gleichermaßen emanzipierten Menschen werden. Ich glaube nicht, dass das je eintritt und fürchte, dass es immer die da oben und die da unten geben wird und dass die sloterdijksche Vorstellung vom Menschenpark so weit von der Wahrheit nicht weg ist. China, Europa, USA - alle auf dem Weg zum Menschenpark mit elitären Seilschaften und an der medialen Leine geführter Massen-Gefolgschaft. Du nennst es Schwarmintelligenz oder Ameisenstaat. Ja, das ist nicht von der Hand zu weisen. Ob meine Forderung je erfüllbar ist, dass jeder sein kleines Stück Verantwortung übernimmt, bezweifle ich selbst. Doch ihnen die Systemausreden zu zugestehen, dass sie sich vor jeder eigenen Verantwortung drücken können, halte ich auch nicht für zielführend. Letztlich entscheiden wir das eh nicht. Aber wenigstens hat man mal darüber geredet und damit ist ja noch lange kein Ende.

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Ein passendes deutsches Wort für ambivalent ist zwiespältig.

Allerdings ist die Technik nicht selbst ambivalent, sondern das Verhältnis des Menschen zu ihr. Oder anders gesagt, die Sichtweise des Menschen auf die Technik. Je nachdem, wie der Mensch die Technik nutzt, ist sie für ihn von Nutzen oder sein Schaden.

Mit einem Auto kann man einen Schwerverletzten ins Krankenhaus bringen und dessen Leben retten oder man kann damit einen Menschen überfahren und somit ein Leben beenden.

Gruß Matti