Was haltet ihr vom Neoliberalismus?

9 Antworten

Was ich wichtig finde ist, dass das Soziale und das Bedingungslose sehr breit und kräftig  in der Gesellschaft aufgestellt wird. Ich stehe voll hinter einer Ideologie des Teilens - vom Finanziellen bis zum Wissen, im privaten Bereich genauso wie auf staatlicher Ebene.

Ich habe gemerkt, dass es keine größere Erleichterung gibt, als zu geben. Und dass es das beste Klima schafft, wenn man weiß, dass man in einer Gesellschaft lebt, die einen unterstützt, wenn man Unterstützung braucht.

Muss ich darüber hinaus wirklich noch was zu Neoliberalismus sagen?

Das hängt wohl davon ab, wie du "Gesellschaftsfähigkeit" und  "Umsetzbarkeit" definierst. Natürlich ist der Neoliberalismus realisierbar, das sieht man ja auf der Welt.

Jedoch sieht ein erstrebenswertes Gesellschaftsmodell für mich anders aus. Ein System, das eine Handvoll von Menschen mit unermeßlichem Reichtum bestückt und eine große Menge von bitterer Armut. Ein System, das den Menschen ab einem gewissen Stadium vom Arbeitsprozess ausschließt. Ein System, das fortwährend alle Lebensbereiche kommerzialisiert, sodass wir eine Geisteshaltung annehmen, die "Tauschwerte" vor "Lebenswerte" stellt. Ein System, das auf negativen Emotionen wie Gier, Angst, Konkurrenzdenken und Skrupellosigkeit basiert und diese fördert. Ist ein solches System für die Allgemeinheit gut und gerecht? Wenn Glück das oberste Lebensziel vieler Menschen darstellt: sorgt dieses System für Rahmenbedingungen, die glücklich machen? Ich würde beide Fragen mit Nein beantworten.

Ein System, das die permanente Steigerung benötigt, um sich zu erhalten. Ein System, das somit immer mehr materielle Güter produziert, damit gleichzeitig auch mehr Müll und mehr Schadstoffemissionen. Ein System, das ein kräftig konsumierendes Volk benötigt, um keiner Krise zu erleiden. Ist ein solches System, dessen Todfeinde Nachhaltigkeit und Genügsamkeit sind, fähig, nötige ökologische Kriterien zu erfüllen?

Ich kann dir drei Bücher empfehlen, die deinen Horizont erweitern können:

1. "Time for change"  von Yanis Varoufakis, um unsere 'Marktgesellschaft' in ihren Einzelheiten zu verstehen.

2. "Das glücklichste Volk: Sieben Jahre bei den Piraha-Indianern am Amazonas" von Daniel Everett, um fähig zu sein, über den Tellerrand zu schauen, also abseits der Dimensionen unserer Gesellschaft zu denken.

3. "Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten." von Sahra Wagenknecht, um produktive und realistische Gedankenanstöße zu bekommen, wie eine sozialere Gesellschaftsordnung aussehen könnte.

LG


Kommt darauf an was du mit dem Begriff meinst, seit der Nachkriegszeit hat der Begriff einen Bedeutungswandel/ -umkehrung erfahren. 

Der kontinentaleuropäische Neoliberalismus bezeichnete bis in die 70er einen Ordoliberalismus bzw. Soziale Marktwirtschaft, ab dann wurde vermehrt die angelsächsische Definition, welche  Marktgläubigkeit und Trickle-Down beinhaltete, geläufig.

Die ursprüngliche Bedeutung, also der Ordoliberalismus, gefällt mir gut, die angelsächsische weniger. Heute wird der Begriff in Deutschland außerdem meistens als inhaltsleerer Kampfbegriff der Linken benutzt. 

Kajawizu 
Fragesteller
 05.10.2016, 18:51

ganz gleich für welche, was gefällt dir am "ordoliberalismus"?

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Daran scheiden sich schon lange die Geister, diese Frage ist natürlich nicht so einfach beantwortbar. In der klassischen Wirtschaftswissenschaft stehen sich Neoliberalismus und Keynesianismus gegenüber. Die heutige neoliberale Seite behauptet, dass Märkte (nur) funktionieren, wenn man sie einer eigenständigen langfristigen Entwicklung überlässt, und dass Eingriffe durch den Staat mehr Probleme schaffen, als sie lösen. Die heutige keynesianische Seite dagegen argumentiert, dass Märkte nicht langfristig sich selbst überlassen werden können, weil ohne ständige kurzfristige Eingriffe und Korrekturen durch den Staat entweder die Marktstrukturen sich zu sehr verfestigen (Monopolbildung etc) oder die Märkte an sich in Krisen und rezessiven Phasen stecken bleiben (Abwärtspiralen etc).

Ich bin eher ein Anhänger des Keynesianismus (wenn ich mir die wirtschaftspolitische Orientierung der ganzen Welt aussuchen könnte, würde ich diese wählen), aber ich muss auch die Umsetzbarkeit in der Politik beachten. Realistisch gesehen werden in einer Welt, die mehr und mehr neoliberal ausgerichtet ist, diejenigen "abgestraft", die dabei nicht mitmachen. Die Länder führen schließlich einen Wettbewerb auf vielen verschiedenen Ebenen, und eine Ebene, die seit der Globalisierung massiv an Bedeutung gewonnen hat, ist der Standortwettbewerb gegenüber Unternehmen (jedes Land möchte für Unternehmen attraktiv sein, damit diese Arbeitskräfte, Steuereinnahmen etc schaffen). Wenn ein Land nun z.B. höhere Steuern von Unternehmen verlangt, hat dieses Unternehmen (je nach Größe und Flexibilität des Unternehmens, heutzutage gibt es immer mehr und mehr Großkonzerne mit maximaler Größe und Flexibilität) ein leichtes Spiel, die Produktion in andere Länder zu verlagern, wo es ggf. niedrigere Steuern gibt, weniger Arbeitnehmerschutz vorgegeben ist, die Gehälter niedriger sind etc..

Die Welt verändert sich bei dieser Frage in einem rapiden Tempo zum Negativen, sodass auf längere Sicht Konzerne viel mehr und Staaten viel weniger Macht haben werden. Wir steuern auf eine noch viel massivere soziale Ungleichheit hin, als es derzeit schon der Fall ist, die Mechanismen des Kapitalismus werden ständig weniger zügelbar und Länder mit einer Marktwirtschaft mit starker sozialer Ausrichtung werden Probleme haben, diesen Zustand langfristig aufrecht zu erhalten.

Das kommt darauf an, wer Neoliberalismus definiert und sich damit - wie hier zu lesen - einen gefälligen Pappkameraden zum erfolgreichen Beschuss baut. Das Denken der meisten hier ist geprägt vom Entweder-Oder, der gefälligen Schwarz/Weiß-Malerei. Die gesamtgesellschaftliche Problematik ist gekennzeichnet durch die Spannungen, die einmal zwischen der Emanzipation des Individuums und der notwendigen gesellschaftlichen Klammer bestehen, weil nun mal der Mensch allein als Individuum nicht existieren kann sondern seine individuellen Fähigkeiten innerhalb einer funktionierenden Gesellschaft erst entfalten kann. Das Ideal wäre, die gesellschaftliche Klammer so zu gestalten, dass dem Individuum möglichst viel persönliche Entfaltung möglich ist, ohne die Entfaltung anderer zu stören.

Hier wird nun unterstellt, dass Liberalismus und Neoliberalismus nur die Entfaltung des Indiviuums fördern würde. Das stimmt nicht mal ganz, denn es wird eigentlich unterstellt, dass Liberalismus sich selbst belügt und nicht die Emanzipation aller will sondern unter deren Maske nur die Herrschaft weniger. Das ist eine ziemlich heftige Umbiegung der Absichten des Liberalismus in ein gefälliges Feindbild. Unausgesprochen bleibt die gegenteilige Position, dass das Individuum im Interesse einer Gesamtheit dominiert wird, wobei offen bleibt, wer das heilige unfehlbare Wesen ist, das die "wahren Werte" der Gesamtheit festlegt.

Neoliberalismus und erst recht der frühe Liberalismus hatten natürlich Ideale, die bis heute eher als Feigenblatt herhalten mussten für eine gegenteilige Entwicklung. Zerrbilder der sozialistischen Gegner haben den Feinden des Liberalismus und Neoliberalismus geholfen, unter dem Deckmantel der individuellen Emanzipation faktisch Seilschaften der Macht zu betreiben. Die Konkurrenz hat es mit gegenteiligen Seilschaften probiert und immer kamen dabei die Rechte der Individuen unter die Räder, hüben wie drüben. Historisch würde ich persönlich heute die Ideen von Liberalismus und Neoliberalismus als gescheitert betrachten, als zermalen zwischen den Betreibern der Machtseilschaften. Letztlich ist es egal, welche Verzerrungen in der gegenseitigen Schlammschlacht benutzt werden, den Ideen des Neoliberalismus ist nicht mehr zu helfen. Was ich von den Ideen eines Neoliberalismus halte ist darum ziemlich egal. Davon sind nur noch Zerrbilder übrig. Und wie China zeigt, sind letztlich auch Sozialisten käuflich, das schmutzige Geschäft der internationalen Seilschaften mit zu betreiben.

Kajawizu 
Fragesteller
 05.10.2016, 21:04

Missbrauch findet wahrlich immer statt. Kommt man nicht schlussendlich, egal welche Ideologie, immer auf den Menschen zurück, das dieser auch durchTriebe, wenn nicht gar Instinkte, gesteuert ist?

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berkersheim  05.10.2016, 22:18
@Kajawizu

Richtig, das gilt für alle "im Kopf ausgedachten idealen Systeme", die Emotionen, Instinkte, Triebe nicht in Rechnung stellen, weil sie der Vernunft nicht zugänglich sind.

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