Warum wird einem die Heimatstadt fremd?

6 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Hallo rotesand!

Oft verändert sich die eigene Gefühlsbewertung eines Ortes, wenn ein Lebensabschnitt, der dort stattfand, beendet ist. Der Wegzug aus dem Heimatort nach der Ausbildung, nach der ersten Stelle, um ein Haus zu bauen und/oder eine Familie zu gründen, aus gesundheitliche Gründen etc. ist dann zugleich das Ende von etwas. Das kann auch das Ende der Gefühlsmischung in Bezug auf den Ort bedeuten.

Ich kenne aber auch die umgekehrten Gefühle:

Dort wo ich aufgewachsen bin und meine schulischen, Ausbildungs- und beruflichen etc. Wurzeln habe, fühle ich mich auch nach zig Jahren und mehreren Ortswechseln immer noch wohl und stimmig, auch wenn sich die Stadt baulich sehr verändert hat.

In meinem aktuellen Wohnort, der sehr verschieden vom Herkunftsort ist, und ständig umgebaut wird, bin ich nicht zu Hause, nur in der Natur drum herum, die der Grund für diesen Ortswechsel war.

LG

gufrastella

rotesand 
Fragesteller
 07.06.2022, 09:52

Letztlich habe ich mich in der Heimatstadt seit Jahren nur noch bedingt wohl gefühlt - es war einfach nicht mehr sehr angenehm und mit jedem Jahr gingen mir die Leute mehr auf den Geist und mit dem Jahr wurden sie auch frecher und übergriffiger. Ich merkte, dass ich mit meiner ehemaligen Schulklasse ebenso keinen Kontakt mehr wünsche wie zu vielen anderen, sogar meine Arbeit hat mich nur noch aufgeregt.

Ich gehe jetzt der selben Arbeit nach und merke wieder, es ist immer noch ein Traumjob, für den in der Heimat aber in den letzten Jahren die Rahmenbedingungen (Kunden!) nicht mehr gestimmt haben.

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gufrastella  07.06.2022, 09:54
@rotesand

Ja, die Rahmenbedingungen sind bei vielen Berufen, die mit Menschen zu tun haben, Grund für den Spaß und die Leidenschaft oder das Ermüden und Resignierenbei der Ausübung der Profession. Das habe ich an mir ebenso erlebt.

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rotesand 
Fragesteller
 07.06.2022, 09:58
@gufrastella

Ich weiß, dass ich ein sehr guter Medienberater bin und absolut professionell, aber auch ehrlich und dass mich die Kunden deswegen mögen: Ich verkaufe ihnen das, was sie wollen und brauchen, aber nicht irgendeinen Mist.

Leider war die Heimatstadt auch etwas speziell. Hauptproblem war die Mentalität. Ich war da auch schon Medienberater einer Zeitung, aber so einer, der auf dem flachen Land Zeitungsanzeigen an Gewerbekunden vom kleinen Mazdahändler über den Landgasthof bis hin zur Volksbank ABC und dem Maler-/Gipserbetrieb XYZ verkauft hatte. Und ich war zum Schluss sehr unbeliebt, zumindest bei vielen meiner Kunden - ich habe nicht getratscht und war kein Kumpel, sondern einer, der per Sie mit den Leuten gewesen ist. Vielen hat das nicht gepasst und sie zeigten es mir. Ich hätte denen um akzeptiert zu werden einen volkstümlichen Dialektschwätzer vorspielen müssen, der sich wie irgendein Bauernlümmel aufführt, auch mal halb-besoffen zur Arbeit kommt, am Wochenende reihum die Bauernmädchen flachlegt und mit älteren Männern von der Volksbank im Hinterzimmer vulgärste Witze über Frauen oder Sex reißt, es toll findet dass der Mazdahändler mit Feile und Hammer Hagelschäden fingiert/fragt ob man das beim eigenen Auto auch mal machen kann und Beifall klatscht, wenn der Malermeister bei der Drückjagd den Größten geschossen hat und sich schmieren und kaufen lässt (ich habe solche Sachen eindeutig angeboten bekommen und stets abgelehnt), aber das bin ich nicht und ich verkaufe meine Seele nicht!

Geplant war der Umzug bzw. Ausstieg aus diesem Milieu so gesehen nicht direkt, aber die Situation in meiner Heimat war über die Jahre so untragbar geworden, dass ich es ganz krass sage: Wären meine Frau und ich dort geblieben, wären wir beide in die Gummizelle gekommen oder ins Tollhaus. Was uns dort widerfahren ist, beinhaltet bis zu Lauschangriffen und einer Morddrohung alles, was sich keiner vorstellen kann, der es nicht selber erlebt hat. Der Grund dafür war effektiv total nichtig - mir wurde übel genommen, dass ich nicht 24/7 für jedermann erreichbar war als Gemeinderat, als den Leuten sagte, dass ich wie jeder andere auch Feierabend habe und auch mal Privatmann sein will. Dazu kam mein Entschluss, dass ich mich in Zukunft nicht mehr auf Vereine und Kommunalpolitik konzentriere, sondern verstärkt auf Familie und Hobbys - weil es einfach immer schlimmer wurde anstatt besser. Leute, die uns mal soooo toll fanden und die uns zum Kaffee einluden usw., haben ihre ekligsten Seiten gezeigt.

Die Leute, die von mir viel erhofft hatten waren sehr beleidigt und gekränkt, als ich das Image nicht mehr erfüllt habe und einfach aufhörte, nicht mehr kandidierte, den Job kündigte und weggezogen bin. Es gab jede Menge böse Anfeindungen bis zur Morddrohung, dazu Diffamierungen, Mails, Anrufe, sonst was. Teilweise auch gegen meine Frau bzw. damals noch Freundin, die Nachstellungen, geschmacklose Gerüchte und Ausspähungen erlitt.

Wir hatten in der Folge teilweise Angst, überhaupt aus der Wohnung zu gehen. Ein Psychologe sagte mir, es gäbe zwei Optionen: Versuchen, ob man es doch noch packt oder wegziehen - nachdem ich es ein JAhr lang guten Willens versucht hatte, war der Umzug die einzige und wirklich absolut einzige Lösung.

Ich fühlte mich sogar noch bestätigt als ich von meiner Nachfolgerin selbst, die ich aus der Ferne etwas unterstützt habe (eine arg nette, aber unsichere junge Frau, Anfang 20) vor wenigen Monaten erzählt bekam, dass sie nach anfänglichem Schlummidummi-Gedöns komplett verheizt wurde, bis zu sexueller Belästigung alles erlebt hat und aktuell nicht arbeitsfähig sei. Ich bin mir sicher, die Sudetendeutschen (ein Hauptproblem dort) finden das noch irre witzig und reiben sich die Hände. In dem Zug wusste ich umso mehr, dass es richtig war, mit dem Haufen abzuschließen. Ich hatte als Mann wenigstens gewissen Respekt weil sie wussten, ich sitze am Ende doch am längeren Hebel und bin schlau genug, dass ich die Dörfer der Reihe nach hochgehen lassen könnte - aber meine Nachfolgerin haben diese Typen mental auf dem Gewissen :-/

Aber die war sowieso viel zu gut dafür, als Medienberaterin zu sein für fertige Autohändler mit Affinität zu Seitensprüngen und für die eigene Statur zu engen bunten Hemden sowie ältliche Volksbank-Typen, die ohne jegliche Ahnung "Vorstandsvorsitzende" sind, weil sie vor 45 Jahren mal in einer Raiffeisenkasse gelernt haben und zwar schon mal im Knast saßen, sich dann aber "reumütig" in der Kirche zeigten und der CDU beitraten oder von Leuten, die ohne jede Ausbildung, Befähigung und Eignung "Ministerialrat" waren über das schlechte Gewissen von Bund und Land gegenüber Sudetendeutschen. Ja, Heimatland aber auch - das alles würde im Grunde ein denkbares Buch "Stolz kein Dorfkind zu sein - Erlebtes und Erlittenes" rechtfertigen.

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gufrastella  07.06.2022, 10:06
@rotesand

Wäre dein letzter Satz nicht schon geschrieben, hätte ich es genauso vorgeschlagen! Ähnlich im Punkt Dorfgemeinschaft: "Andreas Altmann - Das Scheissleben meines Vaters".

Glückwunsch zum Absprung! Wo lebst du denn jetzt (Großstadt, Unistadt, Norden Süden...)?

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Ich habe das nicht so erlebt. Ich habe im März meinen ehemaligen Schul- und Wohnort besucht. Vor fast 60 Jahren bin ich weg gezogen. Natürlich hat sich vieles verändert, aber manches kam mir noch soooo vertraut vor.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

ja, das ist normal.

man selbst verändert sich, weil man älter wird und das Leben weitergeht, die Leute in der Heimat verändern sich, weil auch deren Leben weitergeht und sie älter werden, und die Stadt selbst ändert sich auch.

ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass man schon nach eine einzigen Jahr nicht mehr "heimkommt", wenn man zurück in die Heimatstadt übersiedelt, denn daheim, das ist der Ort und die Menschen zu dem Zeitpunkt, als man weggegangen ist, udn nicht nur der Ort udn die Menschen dort, sondern auch man selbst hat sich davon wegentwickelt - diese Vergangenheit ist für immer verloren.

Das geht zwar nicht jedem so aber doch sehr vielen Menschen. Es ist also zumindest nicht unnormal; insbesondere, wenn man keine emotionalen Bindungen mehr an einen Ort hat.

Wobei ich mir an Deiner Stelle nicht den Kopf darüber zerbrechen würde, ob der Rest der Welt dies als normal oder unnormal betrachtet.

DU empfindest so und das ist alles, was zählt. Gefühle unterliegen [gottseidank!] keiner Norm und Du bist auch niemandem über Deine Rechenschaft schuldig.

rotesand 
Fragesteller
 07.06.2022, 09:50

Danke!

Ob normal oder nicht, das war mir eigentlich egal - ich war nur irgendwie bestürzt darüber, dass mir diese Stadt so fremd geworden ist und ich gar nichts mehr damit verbinde.

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Diese Frage kann man mit Versen aus Songs und Sprüchen beantworten.

Home is where the heart ist.

Where I lay my head is home.

Heimat ist ein Gefühl und kein Ort, denn mit Heimat assoziieren wir Ankommen, Ruhe, Sicherheit, Angenommensein, Akzeptanz, sich Öffnen können.

Das Andere ist der Geburtsort.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – mehrere Semester Psychologie, Erfahrung m. psychisch Kranken
rotesand 
Fragesteller
 07.06.2022, 09:53

Danke!

Ankommen, Ruhe, Sicherheit, Angenommensein, Akzeptanz und Offenheit sind Werte, die ich in meiner Heimat so nicht direkt bzw. eher peripher erfahren habe, wenn ich mich der Meinung anderer gebeugt habe - sonst aber war das Gegenteil der Fall.

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