Warum gilt das Aufwachen eines Charakters am Anfang der Geschichte als schlechtes Storytelling?

6 Antworten

Das kann man machen, wenn man die Spannung auf das Verlagern möchte, was passiert ist, bevor man eingeschlafen ist. Wenn sich Fragen ergeben wie "Wo bin ich?", "Wie bin ich hier her gekommen?" oder "Was ist passiert?"

Meistens schaltet man aber noch eine Traumsequenz voran, um mit dem Erwachen schon einmal eine kleine Überraschung zu bieten.

Wenn die Vergangenheit zu Anfang unwichtig ist, macht es keinen Sinn, mit dem Aufwachen anzufangen. Es interessiert niemanden. Es ist zu alltäglich. Es ist genauso langweilig, wie wenn der Film anfangen würde, während sich jemand anzieht oder die Zähne putzt.

Bei Musik ist es so, dass die ersten paar Töne schon die Neugierde wecken müssen (früher war das anders). Bei Texten wird das ähnlich sein. Wer liest ein Buch weiter, dem schon die Einleitung nicht gefällt? Da muss man schon hartnäckig aufgrund Empfehlungen oder dergleichen auf Besseres hoffen.

Jerne79  13.03.2018, 18:52
Bei Musik ist es so, dass die ersten paar Töne schon die Neugierde wecken müssen (früher war das anders).

Früher waren die Anfänge von Musikstücken teils sogar deutlich prägnanter. Bei vielen Titeln ist schon nach den ersten Tönen klar, um welches Stück es sich handelt, und das ging sogar völlig ohne irgendwelchen Effekte und sonstiges Gedöns. ;) Ich habe eher den Eindruck, dass man heute versucht, den gleichen Effekt mit mehr Spektakel zu erreichen.

0
Suboptimierer  13.03.2018, 18:54
@Jerne79

Bis der Sänger früher angefangen hat, zu singen, gingen schon mal 20 bis 30 Sekunden eines Musikstücks drauf. Heute hätte keiner mehr die Geduld, so lange zu warten. Ein paar markante Klimpertöne, dann muss es aber auch so richtig losgehen.

0
Jerne79  13.03.2018, 19:02
@Suboptimierer

Ich glaube, wir müssen "früher" definieren. ;) 20, 30 Sekunden, da war beispielsweise in den 50ern schon ein guter Teil des Stücks vorbei.

Der Haken ist aber doch, dass die vermeintlich so markanten Klimpertöne heute gar nicht so markant sind, auch weil sie oft völlig losgelöst vom eigentlichen Stück daherzukommen scheinen, während früher das Intro auch im weiteren Verlauf des Stückes sehr prägnant war. Zumindest habe ich in den - zugegebenermaßen seltenen Fällen, in denen ich aktuelle Musik höre - immer den Eindruck, die Intros wären über weite Strecken austauschbar.

Was natürlich auch daran liegt, dass heute ganz anders produziert wird und viele Interpreten nur noch das sind: Interpreten, keine Songwriter. Nette Optik, schicke Tanzeinlagen, auf Perfektion getrimmt (im Zweifelsfall per Technik), die meisten Musiker der vergangenen Jahrzehnte hätten heute kaum eine Chance auf dem (Jahr)Markt (der Eitelkeiten).

Aber gut, ich schweife ab.

0
Suboptimierer  13.03.2018, 19:08
@Jerne79

Wenn ich so darüber nachdenke, meine ich das wohl auf den Sänger bezogen.

Früher konnte man ein Lied erstmal laufen lassen. So könnte man heute kein Lied mehr an den Mann bringen. Die Jugendlichen würden nach 3 bis 5 Sekunden auf Weiter klicken.

Die Wiedererkennbarkeit sinkt durch die vielen Kopien alter Lieder und durch die Flut an Material, welches auf den Markt geworfen wird.

Dass sich Jugendliche bekannte Sänger merken können oder jemanden anhimmeln können, ist mir ein Rätsel. Nach zwei, drei Liedern sind doch die meisten weg vom Fenster. War in den 90ern noch schlimmer als heute.

0
Jerne79  13.03.2018, 19:32
@Suboptimierer
Früher konnte man ein Lied erstmal laufen lassen. So könnte man heute kein Lied mehr an den Mann bringen.

Da wäre für mich auch wieder die Frage, ob wir von den von Singles bestimmten 50ern oder frühen 60ern reden oder von der Zeit, in der dann plötzlich Alben prägend waren (also ab den späten 60ern). Auch da haben ja schon neue Entwicklungen die Hörgewohnheiten verändert. Aber du hast natürlich Recht, heute muss alles noch schneller gehen, die Aufmerksamkeitsspanne ist denkbar gering, was man nicht gut findet, kann man schnell wegklicken. Das sorgt natürlich auch dafür, dass vieles gar nicht mehr auf´s zweite, dritte, zehnte Durchhören dann plötzlich doch gefällt.

Letztlich ist es ja auch immer davon abhängig, ab man vom rein konsumierenden Hörer ausgeht, der alles auf sich einprasseln lässt oder dem Hörer, der sich seine Musik gesucht. Der Haken ist eben, dass Musik für die breite Masse produziert wird: Möglichst so, dass es vielen gefällt. Auch wenn es heute so viel leichter wäre, einen eigenen Musikgeschmack zu entwickeln, die meisten tun es eben nicht.

Dass sich Jugendliche bekannte Sänger merken können oder jemanden anhimmeln können, ist mir ein Rätsel.

Da bin ich völlig bei dir, aber das liegt für mich auch an den aktuellen Strömungen populärer Musik, die meinen Geschmack nun so gar nicht treffen. ;)

1

Gerade junge Autoren fangen - phasenweise gefühlt in 50% aller Texte - so gerne ihre Geschichten an.

Vielleicht hat so manch einer davon realisiert, dass man den Protagonisten vor dem Eintreten von Veränderungen in seiner bisherigen Lebenswelt zeigen sollte. Allerdings ist die Darstellung oft sehr fad und wie vom Fließband, was natürlich auch an der mangelnden Lebens- und Schreiberfahrung eines jungen Schreiberlings liegt.

Der Haken ist: Der Anfang einer Geschichte soll den Leser packen und zum Weiterlesen animieren. Ein klingelnder Wecker und die Stimme der Mutter, man solle sich beeilen, damit man rechtzeitig in der Schule ist, führt nun zwar in die Lebenswelt des Protagonisten ein, ist aber alles andere als spannend. Was hier passiert, kann sich der Leser ausmalen, ohne viel Phantasie haben zu müssen.

Das macht aus dem Protagonisten schlicht eine austauschbare Figur. Das kann man natürlich stilistisch so angehen: zeigen, dass der Charakter vor dem Eintreten eines besonderen Ereignisses, das den Rest der Geschichte auslöst, ein Mensch wie jeder andere ist. Aber dann sollte es eben gut gemacht sein und der Autor sollte nicht auf eine Standardlösung zurückgreifen.

Ein weiteres Problem ist, dass häufig auf diese Aufwachszenen ein eher flappsiger mehr oder weniger innerer Monolog folgt (meist mit den Themen: Eltern doof, Schule doof, Mitschüler doof, die Welt ist grausam). Auch das ist wenig ergreifend. Die 1. Regel beim Schreiben ist nunmal: show, don't tell. Was der Leser selbst miterleben kann, muss er dem Protagonisten nicht unbesehen glauben.

Nicht zuletzt eine weitere Regel des Schreibens: Wenn eine Szene die Geschichte nicht voranbringt, ist sie überflüssig. Den Protagonisten kann man viel lebendiger in anderen Situationen einführen, die die Handlung dann auch vorantreiben.

Alles in allem sollte ein zu Beginn einer Geschichte erwachender Protagonist schon in einer sehr besonderen Situation aufwachen, damit dieser Anfang gerechtfertigt ist.

hothey  13.07.2018, 14:03

Ich kann das gesagte hier nur unterstützen:

Die Identifikation mit dem Protagonisten zu fördern ist toll. Und das funktioniert durch Ähnlichkeiten, durch die wir uns in ihm wieder erkennen ("Boah, ja, in der Situation hätte ich auch Angst gehabt" oder herumliegende Socken vom Vortag, die zum Stress führen als "Nie räumst Du deine Sachen weg...")

Aber Aufwachen... das tun nun wirklich ALLE. Da entsteht keine Bindung.

Es sei denn, Du überlegst Dir etwas, dass in den ersten Sätzen bereits neugierig macht. SO neugierig, dass der Leser jetzt unbedingt wissen will, wie es weiter geht.

Aufwachen, von dem Druck des Klebebandes auf den Lippen. Noch während er die, plötzlich hellwachen Augen aufreißt, merkt er den Druck der Fesseln an Händen und Füßen, nur um vor sich seine Freundin zu erkennen, die Ihn lustvoll anlächelt.... Alles schön, wäre da nicht der Schatten einer weiteren Person, der in sein Sichtfeld fällt...

"Hä? Was ist hier los? -> OK, ich les das komische Buch zumindest mal ein paar Seiten, bis sich zeigt, dass es doch langweilig ist..." Mehr brauchst Du nicht. Dann ist es an Dir, Deinem Leser genau das zu liefern, was er nicht erwartet, was ihn mitfiebern lässt und was ihn überrascht.

Sonst: Weg lassen.

Lesen, wie jemand aufwacht, der so aufwacht, wie ich es selber die letzten 20 Jahre getan habe... da schlafe ich doch unterm Lesen ein.

Aprospos Lesen: lies vielleicht mal die 22 Storytelling Regeln von Pixar (Emma Coats) durch. Die sind eine großartige Inspiration und Du wirst Dir anschließend viele Fragen selber beantworten können.

Ergänzend habe ich dazu auf meinem Blog über Hypnotic Storytelling auch einen - wie ich finde - sehr hilfreichen Artikel zum Einstieg ins Geschichten schreiben.

0

Da man als Storyentwickler keine vorgeschichte sich ausdenken muss. deshalb ist es nicht so beliebt esseiden sie setzten es wirklich gut um. das ist aber die ausnahme

Weil ein Charakter, der einfach aufwacht und sich an nichts erinnern kann, keinen Hintergrund hat, ein unbeschriebenes Blatt ist. Und das ist langweilig.

Ein Charakter ist eigentlich immer schon durch vorherige Ereignisse geprägt und an die Geschichte gebunden (Luke ist der Sohn eines Jedi-Ritters, Harrys Eltern wurden von Voldemort getötet). Eine solche Verbindung ist nicht möglich, wenn der Held der Geschichte einfach auf der Stelle erschaffen wird.

Und natürlich ist ein solcher Anfang auch einfach alt. Hat man schon gesehen, kann jeder. Was hingegen nicht jeder kann ist ein Anfang, der überrascht und Lust auf mehr macht. Irgendein Ereignis bietet sich da am besten an.

Wweil es eben mittlerweile ziemlich abgenudelt ist.

Kafkas 'eines Tages erwachte Gregor Samsa..' hatte dagegen noch echt was.

Jerne79  13.03.2018, 18:55
Kafkas 'eines Tages erwachte Gregor Samsa..' hatte dagegen noch echt was.

Das liegt aber nicht daran, dass das damals noch ein erfrischender Anfang war, sondern dass die Geschichte mit dem 1. Satz medias in res geht.

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.

Da klingelt kein Wecker, da nörgelt keine Mutter, da zieht man sich nicht für die Schule an, die Geschichte beginnt mit einem lauten Knall und befördert den Protagonisen sofort in sein großes Dilemma.

2