War das Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren wirklich ein Wunder?

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Nein, es war kein Wunder:

  • Die Produktionsanlagen waren nicht komplett zerstört worden, man konnte recht schnell wieder mit der Produktion beginnen. Im Osten wurde viel demontiert, das war dort ein Nachteil.
  • Auch die Infrastruktur (Straßen, Bahnen, Schifffahrtswege) ließ sich wiederherstellen.
  • Der Marshallplan war sehr hilfreich, ebenso das Londoner Schuldenabkommen.
  • Die Abwanderung qualifizierter Kräfte von Ost nach West hat dem Westen geholfen, sich zu entwickeln. Den Osten hat es zurückgeworfen.

Ja, es war ein Wunder:

  • Viele Leistungsträger waren fortgegangen, im Krieg umgekommen, traumatisiert oder körperlich beeinträchtigt. Die Niederlage war schmerzlich, die Siegermächte nicht immer freundlich. Dennoch hat man nicht resigniert, sondern begonnen, alles wieder aufzubauen.
  • Obwohl Deutschland viel Unheil über andere Länder gebracht hatte, waren diese bereit, mit Deutschland wieder Wirtschaftsbeziehungen aufzunehmen und einen Aussöhnungsprozess zu beginnen. Sogar ein Land wie Israel.
  • Nach der Wiedervereinigung 1990 gingen einige davon aus, dass sich das Wirtschaftswunder in den fünf neuen Bundesländern wiederholt. Hat es aber nicht - die "blühenden Landschaften" waren nicht innerhalb weniger Jahre zu realisieren. Das war alles viel weniger wunderbar als das Nachkriegs-Wirtschaftswunder.

Ein (Wirtschafts)Wunder war das natürlich nicht, daher gibt es diesen Ausdruck als festehenden Begriff wohl nur in Deutschland. Verständlich isses ja schon, dass solch ein Terminus kreiert wurde, wenn man bedenkt, dass dieses Land total zerbombt war, so dass sich etliche Menschen kaum vorstellen konnten, dass es je wieder aufgebaut werden kann. Dabei zeigte sich, dass der Wiederaufbau recht rasch vollzogen wurde, dies auch dank des Marshall-Planes, sowie einer boomenden Weltwirtschaft in den 50-er Jahren. Dann kam noch das Londoner Schuldenabkommen hinzu, dass eine großzügige Regelung für die junge Bundesrepublik vorsah.

Ja UND Nein! In einer Art war es ein "Wunder": denn Niemand rechnete damals mit einem derart schnellen nicht nur Wiederaufbau (der ja Voraussetzung für das "Wirtschaftswunder" war), sondern auch mit den industriellen Erfolgen (inkl. "Made in Germany"): innovative, deutsche Industrie- Produkte eroberten den Weltmarkt in Windeseile. - Und das, obwohl man ja meinen könnte, die Industrieanlagen waren kurz vorher noch von den alliierten Bombern von zig tausend Bomben zerstört worden?! Und Millionen kräftige, deutsche Männer waren im Krieg gefallen, durch dadurch entstandene Behinderungen beeinträchtigt oder noch (lange) in (russischer) Kriegsgefangenschaft, so dass sie für den "Wiederaufbau" ja weitgehend ausfielen?! (was Viele daher heute nicht wissen: Deuitschland ist nach dem 2. Weltkrieg vor allem (zunächst) von Frauen aufgebaut worden; daneben von alten Männern und z.T. Krüppeln (und Kindern). Dass etwa die Zahlreichen, in Millionen in Detuschland stationierten alliierten Militärangehörigen in besonderem Maße am Wiederaufbau selbst aktiv teilgenommen hätten, wäre mir jedenfalls neu!(?). - Stattdessen wurde in Ostdetuschland von der UdSSR in starker Weise Industriedemontage betrieben (In Westdeutschland wurde das dagegen kaum gemacht von den "Westmächten"). Dennoch wurde in Windeseile aus Deutschland - wie ein "Phönix aus der Asche" eine der erfolgreichsten Industrienationen der Welt!

So gesehen war es ein "Wunder": auch die Westmächte, einschließlich Frankreich und England (dort gab es noch bis weit in die 1950er Jahre Rationen und Lebensmittelkarten!) mussten feststellen, dass die "Verlierer" plötzlich z.T. erfolgreicher und "reicher" wurden als sie selbst! - Russen, Briten und Franzosen bemühten sich plötzlich, "von den (Kriegs-) Verlierern (wirtschaftlich) zu lernen! Und: sich wirklich einen derartigen Aufschwung ausreichend erklären kann man nicht!

Es gibt aber auch "logische" Gründe für das WIrtschaftswunder:

  • die deutschen "Werktätigen" hatten insbesondere in technischer Hinsicht einen hohen Kenntnisstand; in großem Maße sogar die Frauen;
  • es sind nicht so viele Industrieanlagen zerstört worden, wie viele annehmen: es betraf bei den Zerstörungen ja vor allem die Waffen-/ Schwerindustrie, die für eine zivile Produktion nicht so bedeutend war;
  • die deutschen "Werktätigen" waren weitgehend an Arbeitsdisziplin gewöhnt;
  • Westdeutschland profitierte von einem starken Zuzug an Fachleuten aus den "ehemaligen" deutschen Gebieten, sowie auch aus der "Ostzone": aus politisch- wirtschaftlichen Gründen kam es dort schnell zu einem "Brain Drain", als sich dort eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu etablieren begann (überhaupt verlor die "DDR" dann schnell an kräftigen, jungen Menschen, die in den "Westen" flüchteten - was ja auch zum Bau der "Mauer" führte);
  • aus dem gleichen Grund sind viele Wertgegenstände/ Werte von "Ost nach West" übergewechselt;
  • während die Russen in Ostdeutschland starke Demontage betrieben (Industrieanlagen; Eisenbahnschienen; ...) blieb Westdeutschland - durch die Alliiierten - davon weitgehend verschont;
  • Deutschland profitierte sehr von der "Nachsicht" der Siegermächte: die Reparationen blieben - mit Rücksicht auf den Wiederaufbau - gemäßigt ("Londoner Schuldenabkommen", u.A.) - ganz im Gegensatz zu den Maßnahmen der Alliierten nach dem 1. Weltkrieg!;
  • durch den starken Zuzug von Flüchtlingen aus dem "Osten" nach "Deutschland" gab es dort ein großes Angebot an Fachleuten, wie auch an Arbeitern: durch dieses "Überangebot", wie auch natürlich durch die Auswirkungen des Krieges und der damit verbundenen Zerstörungen, waren sehr niedrige Löhne möglich: es wurde also sehr viel gearbeitet, um einigermaßen genug zum Leben zu verdienen (was allerdings auch erst nach der "Währungsunion" ab Ende der 1940er Jahre eine wesentliche Rolle spielen konnte);
  • die berühmten "Marshall- Plan"- Kredite und "Entwicklungshilfen" der USA an Deutschland (wovon allerdings andere "Kriegsteilnehmer- Länder" wie Frankreich in weit stärkerem Maße profitiert haben sollen);
  • politisch- strategische Gründe der Westmächte, insbesondere der USA, die jetzt ein Interesse daran hatten, aus Deutschland einen (wiedererstarkten) "Bündnispartner" und "Bollwerk gegen den Kommunismus, vor allem gegen die UdSSR" zu machen, anstatt es völlig "ausbluten" zu lassen; ein "verlässlicher - möglichst nach den eigenen Plänen "geschaffener" - Partner" (West-) Deutschland war den USA wichtiger als ein "dauerhaft niedergerungener Feind" (daher auch schnelle Anbindung an die NATO, usw.) - das ließen sich die USA auch Einiges kosten;
  • viele Länder waren bereit, mit Deutschland Handelsverträge - zum gegenseitigen Nutzen - abzuschließen;
  • der Krieg war bei den einstigen "Gegnern" schnell vergessen: politische Vorgehensweisen beherrschten das Tagesgeschehen der "Alliierten": Frankreich (Präsident de Gaulle) buhlte ebenfalls um das (wirtschaftlich) wiedererstarkende (West-) Deutschland, weil es seinerseits hoffte, damit einen starken, verlässlichen Partner zu bekommen, in einem möglichen Bund auch gegen die anderen ambitionierten "Siegermächte", insbesondere gegen die USA, denen De Gaulle sich nicht unterordnen wollte;
  • der Wirtschaft förderlich waren in Deutschland natürlich auch die gut ausgebauten Straßen und überhaupt die "kurzen Transport- und Kommunikationswege": in einem nciht sehr großen Land konnte alles schnell von A nach B gebracht werden (wie anders z.B. in der UdSSR!); dazu das gemäßigte Klima;
  • die Deutschen hatten starkes Vertrauen in ihre politische Führung, wie auch in ihre Währung (nach der "Währungsreform" 1948);
  • die deutschen "Werktätigen" hatten oft anfangs 60- (oder mehr) Stunden- Wochen (und keinen oder kaum Urlaub), was sich natürlich auf die Produktivität positiv auswirkte;
  • Deutschland konnte / musste sich auf wirtschaftliche Aktivitäten konzentrieren; ihm blieb keine Wahl (auch weil es ja keine eigene Armee mehr unterhalten durfte / und erst recht keine Kriege führen durfte);
  • während die Siegermächte hohe Militärausgaben hatten, und sich in teure, verlustreiche Kriege verstrickten ("Dekolonialisierung"; französischer "Indochina- Krieg" und "Algerien- Krieg"; "Korea- Krieg"; später: USA- Vietnam- Krieg; teure wirtschaftliche und militärische Hilfen der UdSSR gegenüber anderen (meist "3. Welt"- Ländern; ...), "durfte" Deutschland das gar nicht; stattdessen wurde es jetzt verstärkt als (starker) Handelspartner von den "Westmächten" gebraucht (und konnte davon wirtschafltlich profitieren); während Andere also Kriege führten, konzentrierte sich Deutschland auf die Produktion (und belieferte die anderen Länder, auch Siegermächte);
  • die "Dekolonialisierung" zwang Länder wie Großbritannien, Frankreich, Spanien und Portugal dazu, ihr althergebrachtes Wirtschaftssystem (Kolonialismus; Ausbeutung der Kolonien; einseitig begünstigter Handel und Wirtschaftsaktivitäten des jeweiligen "Mutterlandes" mit seinen Kolonien; ...) weitgehend aufzugeben und sich umzustrukturieren (Deutschland hatte DIESES Problem nicht (mehr));
  • es gab weitgehend Sozialen Frieden in Deutschland; keine Aufstände oder Bürgerkriege; wenig Streiks (wie anders z.B. in Italien! ); viel Übereinstimmung der "Tarifpartner" (Arbeitgeber und - nehmer waren sich schnell einig); Gefahren durch z.B. einen polti. Sturz von "Rechts", wie auch von "links" (Kommunisten) wurden schnell ausgeschaltet, was eine polilt. Konsolidierung des Systems ermöglichte;
  • polit. Führung und Bürger in Dt. "zogen (scheinbar) an einem Strang": Wirtschaftsminister - und "Vater des Wirtschaftswunders" - Ludwig Ehrhard ("Wohlstand für Alle") propagierte ein Wirtschaftswachstum, an dem ALLE Bundesbürger dran teilhaben würden: die Arbeitsleistung würde sich also für jeden (hart) arbeitenden Bürger lohnen; der rasche wirtschaftliche Aufschwung verstärkte das Vertrauen der Bürger in ihre polit. Führung und in den eingeschlagenen polit. (und wirtschaftl.) Weg; dies führte zu bleibender Sozialer Ruhe; zumal sich auch die SPD (als eine der stärksten Parteien und vormals kommunistisch orientiert) verstärkt zum eingeschlagenen (marktwirtschaftlichen) Kurs bekannte (was auch die erste "Große Koalition" ermöglichte);
  • Die Deutschen waren eine sehr homogene Gesellschaft: gleiche Sprache, Kultur und Traditionen ("Nation"), wie auch Erfahrungen (im Krieg); weitgehende Übereinstimmung mit dem polit. Kurs; ...;
  • die Deutschen waren gezwungen, für den Wiederaufbau - bwz. zum "Überleben" - sehr hart zu arbeiten; daran - und an viel Verzicht - gewöhnt, war es ihnen auch später einfacher, härter (und länger) zu arbeiten; somit war Dtl. perfekt aufgestellt, um in der kommenden, neuen "Industrie- Epoche" eine wichtige Rolle zu spielen;
  • nach dem verlorenen Krieg hatten die Deutschen ja keine andere Möglichkeit, auf etwas "stolz" zu sein als auf ihren gewerbefleiß und die Produkte ihrer Arbeit;
  • vielleicht auch etwas der sprichwörtliche "deutsche Gewerbefleiß"?

Somit ist das "Deutsche Wirtschaftswunder" sicherlich kein "Zufall", sondern es finden sich dafür sicherlich Gründe, wenn man genau hinschaut.

Im Übrigen hatten auch die Japaner, Österreicher oder Italiener z.B. ihr "Nachkriegs- Wirtschaftswunder" (wenn vielleicht z.T. auch nicht so ausgeprägt); es ist demnach keine ausschließliche "deutsche Eigenart". Erstaunlich ist das "Dt. Wirtschaftswunder" dennoch: nicht zuletzt weil das die Siegermächte - gerade auch die UdSSR , Frankreich und England - so sehr in Erstaunen versetzte (und durchaus meist nicht in deren Sinne!), wie den Deutschen es gelungen ist, nach der doch so ziemlichen "völligen Zerstörung" nach den "TRümmerjahren" und der darauffolgenden Währungsunion in nur wenigen Jahren zu einer Industrie- und Wirtschaftsnation von Weltrang wiederaufzuerstehen. Die Deutschen hatten ihre Chance noch mal bekommen - und sie haben sie genutzt.

Doch Wirtschaftswunder hin oder her: nicht all zu lange später haben die Deutschen auch ihre (Wirtschafts-) krisen erlebt, polit. Führungswechsel, Politikverdrossenheit, "68er Revolten", "Deutscher Herbst"; Öffentliche Rekordverschuldung(en); Arbeitslosigkeit; mangelnde Lebensqualität; ... Und nicht zuletzt die "Deutsche Einheit" war ja gerade in wirtschaftlicher Hinsicht ein ziemliches Fiasko, aller anderslautenden polit. Versprechungen dazu im Vorfeld zum Trotz. Das hat uns wieder mal vor Augen geführt, dass die Deutschen halt doch nicht "alles können", sondern manchmal kläglich scheitern.

Und Vieles von dem im "Deutschen Wirtschaftswunder" erworbene "Tafelsilber" dürfte indes längst wieder verspielt sein ...

Naja, versetzen wir uns mal in die Zeit zurück. Nach zwei Weltkriegen ging es den Menschen sehr schlecht. Sie waren geprägt von den Folgen der Industralisierung, den Schlachten des ersten und zweiten Weltkrieges, großem Hunger und kannten Konsum, so wie er uns geläufig ist, gar nicht. Mit den Allierten folgten eine schnelle Stabilisierung Deutschlands. Verträge, Abkommen und Bündnisse wie die Nato wurden vereinbart, die einen langfristigen Frieden zusicherte. Die Menschen gründeten ihre ersten Geschäfte und - es ging nur noch bergauf. Die Märkte fingen - erstmalig seit 1928 - wieder an zu florieren. Nicht, weil in Massen Kriegsmonition hergestellt wurde - ein wesentlicher Bestandteil eines gut funktionierenden Wirtschaftssystems, leider - sondern neue Märkte erschlossen wurden, innovative Produkte den Markt erorberten usw.

Alles in allem, müssen diese Entwicklungen sich wie ein "Wunder" angefühlt haben. Solche "Betitelungen" erfolgen in der Geschichte immer erst später. Pick Dir vielleicht ein Unternehmen heraus. Bspw. die Fa. Otto! (Hier gibt es auch ne tolle Doku zu)Dann wird das Ganze auch noch konkreter und anschaulicher.

Viel Erfolg


Von mir eine Denkanstoß: Schau mal die ersten 15 min von Alamanya- Willkommen in Deutschland an, da gibt es eine Menge Szenen aus der Witrschaftswunderzeit. Vielleicht kommen Dir dann die Erkenntnisse von selbst.


https://youtube.com/watch?v=lGMG9iqtwC4