Qualitativer Hedonismus oder Utilitarismus?

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Bei einem rein quantitativen Hedonismus ist allein die Quantität der Lust (bzw. die Quantität in der Bilanz von Lust/Freude/Vergnügen und ihr entgegengesetzter negativer Empfindung von Unlust/Schmerz/Leid) für die Beurteilung einer Handlung ausschlaggebend.

Bei einem qualitativen Hedonismus spielt für die Beurteilung einer Handlung zusätzlich die Qualität der Arten Lust/Freude/Vergnügen eine Rolle, nicht allein die Menge/das Ausmaß des Empfindungsglücks. Qualitativer Hedonismus nimmt qualitative Unterscheidungen Arten Lust/Freude/Vergnügen vor und beurteilt bestimmte Arten als wünschenswerter und wertvoller. Bei den Arten Lust/Freude/Vergnügen gelten in der Beurteilung, welche Handlung gut und moralisch richtig ist, nicht alle Arte0n von Lust/Freude/Vergnügen als gleichrangig (allein das Ausmaß der Lust zählt), sondern bestimmte Arten Lust/Freude/Vergnügen bekommen eine Vorzugsstellung.

Die Begriffe »Quantität« und »Qualität« haben folgende Hauptbedeutungen:

Quantität (lateinisch: quantus/quanta/quantum = wie groß, wie viel/wieviel; quantitas = Größe, Anzahl, Menge) ist die mengenmäßige Bestimmtheit von etwas. Quantität bezeichnet Menge, Anzahl, Umfang, Ausmaß, Größe.

Die Kategorie der Quantität (‘Wiegroßheit’) bestimmt ein Ding/ein Objekt/einen Gegenstand allein unter dem spezifischen Gesichtspunkt des Wieviel/einer Größenangabe, während alle anderen denkbaren Gesichtspunkte außer Acht/unbeachtet bleiben. Quantität ist ein Merkmal von Dingen und damit in gewissem Sinn auch eine Qualität. Dabei beschränkt sich das Erfassen aber eben auf den Gesichtspunkt von Größenangaben. Dinge, die eine Größe haben, können gezählt bzw. gemessen (mit Zahlen und Maßeinheiten) werden.

Qualität (lateinisch: qualis/quale = wie beschaffen, von welcher Art, welcherlei, was für ein(e); qualitas = Beschaffenheit, das Verhältnis, die Eigenschaft) ist die Beschaffenheit von etwas. Qualität bezeichnet Beschaffenheit, Eigenschaft, Merkmal, Zustand, Verfassung, Disposition.

Die Kategorie der Qualität (‘Wiebeschaffenheit’) bestimmt ein Ding/ein Objekt/einen Gegenstand unter allen möglichen Gesichtspunkten. Die Bestimmung gibt Merkmale an, in Bezug auf die sich Dinge in einem Vergleich als ähnlich oder nicht ähnlich darstellen können.

Hedonismus ist eine ethische Auffassung, das Streben nach Lust (ἡδονή) sei Ziel des Handeln und Lust (bzw. Freude, Vergnügen, Angenehmes oder Ähnliches; die genaue sprachliche Bezeichnung ist nicht entscheidend) der einzige grundlegende Wert.

Hedonismus ist ein Bestandteil des „klassischen Utilitarismus“, zum dem folgende Grundsätze gehören:

a) Konsequentialismus: Die Beurteilung, was in ethischer Hinsicht gut ist, hängt von den Folgen einer Handlung ab. Die Folgen können individuelle oder gesellschaftliche Folgen sein, je nachdem wer von Folgen einer Handlung betroffen ist. Da Menschen gewöhnlich nicht isoliert leben, ist meistens nicht nur der sich entscheidende einzelne Mensch betroffen, sondern eine mehr oder weniger große Anzahl.

Prinzipien um ihrer selbst willen, innere Beweggründe, ein guter Wille oder Ähnliches sind für die Bewertung einer Handlung nicht maßgebend.

b) Nützlichkeitsprinzip: Handlungen werden nach ihrer Nützlichkeit beurteilt. Es geht um gute Folgen, aber das Nützliche ist eine Zweck-Mittel-Beziehung und bedarf zu einer inhaltlichen Bestimmung eines Kriteriums/eines Maßstabes. Inhaltlich aufgefüllt wird das Nützlichkeitsprinzip mit einer Theorie des Guten: Eine Handlung ist moralisch richtig, wenn sie das Glück fördert/vermehrt (die Tendenz dazu hat, also in diese Richtung geht) und falsch, wenn sie in der Summe ihrer Folgen Unglück hervorruft. In zwei in der Fragebeschreibung genannten Prinzipien ist dies enthalten (nur mit dem Zusatz der Allgemeinheit bzw. der größten Zahl), nämlich den Aussagen, eine Handlung sei moralisch richtig, wenn sie nützt, falsch, wenn sie schadet.

c) Eudaimonismus: Glück (griechisch εὝδαιμονία = Glückseligkeit) ist das höchste Lebensziel.

d) Hedonismus (griechisch ἡδονή = Lust, Freude, Vergnügen, Genuß): Der Nutzen wird als Glück bestimmt und dieses als Lust bzw. Freude, Annehmlichkeit, Gefälliges oder Ähnliches.

e) Universalität (ein Prinzip der Allgemeinheit): Alle sind zu berücksichtigen, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl ist anzustreben.

Albrecht  18.01.2014, 23:52

Jeremy Bentham (1748 – 1832), An introduction to the principles of morals and legislation (1787), versteht Glück als Empfindungsglück. Maßstab in der Ethik ist die Menge dieses Glücks. Damit ist ein quantitatives Kriterium aufgestellt. In einem hedonistischen Kalkül wird nach Bentham zusammengerechnet/abgewogen, was von einer Handlung an Glück zu erwarten ist. Empfindungen der Lust/Freude werden dabei hinzugefügt, Empfindungen der Unlust/des Schmerzes/des Leides abgezogen.

Beim größten Glück der größten Zahl steckt eine grundsätzliche Gleichheit der Menschen (bei allen individuellen Unterschieden) in dem Grundsatz und als Glück einer Gesellschaft/Gemeinschaft gilt die Summe des Glücks der einzelnen Menschen/Individuen, aus denen sie zusammensetzt ist.

Stuart Mill (1806–1873) vertritt in seiner Ethik grundsätzlich den gleichen Ansatz (einen „klassischen Utilitarismus“) wie Jeremy Bentham, wandelt ihn aber etwas ab, unter anderem durch Einführung qualitativer Unterscheidungen hinsichtlich der Arten von Glück/Lust/Freude (Utilitarianism; 1861). Ein kritischer Punkt ist dabei, ob dies nicht eine zu weitgehende Aufweichung der grundsätzlichen Auffassung bewirkt und innerhalb des theoretischen Rahmens des Utilitarismus zu Unstimmigkeit führt.

Eine Handlung gilt als gut, deren Folgen in die Richtung gehen, das Glück/Wohlbefinden aller Betroffenen in möglichst großem Ausmaß zu fördern und Unglück/Leid/Schmerz zu vermeiden.

Eine Handlung ist nach Mill moralisch richtig, wenn sie das Glück fördert/vermehrt (die Tendenz dazu hat, also in diese Richtung geht) und falsch, wenn sie in der Summe ihrer Folgen Unglück hervorruft. Unter Glück (happiness) versteht Mill Lust (pleasure) und das Fehlen von Schmerz/Unlust (pain*), unter Unglück das Gegenteil. Angenehme Empfindungen sind der Ursprung von Werten.

Mill bestimmt also wie Bentham die zentrale Norm als Nützlichkeitsprinzip im Sinne einer Maximierung von Glück und Minimierung von Unglück und zwar nicht nur individuell, sondern auch auf die Allgemeinheit bezogen (allgemeines Glück als Endzweck). Zu seiner Ethik gehört daher das Streben nach einer besseren Welt.

Mill unternimmt aber abweichend von Bentham eine zusätzliche Einführung qualitativer Unterschiede in den Utilitarismus: Nicht nur quantitative Unterschiede (Menge/Ausmaß des Glücks/der Lust/Freude) können in der Beurteilung eine Rolle spielen, sondern auch qualitative Unterschiede (die Beschaffenheit), wobei bestimmte Arten von Glück/Lust/Freude als wünschenswerter und wertvoller beurteilt werden.

Ein wichtiger Gesichtspunkt ist, was gut urteilsfähige Menschen bevorzugen, als das ihren Fähigkeiten entsprechende Glück. Urteilsfähigkeit wird bei der Gewichtung von Lust/Freude einbezogen. Menschen empfinden bei erfolgreicher Verwirklichung und Bestätigung ihrer Fähigkeiten Glück. John Stuart Mill beurteilt bei der Lust/Freude diejenige von zweien für wünschenswerter und wertvoller, die von allen oder fast allen, die beide erfahren haben - ungeachtet des Gefühls, eine von beiden aus moralischen Gründen vorziehen zu müssen – entschieden bevorzugt wird. Wer aufgrund von Erfahrung die besten Vergleichsmöglichkeiten hat, entscheidet, indem er etwas bevorzugt, was wünschenswerter ist. Menschen heben sich nach Mill durch ihre Vernunftbegabung von anderen Lebewesen ab.

Neben körperlich-sinnlichen Lüsten/Freuden (die von ihm als angenehm anerkannt bleiben) nennt Mill Lust/Freude aus Tätigkeit des Verstandes, des Empfindens, der Vorstellungskraft/Phantasie und des moralischen Gefühls.

Seiner Meinung nach ist es, wenn eine von zwei Freuden so weit über andere gestellt wird, sie auch beim Wissen zu bevorzugen, daß sie größere Unzufriedenheit verursacht, und sie gegen noch so viele andere Freuden nicht eintauschen zu mögen, berechtigt, jener Freude eine höhere Qualität zuzuschreiben. Diese übertreffe die der Quantität so weit, daß diese im Vergleich dazu nur gering ins Gewicht falle. Es sei nun aber eine unbestreitbare Tatsache, daß diejenigen, die mit beiden gleichermaßen bekannt sind und für beide gleichermaßen empfänglich sind, der Lebensweise entschieden den Vorzug geben, an der auch die höheren Fähigkeiten beteiligt sind.

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Albrecht  18.01.2014, 23:53

Mill wendet sich dagegen, die Begriffe Glück (happiness) und Zufriedenheit (content) zu vermengen. Wesen mit höheren Fähigkeiten seien nicht so leicht voll zufriedenzustellen und hätten stets das Gefühl, alles erwartbare Glück sei unvollkommen.

John Mill, Utilitarianism (1861), 2. Kapitel:
„It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied.”

John Stuart Mill, Der Utilitarismus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Dieter Birnbacher. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart : Reclam, 1985 (Universal-Bibliothek ; Nr. 9821), S. 18:
„Es ist besser ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr.“

Die Schlüssigkeit einer Unterscheidung von Lust/Freude nach Qualität innerhalb des utilitaristischen Ansatzes ist zweifelhaft. Neben körperlich-sinnlichen Lüsten/Freuden (die von ihm als angenehm anerkannt bleiben) nennt Mill Lust/Freude aus Tätigkeit des Verstandes, des Empfindens, der Vorstellungskraft/Phantasie und des moralischen Gefühls. Andere Freuden/Lüste als die rein körperlich-sinnlichen einzubeziehen, ist zu einem utilitaristischen Standpunkt nicht unpassend. Wenn zusätzlich Fähigkeiten genutzt werden, kann dies ja eine Vermehrung von Glück herbeiführen. Bei dem, was als empirische Beobachtung behauptet wird, sind Einwände naheliegend, die Bevorzugung treffe zwar vielleicht bei Mill und ähnlichen Personen zu, decke sich aber nicht allgemein mit der Realität.

Im Rahmen des Systems nicht gut stimmig ist die Vorzugsstellung der als qualitativ höher geltenden Freuden. Innerhalb des Ansatzes des „Klassischen Utilitarismus“ kann nur die Menge des Glücks, das empfunden wird, ausschlaggebend für die Beurteilung in ethischer Hinsicht sein. Warum soll mehr Freude/Lust nicht besser sein? Das Gute wird bei einer qualitativen Unterscheidung zum Kriterium der Lust bei der ethischen Beurteilung. Wenn es Arten der Lust/Freude gibt, die besser sind als andere, kann Lust/Freude nicht Kriterium des Guten sein.

Außer den Texten von Jeremy Bentham und John Stuart Mill können Bücher zur Erklärung beitragen, z. B.:

Jack Nasher, Die Moral des Glücks : eine Einführung in den Utilitarismus. Berlin : Duncker & Humblot, 2009, S. 48 - 60

Peter Rinderle, John Stuart Mill. Originalausgabe. München : Beck, 2000 (Beck'sche Reihe : Denker ; 557), S. 62 – 86

Bernd Gräfrath, John Stuart Mill. In: Großes Werklexikon der Philosophie. Herausgegeben von Franco Volpi. Band 2: L - Z, Anonyma und Sammlungen. Stuttgart : Kröner, 1999, S. 1041 (zu „Utilitarianism“):
„Zum einen bestimmt er das «Glück», das nach dem Nützlichkeitsprinzip maximiert werden soll, nicht rein hedonistisch, sondern berücksichtigt bei der Kalkulation neben der Quantität auch die Qualität einer Lustempfindung. Zum anderen glaubt er, Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit aus dem Prinzip des «größten Glück der größten Zahl» ableiten zu können. In beiden Fällen will M. unserer grundlegenden Überzeugung besser entsprechen als die Theorie Benthams. Hierdurch entstehen allerdings systematische Konsistenzprobleme. So gilt etwas die in den 50-er Jahren des 20. Jh. entwickelte Theorie des Regelutilitarismus, die sich auf M. beruft, heute als gescheitert, weil sich Gerechtigkeitsprinzipien nicht auf Nützlichkeitserwägungen reduzieren lassen und deshalb auch in Konflikt miteinander geraten können.“

M. = Mill
Jh. = Jahrhundert

Dieter Birnbacher, Utilitarismus. In: Handbuch Ethik. 3., aktualisierte Auflage. Herausgegeben von Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2011, S. 98 – 99:
„John Stuart Mill, der von seinem Vater streng im Geist Benthams erzogen worden war, hat sich diesem Einfluss als Erwachsener ein Stück weit entzogen und die Radikalität der Bent’hamschen Utilitarismus abgemildert, zugleich aber auch dessen Konturen verunklart. Während Bentham das zu seiner Zeit vorherrschende Denken mit beißendem Spott geißelt, geht es Mill (ähnlich wie später Sidgwick und Hare) primär um den Aufweis von Kontinuitäten zwischen Utilitarismus und Alltagsmoral. Mill bemüht sich, die utilitaristische Ethik in einem Licht darzustellen, das sie unabhängig von jeder besonderen Weltanschauung und insbesondere auch für Anhänger christlicher Grundsätze akzeptabel macht. Die wichtigste Revision betrifft den Hedonismus. Während Bentham sinnliche und geistige Lust gleich gewichtet, führt Mill zusätzlich eine qualitative Wertdimension ein, die es erlauben soll, «höheren» Freuden auch dann einen höheren Rang zuzuordnen, wenn sie den «niederen» an Dauer und Intensität unterlegen sind. Angelehnt an Platons Staat wird das Qualitätsurteil denjenigen überlassen, die über hinreichend vielfältige Erfahrungen verfügen, um die Qualitäten verschiedener Arten von Lust miteinander vergleichen zu können.“

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