Parallelogramm->Raute->Quadrat ist ein analytischer Schluss. Wie sieht der synthetische Vorgang aus?


19.07.2020, 12:38

Soll heißen: Man stellt sich ganz dumm und wüsste gar nichts von Quadraten, sondern nur von einem allgemeinen Viereck. Ist es möglich dann vom allg. Viereck auf ein Quadrat zu schließen statt umgekehrt durch Kenntnis der Eigenschaften des Quadrats auf die anderen Vierecksformen zu schließen? Oder ist dies nur durch mathematisches Experiment möglich (Gedankenexperiment, siehe Kant)?

2 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Eine sehr gute Frage, die (wenig überraschend) von "Selbsternannten Community-Experten für Mathematik und Physik" (wie J0T4T4) natürlich nicht beantwortet werden können, weil ihnen wesentliche Grundlagen nicht nur zum geometrischen Verständnis zu fehlen scheinen, sondern eben auch das Verständnis der Kantianischen Philosophie. Nun, wie sagt man so schön: "Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz." Einige selbsternannten Community-Experten täten also besser daran das Schreiben lieber zu lassen, wenn sie von der Materie keine blassen Schimmer haben. ;-) Aber das soll nicht unsere Sorge sein.

Daher nun zum wesentlichen:

Da ausnahmslos alle geometrischen Urteile synthetisch sind, sind natürlich auch die Konstruktion der Quadrate und anderer regelmäßiger Flächen synthetisch und können nicht analytisch sein, außer (wie Hans schon richtig angemerkt hat) die Ableitung von den Axiomen (das wäre in diesem Fall z.B. die Berechnung der Seitenlänge des Quadrats oder das Berechnen des Flächeninhalts). Dass dies tatsächlich so sein muss, beweist uns sogar heute die anthropologische Geschichte. Denn z.B. war das Rad nicht schon von vornherein bekannt, sondern es musste erst er-funden werden. Das bedeutet, dass die Idee einer "Kreisfläche" ebenso noch irgendwann im Unbekannten gelegen haben muss, ehe jemand durch synthetische Vorgänge (mittels Hilfslinien) anschließend den Kreis konstruierte und eben als solchen bezeichnete. Dasselbe gilt auch für andere geometrische Flächen.

Was hier jedoch wichtig zu unterscheiden ist, ist, dass geometrische Flächen natürlich nicht erfunden werden im Sinne von jemand erzeugt sie einfach aus dem Nichts. Die geometrischen Flächen tauchen in der Natur immer wieder auf (auch die Kreisform bei der Baumrinde bspw.), sie wurden jedoch nicht "bemerkt" oder "wahrgenommen", sondern als selbstverständlich wahrgenommen und man hat nicht reflektierend darüber nachgedacht. Präziser gesagt ist es eine Art "organische Mathematik", die in jedem Menschen innewohnt, aber eben nur organisch, latent, unbewusst angewendet wird.

Ein klassisches Beispiel ist der Wurf eines Speers. Hier berechnen wir nicht reflektierend (nachdenkend) im Kopf irgendeine Parabel und bestimmen die Spannweite in Form von Quantität (also von Zahlen), sondern wir gehen nach dem "Gefühl" und schätzen durch diese uns innewohnende organische Mathematik unsere Kraft und Auslenkung des Arms so ein, sodass wir das Ziel genau treffen. Das gleiche ist auch beim Zählen so. Würden wir das Zählen nicht erlernen vom Kindesalter an, könnten wir trotzdem immer noch "organisch" mehrere Dinge voneinander unterscheiden (sog. Mengenunterscheidung). Wir könnten sie eben nur nicht mit Zahlworten wie "eins", "zwei", "drei", usw. benennen, sondern die Anzahl nur organisch, unbewusst gewahren.

Erst wenn wir darüber reflektierend nachdenken, erst dann holen wir die organische Mathematik, die wir schon immer anwenden, ans Licht. Dadurch haben wir gelernt nicht nur organisch zu zählen, sondern reflektierend zu zählen (mit Hilfe von Begriffen) und dies verbal kundzutun. Und genau dadurch konnten wir auch erkennen, dass die Parabel schon seit Menschengedenken praktisch immer präsent war, wenn die Menschen damals mit Speerwaffen jagten. Erst der Denkprozess regte zur Er-findung einer Sache an. Es war schon immer da, es musste nur "gefunden" werden. (Dies bedeutet jedoch nicht, dass alles empirisch ist. Das ist wichtig zu unterscheiden. Die Erscheinungen, die wir wahrnehmen, sind immer noch die Produkte unseres Verstandes. Nur die Dinge an sich, welche uns dazu nötigen die Erscheinungen erst wahrzunehmen, sind objektiv, unabhängig von der Sinnlichkeit)

Genauso ist es auch mit den geometrischen Flächen. Sie waren organisch immer bei uns präsent, wir haben sie in unserer Natur mehr oder weniger genau wahrgenommen (meist Trapeze oder allg. Vierecke, aber auch eben Quadrate) und erst später wurde das Quadrat "er-funden", indem man erstmals die Konstruktion der Hilfslinien verwendete um jene Fläche einzugrenzen, die schon längst überall um uns herum war. Ist das nicht genial? Wie Hans richtig bemerkt hat, ist daher auch der Satz des Pythagoras auf die gleiche Art ein synthetisches Urteil. Denn zwar organisch war diese Mathematik zwar immer vorhanden, aber durch das synthetische Urteil (durch das Hineinkonstruieren neuer Linien, die eben den Zusammenhang zwischen Kongruenz und Gleichheit der Dreiecke augenscheinlich demonstrierte) erst, haben wir den Satz des Pythagoaras ans Licht geholt und können nun reflektierend darüber diskutieren.

Ein weiteres Beispiel ist auch die Arithmetik, mit einer klassischen Aufgabe: "12 + 8 = 20". Auch das ist ein synthetisches (kein analytisches) Urteil a priori. Die Arithmetik hat seine reine Anschauung in der Zeit, da der Begriff der Zahl genetisch aus der sukzessiven Addition sich wiederholender Einheiten gebildet wird, und also die Zeit als Anschauungsform voraus setzt. In dem Begriff der 12, in dem Begriff der 8 und in der Vereinigung dieser Begriffe ist die 20 nicht enthalten. Deshalb verwechseln viele auswendig gelernte Aufgaben mit analytischen Urteilen. Nur weil man 12 + 8 = 20 auswendig im Kopf gelernt hat, heißt das nicht, dass die Aufgabe automatisch ein analytisches Urteil ist (also das in der 20 irgendwie die 12 und die 8 drinsteckt), denn wir mussten ursprünglich erst ein synthetisches Urteil a priori bilden, mit dem wir auf das Ergebnis geschlossen haben und dies gelingt erst mit Hilfe der Anschauung über rein analytische Urteile der Begriffe 12 und 8 hinauszugehen und die Zahl 20 als Summe von 12 und 8 zu denken. (nämlich durch sukzessive Addition sich wiederholender Einheiten)

Wir sehen also wieder einmal: Kant lag ganz richtig. Die Mathematik ist insgesamt synthetisch. Die Geometrie ist davon natürlich nicht ausgeschlossen, wie jeder, der sich wirklich mit diesen Fachgebieten beschäftigt (und eben nicht nur pragmatisch), auch genaustens weiß. Selbst die Kant-Kritiker von heute konnten Kants Darlegungen nicht widerlegen, sondern nur dialektisch verwischen und mit sophistischen Argumenten antworten. Aber eine einzige Widerlegung brachte keiner der Kritiker bisher.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung

Ich bin der Meinung, dass Dein Beispiel für Deine Frage ungeeignet ist. Quadrate und Rechtecke sind keine ,,Entitäten" sondern mathematische Gedankenmodelle, die NUR durch Definitionen bestimmt sind. Und eine Definition ist so strukturiert, dass es heißt: Ein U ist ein O, mit den folgenden spezifischen Merkmalen, wobei U = Unterbegriff, O = Oberbegriff, und die spezifischen Merkmalen unterscheiden die U von allen O, die nicht U sind. (Solche Umschreibungen sind stark mit der Mengenlehe verknüpft)

Bei Diskussionen über Rauten, Rechtecken usw. ist es also nicht sinnvoll, wenn Du die genauen Definitionen nicht kennst.

Der einzige Weg der daran vorbeiführt, ist die Figuren aufzuzeichnen und zu behaupten: So sieht ein Rechteck aus; so eine Raute usw.

Diese ausschleßliche Weg über Definitionen unterscheidet der abstrakte Weg der Mathematik von anderen Wissenschaftsbereichen, wie Chemie oder Biologie, wo es darum geht, an Hand von Beobachtungen eine Ordnung im Denken zu bringen, wobei der von Dir beschriebene analytische und synthetische Vorgang beide ihre Exsistenzberechtigung haben.

Der von Dir verwendete Begriff ,,mathematisches Experiment" sagt mir nichts. Was muss ich mir darunter vorstellen?

verreisterNutzer  19.07.2020, 15:01

Die geometrischen Lehrsätze sind auf die Axiome zurückführbar durch Vermittlung einer neuen Konstruktion, eines geometrischen Experiments. Das meinte ich hier mit geometrischem Experiment. Beim Satz des Pythagoras z.B.:

In die Figur wurden neue Linien hineinkonstruiert, die den Zusammenhang mit den Sätzen der Kongruenz und der Gleichheit der Dreiecke ad oculos demonstrierte. Diese "Linien" stellen das synthetische Moment der Entdeckung dar. Dagegen die Ableitung von den Axiomen ist lediglich eine analytische Arbeit, ein bloßer Regress des vorausgehenden synthetischen Verfahrens.

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