Merkmale vom Expressionismus und der Literatur der Jahrhundertwende?

4 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Hier etwas Ausführlicheres, leider nur stichwortartig formuliert:

Vorbemerkung: Gottfried Benn selbst bezeichnet sein Werk als „Expressionismus Phase II“.

Es ist daher notwendig zu wissen, was „Expressionismus (Phase I)“ ist!

Wortgeschichte : Ausstellung in Berlin. Picasso, Braque und andere werden Expressionisten genannt im Unterschied zu den Impressionisten. Kurt Hiller übertragt den Begriff auf die Dichtung. Erst 1911 (Heym, van Hoddis).

Hintergrund : « Als aber nach dem Siebziger Krieg die Milliarden ins Land und die Gründeranschauungen selbst die nüchternsten Köpfe zu beherrschen anfingen, fand auch Kommerzienrat Treibel sein (...) Wohnhaus ( ...) nicht mehr zeit- und standesgemäss und baute sich (...) eine modische Villa (...) » (Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel, Zweites Kapitel).

Ideologischer Kontext der Generation, die da geboren wurde (1875-1895). Dem Prosaismus und der Ideallosigkeit der Gründerzeit wird sie den Geist entgegenstellen.

Gilt durchaus auch für Benn: « Ich stamme aus dem naturwissenschaftlichen Jahrhundert » (‚Lyrisches Ich’, in: Über mich selbst, S. 27).

Die geistigen Hauptströmungen, die den Expressionismus mitprägen :

Nietzsche (für Benn: „der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche“, „seit Luther das größte deutsche Sprachgenie“: „jeder Satz ist zweideutiger, faszinierender, beunruhigender, weniger gelassen als bei Goethe. Er ist [...] der Mensch ohne Inhalt, der die Grundlagen der Ausdruckswelt schuf“ (sämtliche Zitate: Nietzsche / nach 50 Jahren, 1950). Ausdruck wichtiger als Inhalt, Ekstase, Rausch)

Freud (das Unbewußte)

Mach („das Ich ist unrettbar“)

Bergson („élan vital“: Intuition (= Leben, Instinkt) wichtiger als Verstand

Kritik am Naturalismus, Positivismus, Fortschrittsglauben, Historismus

Rechtfertigung eines neuen Pathos : Stefan Zweig 1909 (= Marinetti, Futurismus) in Das neue Pathos : Aufgabe des Dichters sei, die geistigen und seelischen Kräfte des Menschen zu aktivieren. Die Gewalt des Gefühls solle eine Antwort sein auf die Gewalt der Umwelt (Großstadt). Pathos sei Ausdruck der Lebensenergie.

Also Vitalismus des Geistes. Pathos des Geistes. Erklärt die Schwäche des politischen Engagements (Lukacs : « abstrakte Antibürgerlichkeit »). Ludwig Rubiner : « ... den Geist, den Geist, den Geist (s.e. : nicht nur Zivilisation) ». Arbeiter gegen Unternehmer, aber mehr existentiell als politisch.

Heinrich Mann, 1910 : Geist und Tat. Der Schriftsteller solle nicht Macht ausüben, sondern ihr (die geistlos ist) den Geist entgegenstellen. Idealistisch, aufklärerisch.

Nach seinem „Irrtum“ soll Benn auch auf die Illlusion der (politischen) Macht verzichten. Beispiel : Franz Werfel (Der Weltfreund, 1911). Abstrakte Brüderlichkeit. Besingt den « guten Menschen » als « das Maß der Dinge ». « Alles ins Reine, ins Allgemeine » Menschheitspathos.

Erster Weltkrieg : Katastrophe der Humanität. Denn Expressionismus ist ein Humanismus.

Verantwortlich für ersten Weltkrieg durch Parolen ? Falsch. Krieg als Metapher (Heym). Wurde von Nationalisten vereinnahmt. Später : viele bekennen sich zum Pazifismus.

Hugo Ball 1916 : « Gott ist tot. Eine Welt brach zusammen. Ich bin Dynamit. »

Benn geht damit konform: „Die Götter tot. Die Kreuz- und die Weingötter. Mehr als tot: schlechtes Stilprinzip, wenn man religiös wird, erweicht der Ausdruck“ (1908).

Hugo Ball weiter :

  1. Die von der kritischen Philosophie vollzogene Entgötterung der Welt ;

  2. die Auflösung des Atoms in der Wissenschaft;

  3. Die Massenschichtung der Bevölkerung im heutigen Europa.

Also Identitätskrise, auch Geist nicht mehr gesichert in einer Welt der Geistlosigkeit. Ball sieht die Notwendigkeit und Chance eines Neuanfangs :

« Sie sind Vorläufer, Propheten einer neuen Zeit ».

Daran knüpft Kasimir Edschmid an in Expressionismus in der Dichtung, 1917 (also schon im Rückblick, nicht mehr programmatisch, sondern deutend) :

« Künstler der neuen Bewegung », nicht mehr nur « die nackte Tatsache » (...). Ihnen entfaltete das Gefühl sich masslos. Sie sahen nicht. Sie schauten. Sie photographierten nicht. Sie hatten Gesichte. (...). »

« Die Welt ist da. Es wäre sinnlos, sie zu wiederholen. » Es geh vielmehr darum, sie im letzten Zucken, im eigentlichsten kern aufzusuchen und neu zu schaffen, das ist die grösste Aufgabe der Kunst. »

"Ausdruck - Vision - Schrei"

Gegen Naturalismus : kompliziertes Verhältnis. Auch er gegen Gründerideologie (daher auch identische Motive wie H.re, Stadt...). Naturalistische Detailfülle : der Mensch handelt nicht, sondern wird gehandelt. Aber hat nichts erreicht. Also andere Richtung : Scheinbarer Verzicht auf Rhetorik im Naturalismus. Hier : bewusst neue Rhetorik, neue Syntax. Sprachexperimente im Dienste des neuen Menschen (cf. Menschheitsdämmerung). Nebeneinander als Aufhebung traditioneller Kausalzusammenhänge (auch räumlich und zeitlich). Manchmal in der alten Form des Sonetts (Wolfenstein, Die Städter) : Dinge sind Wesen (Straßen wie Gewürgte), und Menschen werden wie Dinge behandelt (typisch für Benn).

Vereinsamung des Menschen, um sein Privates gebracht : « Dass ein jeder teilnimmt, wenn ich weine » : erster Schritt in die Verdinglichung. Parataxe, Verschiebung des Artikels (Der/ein) und Aussparung der Konjunktionen, Einsatz des Neutrums bei Trakl nicht mehr als leeres Pathos wie bei Werfel, sondern als Chiffre für die Nicht-Beherrschbarkeit (« Ein Fremdes ») der Sinnzuweisung (-gebung).

Verschiebung, ja Verzerrung alter Metaphorik (Heym, Trakl). Auch im Dienste der

Entillusionierung, d.h. gegen die Idee, der Mensch sei gut und das Leben ebenfalls, eigentlich : nur Idealisierung, die das schlechte Böse verdeckt (Benn, Die kreissende Frau).

Diagnose : Verdinglichung des Menschen : « ein Pferdchen stolpert über eine Dame » (Lichtenstein, Die Dämmerung). Endphase einer Zivilisation.

Auch Benn : Körper des toten Bierkutschers als Vase, Boden und schließlich auch sarg für die Kleine Aster.

Groteske Verzerrung, auch im Theater.

LiloB  05.09.2010, 13:31

Diesen Text habe ich mir ausgedruckt, um ihn später in Ruhe zu lesen. Hoffentlich ist die Nennung der allzu wenig bekannten Namen für einen Schüler kein Hindernis, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Ich denke, weniger wäre vielleicht hilfreicher gewesen. Also , etwas weniger kompliziert, - falls das bei diesem Thema ohne weiteres möglich wäre.

0
KleinerMaulwurf 
Fragesteller
 05.09.2010, 13:33

Ich muss Dir natürlich dafür danken, weil ich hier einen Großteil meines Referates bilden kann ohne zusätzliche Informationen zu Rate ziehen zu müssen und ich bin selbstverständlich sehr gerührt, welchen Aufwand Du Dir gemacht hast. Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen, dass ich Dir erst jetzt ein Wort des Dankes widme, weil ich mit schwerster Erkältung im Bett lag, deshalb nicht an meinem Referat arbeiten konnte und erst heute fortgesetzt habe zu recherchieren. Da ich noch mitten in der Arbeit stecke, hoffe ich, dass Du mir das nicht verübelst und ich Dich mit "Hilfreichster Antwort" etwas trösten kann. Tut mir wirklich sehr Leid für die späte Meldung und nocheinmal vielen, vielen Dank !!!

0
LiloB  06.09.2010, 18:50
@Novalis1

mehr als verdient. aber auch ein großes Lob für den kleinen Maulwurf, der Deinen Fleiß bzw. Dein Wissen zu schätzen weiß.

0

Zunächst würde ich unterscheiden in Expressionismus in der Malerei - und in der Literatur. Gegensätze in der Malerei; Expressionismus - siehe Picasso, vlaminck,ROAULD;Edvard Munch - Nolde,Kokoschka Pechstein (als deutsche Vertreter)sowie die Maler der "Brücke" und die Maler der "Blauen Reiter" - z.B. im Gegensatz zu Moderson-Becker, (deren Malerei aber für beide Bereiche gilt), Vogeler (Jugendstil). Hier kannst Du durchaus bei wiki nachlesen, ohne wörtlich zu zitieren. Gleiches gilt für Literatur; zu den Jugendstil-Malern gehören Autoren wie Rilke usw. - zum Expressionismus der Philosoph Nietzsche, Gottfried Benn. Also; Eingabe; jugendstil- und dann Blaue Reiter, Brücke - dann hast Du eine Menge Beispiele. Und kannst umformulieren (auch die Reihenfolge verändern) - das sollte Dir genügend Stoff geben. Viel Erfolg!!

Fortsetzung:

Zum Begriff "Jugendstil" kannst du dich an folgende synthetische Darstellung halten:

„Als Umbruchs- und Übergangszeit förderte die Jahrhundertwende bei der Generation, die sie erlebte, ein durchaus ambivalentes Weltgefühl, das in den philosophischen Hauptströmungen der Zeit, der Lebensphilosophie und dem Monismus, einen fruchtbaren Nährboden fand. Jugendstil will dem Leben als Ganzem gerecht werden und erhebt einen Totalitätsanspruch, den er durch den Glauben an die organische Einheit alles Seienden legitimiert. So nimmt er die ihm eigene Spannung aus einer weit ausgreifenden Ambivalenz, die konsequent in einen „vitalistischen Monismus“ (Robert Schmutzler) mündet.

Strukturbestimmend sind daher Gegensatzpaare wie Steigen und Sinken, Vitalität und Passivität, Zerfall und Neubeginn, ahnungsvolle Nacht und dumpfe Pan-Stunde, Resignation und Euphorie. Während der Naturalismus auf unbegrenzte Thematik und Formenvielfalt bedacht war, trifft der Jugendstil eine Auswahl und stilisiert sie. Inhaltlich gesehen wird das Leben lediglich auf seine Gesetzmäßigkeit hin befragt, und alles Zufällige wird systematisch ausgeschaltet. Das formale Ergebnis ist dann eine straffe organische Tektonik, die das eindeutig Lineare bevorzugt. Schwungvolle Linien wie Schlangen oder Frauenhaare, florale Motive wie Lianen werden zu Standardbeispielen. Aus der Reaktion gegen den Historismus schließlich erklärt sich das neue optische Schema des literarischen Jugendstils: Es geht um eine zweidimensionale Flächenkunst; der physische Hintergrund wird aufgehoben, „alles ist nah und gleichmäßg nah“ (Dominik Jost). Auf diese Weise wird ein ahistorisches, das heisst auch überzeitliches Weltbild dargerstellt, in dem die gesellschaftlich-soziale Wirklichkeit keinen Platz mehr einnimmt. Den Primat hat das Ornament, nicht das Sein, und das Faktische tritt hinter dem Mythischen zurück.“

(Philippe Forget, 'Werden im Vergehen', in: Park, Zeitschrift für neue Literatur, Heidelberg-Berlin, Juli 1977).