Kann mir jemand diese Karikatur erklären? (Soziale Frage, Industrialisierung)?

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Die Karikatur „Der verhängnißvolle Weg“ erschien original in der Beilage zum „Wahren Jacob“ Nr. 131 am 1. August 1891 (in der Seitenzählung des 8. Jahrgangs 1891 der damals alle 14 Tage erscheinenden sozialdemokratische Satirezeitschrift S. 1066, diese Seitenzahl ist aber nicht auf die Seite gedruckt).

https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wj1891/0142

Für die Deutung kann der Titel verwendet werden (ein Verhängnis ist ein unheilvolles Schicksal, ein Unglück; es gibt in der Abbildung mehrere Wege, die zu Bauwerken/Stätten führen), auf die erläuternden Beschriftungen geachtet werden und ein Text unter der Abbildung einbezogen werden, der auf dem Blatt in der Fragebeschreibung anscheinend fehlt.

„Die Handwerker, Kleinbauern, Meister,

Sie ziehen im Massen heran.

Es lockt sie der Sang der Sirenen

Auf eine gefährliche Bahn.

Es lockt sie hinein in den Rachen,

des schrecklichen Götzen Baal,

Dort fallen sie wehrlos zum Opfer

Dem mächtigen Großkapital.

Doch warnend tritt ihnen entgegen

Ein Weib aus der Freiheit Land

„Nicht weiter auf diesem Pfade!

Zur Linken die Blicke gewandt!

Hier stürzt ihr hinab ins Verderben,

Wo gräßlich der Opferbrand loht,

Dort winkt euch auf lichten Höhen

Erlösung von Qual und Noth““

Eine große Anzahl Männer geht einen verhängnisvollen Weg, der sie ins Verderben führt, einer Vernichtung durch den Kapitalismus.

Einwirkende Einflüsse gehen dabei von bestimmten Parteien/politischen Richtungen (dargestellt als verführerisch auftretende junge Frauen) aus, die Menschen zum Weg des Kapitalismus anlocken und verleiten.

Die Sozialdemokratie (dargestellt als warnend auftretende stärker verhüllte junge Frau) versucht die Männer von dem verhängnisvolle Weg anzuhalten und weist auf den Weg links daneben zum Sozialismus hin.

Hochgehaltene Schilder („Klein-Bauern“, „Schreiner-Innung“, Schuhmacher-Innung“, „Schlosser-Innung“, „Schneider-Innung“) zeigen Berufsgruppen, aus denen die Männer, die zu Opfer werden, stammen: Kleinbauern und Handwerker (einfache Handwerker und Handwerksmeister).

Junge Frauen, die stehend der sitzend die Männer zu beeinflussen versuchen, vertreten bestimmte Parteien/politischen Richtungen. Zum Kapitalismus verlocken mit Gesang und Musikinstrumenten (Harfe, Handtrommel, Diaulos [griechisch: δίαυλος; Doppelblasinstrument; Aulos wird oft als Flöte übersetzt und ein Diaulos wäre dann eine Doppelflöte, aber der Klang ähnelt mehr der einer Oboe oder Klarinette]), barfuß und mit nackten Brüsten oder ganz entblößtem Oberkörper: „ULTRAMONTAN“, „NAT.LIBERAL“, „CONS.“, „FREISINN“. In der griechischen Mythologie locken die Sirenen vorbeifahrende Seefahrer mit ihrem betörenden Gesang an und führen sie damit in den Tod. Die Ultramontanen (lateinisch ultra montes = jenseits der Berge, also südlich der Alpen, wo der Vatikan liegt) sind Anhänger einer Richtung im Katholizismus, die sich sehr stark auf Anweisungen durch das Papsttum stützt. Partei des politischen Katholizismus war die Deutsche Zentrumspartei (kurz: Zentrum). Die Nationalliberale Partei war der damalige rechte Flügel des Liberalismus. Die Konservativen gab es als Deutschkonservative Partei und als Freikonservative (Deutsche Reichspartei). Die Deutsche Freisinnige Partei war der damalige linke Flügel des Liberalismus.

Eine junge Frau ist in ein weites Gewand gehüllt, mit einer über den Kopf gezogenen Kapuze, wie eine Seherin. Sie ist Vertreterin der Sozialdemokratie („Soz. Dem.“). In beschwörender Geste hält sie ihren linken Arm warnend aus, um die Männer von dem eingeschlagenen Weg abzuhalten, mit dem rechten Arm zeigt sie zum Gebäude des Sozialismus, zu dem links ein Weg hinführt.

Die heranziehenden Männer scheinen eher heiterer Stimmung zu sein. Einige Männer in dunklem Anzug (z. B. jemand mit überdimensional dargestelltem Kopf) sind vielleicht zeitgenössische Politiker oder Funktionäre von Organisationen, aber eine Identifizierung ist nicht leicht. Kurz vor dem Anfang der Brücke geht ein Kleriker (Geistlicher) der römisch-katholischen Kirche mit dunklem Scheitelkäppchen, der in oder aus einem Buch liest.

Die Brücke, die über eine Abgrund führt, ist am Anfang prachtvoll, mit Sockeln und Kapitellen, auf denen Pfeiler stehen. Auf dem einen Pfeiler steht: „Freie Concurrenz.“, „Freihandel“, „Manchesterthum“. Oben drauf befindet sich ein Geldsack, mit stilisiertem Gesicht (Augen, Nase, Mund). Dies steht für Grundsätze: Wettbewerb in einer „freien Marktwirtschaft“, internationaler Handel, der von Kontrollen und Regulierungen befreit ist, Manchestertum (bzw. Manchesterkapitalismus) für eine extremen wirtschaftlichen Liberalismus, der alle staatlichen Eingriffe ablehnt und für ungezügelten Kapitalismus eintritt. Auf dem anderen Pfeiler steht: „Zunftzwang“, „Befähigung-Nachweis“, „Schutzzoll.“ Inhaltlich geht es um Bestimmungen und Maßnahmen in damaligem deutschen Kaiserreich, wobei diese zum Teil von den Grundsätze der Theorie/„reinen Lehre“ abweichen (aufgrund der Nähe wird wohl der Freisinn als besonders grundsatztreu liberal dargestellt, einige andere Parteien an bestimmten realen Interessen orientiert, z. b. einer Schutzzollpolitik, die einheimische Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz durch Abgaben [Zölle] schützt). Oben drauf befindet sich die Büste eines älteren Mannes mit spärlichem Haar, Brille, langer spitzer Name und verkniffener Miene. Zwang, Druck und strenge Überwachung wird ausgedrückt.

Auf einem Quergewölbe ist ein Adler (auf den Reichsadler bezogen) dargestellt, anscheinend zornig und angriffslustig. Danach ist die Brücke nur noch aus Holz.

Die Männer weiter vorne schauen zunehmend besorgt, ängstlich und erschreckt zurück, können aber nicht entkommen. Eine riesige männliche Figur mit Bart, Personifikation des Kapitalismus, verschlingt sie mit zu einem gewaltigen Schlund geöffneten Mund. Seine Hände sind untätig gefaltet, der Kapitalist ist nach der Darstellung nicht produktiv durch eigene Hände schaffend, sondern ausbeuterisch. Die Darstellung bezieht sich auf den auch im Alten Testament erwähnten semitischen Gott Baal. Ihm wurden nach antiken Autoren Brandopfer dargebracht, auch als Menschenopfer (darunter Kinder). Es gibt den Begriff Moloch als alles verschlingende Macht, die ständig und unersättlich Opfer fordert. Von den Feuerflammen stiegt eine Rauchwolke auf. Die Menschen werden als Opfer vom Kapitalsims vernichtet.

Die Karikatur stellt sich gegen den Kapitalismus und greift seine Befürworter und Unterstützer an. Von der Sozialdemokratie wird ein besserer Weg gewiesen. Auf hellen Anhöhen steht ein große schönes Gebäude. Davor weht eine rote Flagge. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ist dort aufgeschrieben, eine Losung aus der Französischen Revolution. Am Giebel steht „Sozialismus“. Oben drauf steht eine große weibliche Figur (offenbar eine Allegorie, die Marianne mit Freiheitsmütze), Sie trägt einen Palmzweig (Zeichen für Frieden und Sieg) und einen Kranz mit der Aufschrift Gerechtigkeit. Es werden positive Werte hervorgehoben.

Ich interpretiere das wie folgt:

Der Kapitalismus wird als Höllenschlund dargestellt. (oder dampft es wegen der Industrialisierung?)
Vor der Brücke locken ein paar junge Frauen vermutlich in Anlehnung an die Sirenen der Griechischen Seefahrermythologie.
Wegen der schlechten Bildqualität kann ich nicht viel erkennen, was auf den Säulen steht. Vermutlich Versprechungen, was den ganzen Handwerker-Innungen im Kapitalismus erwartet.

Übrigens, in Indien protestieren die Bauern seit geraumer Zeit wegen einer Landwirtschaftsreform. Die Bauern sollen zu Selbstvermarktern werden. Bisher hatten sie ihre Waren an Zwischenhändler verkauft, meist zu festen Preisen. Jetzt sollen die Zwischenhändler abgeschafft werden und die Bauern sollen sich mit der Industrie direkt absprechen. Der Staat verspricht viel, aber die Bauern glauben nicht dran.

Auf die Karikatur übertragen, würden die Bauern vermutlich vor oder auf der Brücke protestieren, weil sie sich nicht locken lassen wollen.
Das ist es auch, was mich an der Karikatur stört: Die Gelassenheit, mit der die Menschen die Brücke queren.
Im Vordergrund läuft noch jemand mit einem sehr großen Kopf. Kann ich leider nicht genau erkennen, ob es sich dabei um eine Geschichtliche Größe handelt. Aber wird einen Grund haben, weshalb der Kopf so groß gezeichnet wurde.