Kann man/ Darf man / Muss man dem Gewissen trauen und folgen?

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Zunächst ist zu überlegen, was das Gewissen überhaupt ist und wie es entsteht. Zu den verschiedenen Auffassungen dazu kann in Philosophielexika etwas nachgesehen werden, z. B.:

Hans Reiner, Gewissen. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: G – H. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1974, Spalte 574 – 592

Oswald Schwemmer, Gewissen. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß. Band 3: G – Inn. 2., neubearbeitete und wesentlich ergänzte Auflage. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2008, S. 132 – 135

Das Gewissen ist ein Selbstbezug einer Person. Sie bezieht sich auf die eigenen, verinnerlichten grundlegenden moralischen Überzeugungen, die für diese Person gültig und verbindlich sind. Die innere Stimme ist von diesen Normen und Werten geleitet und enthält Urteile.

Gewissen ist:

a) autonom

b) Kontrolle der gewissenhaften Einhaltung von als zweifellos gültig vorausgesetzten Sittlichkeitsvorschriften

a) im Bewußtsein in Erscheinung tretendes persönliches Betroffensein von einem konkreten sittlichen Verhaltensanspruch (Sollensbewußtsein)

b) die solches Bewußtsein ermöglichende oder herbeiführende Anlage bzw. deren Substrat (Organ)

Funktionen:

a) Feststellung/Prüfung eines Anspruches (Verhaltens-Weisung)

b) Feststellung oder Prüfung dessen Erfüllung oder Nichterfüllung (Verhaltens-Kontrolle)

a) eigene beurteilende Stellungnahme (autonomes Gewissen)

b) Forderung einer dazu legitimierten Autorität (autoritäres Gewissen)

Begründung:

a) vorwiegend oder ganz von der Vernunft (ratio) geleitet

b) wesentlich vom eigenen Gefühl bestimmt (irrational, emotional)

a) rückschauend: vergangenes eigenes Verhalten

b) vorausschauend auf zukünftiges, noch zu vollziehendes Verhalten (Reflexion auf gegenwärtig in Vollzug befindliches Verhalten oder auf bisher versäumtes, aber noch erfüllbares Verhalten)

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es eine Tendenz, das Gewissen als sekundäres Ergebnis psychologischer Zusammenhänge zu begreifen, meist unter Auflösung seines Autoritätsanspruches.

Das Gewissen kann auch in der Ethik einen mehr oder weniger großen Raum einnehmen. Bei Immanuel Kant war die Frage einer sittlichen Pflicht ausschlaggebend (kategorischer Imperativ). Darin, was wirklich Pflicht ist, kann ein Irrtum vorkommen. Bei der subjektiven Seite, sich an das Urteil seiner praktischen Vernunft gehalten zu haben, gibt es keinen Irrtum. Das Gewissen einer Person richtet sich darauf, ob die Beurteilung von Handlungen mit Behutsamkeit und sorgfältiger Prüfung übernommen wurde.

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797). Zweiter Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Einleitung zur Tugendlehre. XII. Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt. b) Vom Gewissen:
„Eben so ist das Gewissen nicht etwas Erwerbliches, und es giebt keine Pflicht sich eines anzuschaffen; sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich. Zum Gewissen verbunden zu sein, würde so viel sagen als: die Pflicht auf sich haben Pflichten anzuerkennen. Denn Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurtheilen vorhaltende praktische Vernunft. Seine Beziehung also ist nicht die auf ein Object, sondern blos aufs Subject (das moralische Gefühl durch ihren Act zu afficiren); also eine unausbleibliche Thatsache, nicht eine Obliegenheit und Pflicht. Wenn man daher sagt: dieser Mensch hat kein Gewissen, so meint man damit: er kehrt sich nicht an den Ausspruch desselben. Denn hätte er wirklich keines, so würde er sich auch nichts als pflichtmäßig zurechnen, oder als pflichtwidrig vorwerfen, mithin auch selbst die Pflicht ein Gewissen zu haben sich gar nicht denken können.

Albrecht  29.01.2012, 07:04

Die mancherlei Eintheilungen des Gewissens gehe ich noch hier vorbei und bemerke nur, was aus dem eben Angeführten folgt: daß nämlich ein irrendes Gewissen ein Unding sei. Denn in dem objectiven Urtheile, ob etwas Pflicht sei oder nicht, kann man wohl bisweilen irren; aber im subjectiven, ob ich es mit meiner praktischen (hier richtenden) Vernunft zum Behuf jenes Urtheils verglichen habe, kann ich nicht irren, weil ich alsdann praktisch gar nicht geurtheilt haben würde; in welchem Fall weder Irrthum noch Wahrheit statt hat. Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang sich an dessen Urtheil nicht zu kehren. Wenn aber jemand sich bewußt ist nach Gewissen gehandelt zu haben, so kann von ihm, was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden. Es liegt ihm nur ob, seinen Verstand über das, was Pflicht ist oder nicht, aufzuklären: wenn es aber zur That kommt oder gekommen ist, so spricht das Gewissen unwillkürlich und unvermeidlich. Nach Gewissen zu handeln kann also selbst nicht Pflicht sein, weil es sonst noch ein zweites Gewissen geben müßte, um sich des Acts des ersteren bewußt zu werden. Die Pflicht ist hier nur sein Gewissen zu cultiviren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden (mithin nur indirecte Pflicht), um ihm Gehör zu verschaffen.“

Maximilian Forschner, Gewissen. In: Lexikon der Ethik. Herausgegeben von Otfried Höffe. Originalausgabe, 7., neubearbeitete und erweiterte Auflage. München : Beck, 2008 (Beck'sche Reihe ; 152), S. 110 – 112

S. 110 – 111: „Mit Gewissen bezeichnen wir moral-philosophisch verschiedene Aspekte der moralitätsfähigen u.[nd] für ihr Tun verantwortlichen Person. Gemeint ist einmal der Besitz eines moralischen Horizontes, d. h. die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen gut u.[nd] schlecht u.[nd] das Wissen darum , daß das Gute zu tun und das Schlechte zu unterlassen ist. G.[ewissen] als derartiger habitus principiorum ist die grundlegende Voraussetzung, um selbst moralische Urteile bilden und zu begründen zu können. Das Wort meint zum zweiten den auf das eigene Handeln bezogenen Akt der Anwendung dieser Prinzipien in der moralischen Beurteilung einer konkreten Entscheidungs- u.[nd] Handlungssituation (G.[ewissen] als conscientia). Das Wort meint zum dritten das selbstbezüglich intuitiv richtende Bewußtsein hinsichtlich der Ernsthaftigkeit oder Unlauterbarkeit der moralischen Urteilsbildung. Es meint schließlich ein moralisches Gefühl (der Unlust), das sich als affektive Schranke bemerkbar macht, wenn wir dem zuwiderzuhandeln versucht sind, was wir in concreto für moralisch richtig halten, oder als innere Sanktion der Beschädigung des moralischen Selbstwertgefühls («G.[ewissens]biß»), wenn wir gegen unser moralisches Urteil handeln oder gehandelt haben.“

S. 112: „Ein besonderes Problem stellt die Verpflichtung des Menschen auf sein irrendes G.[ewissen].

Insofern der einzelne im G.[ewissens]urteil von sich sagen kann, die moralische Beurteilung seiner (intendierten) Handlung in aller Sorgfalt u.[nd] Ernsthaftigkeit vorgenommen zu haben, ist er verpflichtet, seinem Verstandes(urteil), was zu tun ist, (auch wenn es irrig sein sollte) zu folgen, da er nur so vor sich als verantwortlich handelnde Subjekt erweist u.[nd] erweisen kann. Als solches wird er über die (grund)gesetzliche Garantie der G.[ewissens[freiheit in einem freiheitlichen politisch verfaßen Gemeinwesen anerkannt. Derartige G.[ewissensfreiheit] halt allerdings im äußeren Verhalten dort ihre Grenze, wo durch ihre Inanspruchnahme die wohlbegründeten Güter u.[nd] und Rechtsansprüche anderer gefährdet und verletzt werden. In schwerwiegenden Fällen besteht hier eine moralische Berechtigung, wenn nicht Verpflichtung, jemanden daran zu hindern, nach seinem G.[ewissen] zu handeln (wenn etwa jemand aus religiöser Überzeugung seinem Schutzbefohlenen erforderliche ärztliche Hilfe versagt).“

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Albrecht  29.01.2012, 07:07

1) Kann man dem Gewissen trauen und folgen?

Die Möglichkeit, dem Gewissen zu trauen und zu folgen, besteht eindeutig. Das Gewissen enthält für gültig gehaltene Überzeugungen, die Normen und Werte betreffen und von einer Person verinnerlicht sind. Daher besteht ein psychologisches Hindernis, das völlig ausschließt, dem Gewissen zu trauen und zu folgen, sicherlich nicht, sondern sich von ihm leiten zu lassen, ist eher naheliegend.

2) Muss man dem Gewissen trauen und folgen?

Eine Zwangsläufigkeit besteht nicht. Ein Mensch kann im Zweifel sein, was richtig bzw. erstrebenswert ist. Außerdem kann jemand die Auffassung haben, das Gewissen sei vor Fehlern und Irrtümern nicht sicher. Ein Mensch kann das, wozu sein Gewissen ihn auffordert, nicht tun (den Ruf des Gewissens mißachten, sich über ihn hinwegsetzen). Möglicherweise ist er dann hinterher mit sich selbst nicht im Reinen und hat Gewissensbisse.

3) Darf man dem Gewissen trauen und folgen?

Diese Frage ist, insbesondere im konkreten Einzelfall, die schwierigste. Ein allgemeines durchgängiges Ja oder nein, das unbedingt gilt, gibt es meines Erachtens dabei nicht.

Wenn die Überzeugungen des Gewissens von einem äußeren Umfeld übernommen wurden, so ist es besonders wichtig, sie zu überprüfen und sich nicht von einer fremden Autorität zu falschen Entscheidungen steuern zu lassen. Die eigene Vernunft sollte gebraucht werden. Gibt es eine schlüssige Begründung für die Richtigkeit der moralischen Grundsätze, sind sie einleuchtend? Aber auch selbst entwickelte Grundsätze treffen nicht unbedingt das Richtige/Gute. Ein Überdenken kann angesagt sein, um dann einer Einsicht in das wahrhaft Gute zu folgen.

Dem Gewissen zu trauen und folgen, kann (ethisch gesehen) erlaubt sein, sogar das, was ein Mensch in einer Situation tun sollte.

Das Gewissen ist aber nicht objektiv unfehlbar und kann sich irren. Dies kann einerseits die moralischen Grundsätze, die Normen und Werte betreffen, andererseits ihre Anwendung, indem in Bezug auf Tatsachen, die für eine Beurteilung durch das Gewissen von Belang sind, Fehleinschätzungen vorlagen.

Wenn jemand aus Gewissensgründen in einer menschenverachtenden Diktatur staatlichen Befehle nicht gehorcht und so ungerecht verfolgte Menschen rettet, so ist dies ethisch gesehen lobenswert. Jemand kann aber auch Menschen hart behandeln und bis zur Tötung bekämpfen und dabei Regungen von Mitleid und Erbarmen unterdrücken, weil sein Gewissen es für Pflicht hält, Feinde des Staates/des Volkes/der Kirche zu bekämpfen. Jemand kann andere bestrafen oder etwas tun, das ihnen schadet, wobei der vorliegende Sachverhalt aber nicht richtig verstanden wurde.

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Agigii 
Fragesteller
 12.02.2012, 00:30
@Albrecht

Danke für deine ausführlich Antwort, Albrecht. ;-) Du hast mir gute ansätze zum überlegen gegeben

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Stell dir vor, du hättest etwas gegen dein Gewissen getan. Welche Gefühle löst das aus ? Angst? - vor Strafen ?, vor Liebesentzug ?, davor, nicht mehr dazu zu gehören ... ? Scham ? Vor wem müßtest du dich verantworten ? Nur vor dir selbst ...?

Mach das ein paar mal mit verschiedenen Handlungen gegen dein Gewissen. Dann wirst du bald wissen, ob du ihm trauen kannst, ob es wirklich deine innere Stimme ist oder eine von außen auferlegte Fessel.

Agigii 
Fragesteller
 25.01.2012, 20:13

kannst du mir ein beispiel nennen? Eins indem suich gheraustellt ob man dem gewissen trauen kann? Bitte

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Fragt sich, was aus dem Gewissen spricht?

  • Der intuitive barmherzige Menschenverstand?
  • Oder ein aufgedrücktes Wertesystem, das zu hinterfragen wäre?

Wenn Du Deine Gewissens-Ethik hinterfragst, warum tust Du es?

  • Weil die übernommenen Werte gegen die Natur sind?
  • Weil Dein innerer Schweinehund stärker ist?

Beantworte diese Fragen, dann weißt Du, ob Du Deinem Gewissen trauen kannst.

Ein objektives Gewissen gibt es im übrigen nicht. Bei jedem hat sich ein anderes gebildet. http://psychotraining.beepworld.de

Müssen tust du nicht, können schon und dürfen kommt drauf an. Ab und zu sollte man das eigenen Gewissen daraufhin überprüfen, ob es mit den gängigen Gesetzen und Moralvorstellungen übereinstimmt, und wenn nicht, warum, und welche eigene Überzeugungen dahinter stehen und ob diese berechtigt sind.

Art. 4 GG sagt: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."

Das heißt, für eine Gewissenentscheidung, die dem Gesetz widerspricht, darfst du nicht verurteilt werden. Du darfst also deinem Gewissen folgen, solange, und das ist wichtig!!!!, es keine straflose Handlungsalternative zu deiner Entscheidung gibt, die du anwenden hättest können.

Man kann sich also bei strafbaren Handlungen nicht mit dem Gewissen "herausreden".

Im Zweifelsfall benutze eher den Verstand als dein Gewissen, wie BabyShay sagt.

Ob man dem Gewissen trauen kann, ist einwandfrei mit Ja zu beantworten, da Gewissen ein Ethischer Grundsatz der eigenen Persönlichkeit ist.

Ob man ihm trauen darf ist (unter Ausschluss der gesellschaftlichen Moralvorstellung), abhängig von der Persönlichen Moralvorstellung. Diese wiederum leitet sich von der eigenen Ethik ab.

Ob man dem Gewissen nun trauen oder folgen muss, ist eine theoretische Fragestellung die man nur mit seiner eigenen Einstellung treffen kann.

Denn es gibt kein muss, in der Ethik, nur in der Moral. Ethik heißt immer der eigenen Moral folgen zu wollen.