Kann man "auf knopfdruck" weinen üben?

10 Antworten

Teil 1:

Ein kompliziertes Thema, das hier nicht "frei nach Fantasie, Schätzung und Meinung" beantwortet werden kann.

"Weinen müssen" "in natura" ist ein Prozess, der auf psychischer und körperlicher Ebene beginnt, wobei beide Ebenen einander gegenseitig "füttern" und den Prozess bis zum eigentlichen Weinen mitsamt Tränen, Stimme, Körperhaltung, Gestik, Mimik und womöglichem gesprochenem Inhalt vorantreiben. Dieser Prozess MUSS einem Menschen in allen Facetten und Zusammenhängen absolut bewusst geworden sein, er muss die körperlichen und seelischen Befindlichkeiten und Gefühle beim Weinen, seine eigenen subtilen und offensichtlichen Äußerungen von "Weinen-Müssen" und "Weinen" begriffen und sich damit vertraut gemacht haben. Dies geschieht z.B. im Rahmen einer Schauspielausbildung im Training, bei dem es um die Umsetzung von Emotionen in der Szene geht.

Die überzeugende Darstellung emotionalen Ausdrucks über Körper, Stimme, Mimik, Gestik, Atmung und Impulse während des Spiels funktioniert zunächst einmal über das BEWUSSTSEIN all dieser Dinge, ihrer Wahrnehmung im Detail, ihrer körperlichen Äußerungen und emotionalen "Stationen" und empfundenen körperlichen und psychischen "Zustände". Hierzu ist absolut wichtig, sich selbst und seine typischen emotionalen Äußerungen gut zu kennen, ihre Zusammenhänge und Funktion bewusst erleben zu können und diese in jeder entsprechenden (echt erlebten) Situation analysieren zu können. Eigenbeobachtung ist hier das Stichwort.

Was passiert auf psychischer, was auf körperlicherer Ebene, wenn ich weinen muss? Wie fühlt sich das an, wo im Gesicht, wo an Rücken, Schultern, Brust, Armen, Händen bemerke ich dies und wie reagiere ich, mein Körper, meine Stimmung auf diese Wahrnehmungen im Detail? Was passiert dann weiter, wann kommen Tränen und wie, auf welche Weise und was passiert dabei noch parallel? Was macht meine Gesichtsmuskulatur, mein Mund, die Partie um die Augen, meine Stirn, mein Kiefer? Wie verändert sich meine Stimme dabei, was geschieht mit ihr, wenn ich weine, wie spreche, rufe, streite ich? Was macht meine Mimik, wenn ich dabei über die Stimme kommuniziere mit einem Gegenüber oder wenn ich still bleibe, was machen meine Hände, meine Schultern? Wie ist meine Körpersprache, wenn ich mich weinend ab- oder zuwende, wenn ich still bin, resigniere, wütend schreie oder flehend spreche? Weinen ist nicht gleich Weinen - und Weinen ist viel mehr als nur der Fakt, dass womöglich Tränen fließen. Es gibt Hundert Arten zu weinen.

Beim Schauspiel muss diese gründliche Analyse anhand echter, lebensnaher Beispiele als "Erinnerungen" gemacht werden, dabei müssen sämtliche Nuancen, Eindrücke und Faktoren wie oben beschrieben heraus gearbeitet und im Bewusstsein als "zugreifbar" verankert werden. Es geht dabei NICHT um die Anlässe, die Situationen und Umstände aus dem Erlebnis-Repertoire, sondern ALLEIN um das Wahrgenommene beim Weinen und seiner Entstehung in diesen Momenten.

MissMarplesGown  09.10.2015, 01:04

Teil 2:

Schauspiel ist nicht, überzeugend so zu tun als ob man weint, sondern es ist die Kunst, den aus dem realen Lebensalltag bekannten echten Prozess des Weinens mit all seinen inneren und äußeren Erscheinungen in der gespielten Situation tatsächlich zu produzieren, ihn entstehen, geschehen zu lassen - also eine echte, gefühlte Verzweiflung oder Traurigkeit AN DER GESPIELTEN SITUATION UND ROLLE zu empfinden. Dies bedeutet also NICHT, dass man hier dann vor der Kamera oder auf der Bühne mit den echten Erinnerungen an echt erlebte Traurigkeiten arbeitet (Omas Beerdigung, Tod der Katze), sondern man nimmt hier nur die emotionalen und körperlichen ERFAHRUNGEN mit Weinen, Trauer, Verzweiflung, Wut oder was immer gerade gefragt ist und das gespeicherte WISSEN UM DIE DAMIT VERBUNDENEN TYPISCHEN EMPFINDUNGEN und deren markante Details und Effekte.

Der Rest ist eine hohe Konzentration - die dazu dient, in diesem Moment unmittelbar in der gespielten Situation und mit dem Charakter identifiziert zu sein und zu bleiben, nicht raus zu rutschen, diese imaginäre Person sichtbar, hörbar, spürbar FÜHLEN und LEIDEN zu lassen. Hier ist jedes Denken an traurige private Kindheit oder schmerzvolle Trennung vom Partner oder der Tod des Dackels etc. absolut hinderlich und nicht angesagt, weil dies verhindern würde, dass man in diesem Moment die Rolle lebt, als gäbe es außerhalb dieser keine andere Welt.

Schauspieler weinen zumeist nicht für sich allein in ihrer Rolle, sondern stehen dabei in einem Dialog mit einem Spielpartner - oder mit den künstlich aufgebauten Umständen. Beim professionellen Spiel bauen beide Schauspieler zwischen sich eine emotionale und szenische Spannung auf, die die Emotionen, die die Charaktere entwickeln sollen, trägt, transportiert und mitnimmt. Auf dieser Spannung setzt man die gesteigerten Emotionen ab, lässt alles Körperliche, Mimische, Stimmliche daran mitwachsen und es läuft dann von selbst ab, sowie man in diesen "Modus" eingetaucht und gut konzentriert ist. Der Partner spielt hier für das Gelingen eine wesentliche Rolle, seine Mimik und Stimme, seine Sprechweise, sämtliche Körpersprache und Atmung, Gestik und Handlung - und nicht zuletzt das, was er sagt und seine Reaktionen auf das Gesagte der Person, die ein Weinen entwickeln soll, sind Trigger und halten den inneren und äußeren Prozess in Gang, der zu einem überzeugenden, weil natürlichen Weinen nötig ist.

Es wurde hier geschrieben, kaum ein Schauspieler könne dies - oder beinahe alle würden dies beherrschen. Beides ist falsch. Ob ein Schauspieler Aspekte daraus entlang der jeweiligen Rolle und innerhalb bestimmter Szenen sicher und zuverlässig bedient oder ob er auf Abruf auch ohne konkrete Rolle, Text, Szene aus dem Stand weinen kann, ist zunächst sehr persönlichkeitsabhängig. Generell wissen aber ausgebildete Schauspieler nicht nur aufgrund ihres jahrelangen täglichen Trainings an emotionalen Szenen, wie man innerhalb der Szene ein Weinen produziert, sondern: Die gesamte Ausbildung sensibilisiert den Menschen bereits bezüglich seiner Wahrnehmungen, seiner Beobachtungsgabe und seiner Fähigkeit zum detailierten Umgang mit den Tiefen seines eigenen emotionalen Erlebens, so dass dann solche Prozesse, durch den Gegenspieler, den emotionalen Zustand des darzustellenden Charakters im Spiel, aber auch durch weitere Umstände in der Szene bereits ganz von selbst angeschoben werden und dann so gut wie von selbst anhand sämtlicher vorhandenen und zusätzlich entstehenden "Effekte" abspulen und zum Weinen in einer der natürlichen Formen führen.

Weinen ist gerade im Schauspiel nicht grundsätzlich eine einsame Angelegenheit und Herausforderung des jeweiligen Darstellers, sondern es geschieht als "Cooperation" über die Spannung zwischen dem Darsteller und der Szenensituation oder dem Darsteller und seinem Gegenüber. Mein Gegenüber reagiert im Spiel auf mich, er/sie ist mein Spiegel, in dem ich mich mit meinem eigenen Spiel beobachten kann und auf mich zurück geworfen finde. Er zeigt mir über sein Spiel, seine Reaktionen die Ernsthaftigkeit der gespielten Situation und Stimmung, seine Mimik korrespondiert mit meiner, seine Körpersprache mit meiner. Es gibt daher Spielpartner, vor denen z.B. ein Weinen, ein Wutanfall, ein Verzweifeln besser klappt als vor anderen. Wer besser, kräftiger "zurück spiegelt", wer auch seinen eigenen Part stärker, überzeugender, deutlicher, konzentrierter spielt, verhilft seinem Gegenüber auch eher zu überzeugendem Weinen.

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MissMarplesGown  09.10.2015, 01:09
@MissMarplesGown

Teil 3:

"Weinen können" braucht also

1) eine gut reflektierte und detailierte Wahrnehmungsanalyse dessen, was Weinen (und den Aufbau von Weinen!) überhaupt ausmacht, was dabei im Verlauf wo und wie in Körper und Psyche geschieht und wie alles zusammenspielt und sich gegenseitig "pusht"

2) eine hohe Konzentration auf die Rolle und Szene (wenn das echte Weinen geschieht, ist dies ein sehr offener und verletzlicher Zustand, den man wunderbar für den Rest der Szene nutzen kann, indem man "darauf" spielt, man muss aber lernen und üben, im Weinen dann wie festgelegt die Szene zuende zu bringen, da der emotionale "Modus" hier mittendrin einen Wechsel erfährt, der die Gefahr eines "Blackouts" birgt, der verhindert werden muss. Nicht selten sind z.B. beim Filmen gerade gelungene Wein-Szenen aus diesem Grund stellenweise frei improvisiert, ohne dass dies so beabsichtigt war - Regisseure lassen diese Szenen nicht selten ungestört laufen, um zu sehen, was sich entwickelt und dies dann zu nutzen, da die "Energie" zwischen Spielpartnern sehr dicht werden kann, bis man sie unterbricht - das kann durchaus emotional anstrengend sein, weil man hier echte Emotionen in künstlicher Szenerie und Situation abruft und sie in die Szene und Rollenarbeit installiert. Ein Weinen geschieht Schauspielern genauso oft nicht ausgerechnet dann, wenn es erbeten war, sondern spontan und an anderer Stelle - auch dies wird dann zumeist erst einmal ausgespielt und nicht gestört, da hier eine gute und dichte Energie und ein wunderbarer "Flow" entstanden ist, der in dem Moment abreißt, wo man die Szene stoppt und die Darsteller da hinaus bringt.

3) eine kontinuierliche und ununterbrochene emotionale Offenheit und Aufgeschlossenheit, die sämtliche brauchbaren Trigger von außen zulässt (keine Angst, in Gegenwart anderer Leute, tatsächlich mit allem Drum und Dran in Tränen auszubrechen!), um im vorgegebenen Zeitrahmen die geforderten emotionalen Prozesse innerhalb der Szene "abzuliefern".

Wenn man an etwas Trauriges denkt und dann weinen muss und das öfter macht, wird es dann einfacher "auf Knopfdruck" zu weinen, also geht es dann vielleicht einfacher/ schneller?

Daran könntest Du lediglich den PROZESS und VORGANG des Weinens selbst studieren und ihn Dir in allen Details einprägen. Dies ist wesentlich für späteres Weinen auf Abruf, aber bis dies eventuell möglich ist, müssen noch andere Dinge gelernt, trainiert und erfahren werden, die dann dazu kommen.

Du siehst, dies wäre noch nicht der vollständige Weg zum "Weinen auf Knopfdruck", wie Du es nennst. Es gibt diesen Knopf nicht, den man drücken könnte, sondern Du setzt Dich zunächst mit echten Wein-Erlebnissen (nicht mit dem, was Anlass war, sondern mit dem echt erlebten Prozess des WEINENS) ganz persönlich auseinander. Dann nimmst Du dieses Wissen und die Erinnerung an konkrete Gefühle und Eindrücke (auch und vor allem die körperlichen + Gestik + Mimik + Atmung + Stimme!) und bringst sie in der aktuellen Situation an, in der geweint werden soll. IN DER ROLLE weinst Du, nicht aber entlang der Erinnerungen an Wein-Anlässe im echten Leben.

Die Erinnerungen an Situationen, die zum Weinen waren, haben in der aktuellen Situation nichts zu suchen, Du arbeitest nur mit der gerade vorhandenen Situation, mit Deiner Konzentration auf die Gegenwart sowie mit dem Einfügen der unterschiedlichen inneren und äußeren "Schritte des Prozesses des Weinen-Müssens", wie Du es aus Deinem echten Leben kennst. Diese müssen in sinnvollem Timing in der gespielten Situation untergebracht werden, wo sie aufeinander aufbauen und die Spannung erzeugen können, die schließlich zum Weinen führt.

Vielleicht noch dies: So etwas für Privat zu nutzen halte ich für sehr fragwürdig, daher habe ich es ausschließlich für Schauspiel beantwortet. Du hast nicht näher erklärt, wofür es Dir nützlich sein soll. Der Ablauf bzw. Lernprozess wäre derselbe, aber "produziertes Weinen" manipuliert und verunsichert Dein Gegenüber und kann nebenbei auch negativ und falsch verstanden werden. Gerade Mädchen und Frauen sollten lernen, sich und ihre Anliegen anders, fairer, kompetenter und sachlicher zu vertreten als ausgerechnet mit gewollten Krokodilstränen. Manipulation statt Auseinandersetzung ist nicht der Weg zum Erwachsensein, sollte hier jemand meinen, sich für solche Zwecke ein Weinen auf Abruf antrainieren zu können. Dies nur für den Fall, dass dies hier und da von GF-Usern für erstrebenswert gehalten wird.

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darkjuly  16.10.2015, 01:59

Kannst du mir Tipps geben, wie ich es angehen soll, dass ich es schaffe, auf einer Schauspielschule aufgenommen zu werden? Tut mir leid, aber das zu lesen hat mich so geflasht, dass mir erneut klar geworden ist, wie sehr mich dieser Bruf fasziniert! Es ist unglaublich und ich würde nichts lieber tun, als Schauspiel auf einer professionellen Ebene zu erlernen... Also, was sollte ich tun, damit die Chance steigt, aufgenommen zu werden? Was hast du vor deinem Studium gemacht? Wie hast du dich vorbereitet, was konntest du?

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Es gibt vielleicht ein paar, die das können, aber der normale Mensch mit der normalen genetischen Veranlagung kann das nicht. Auch Schauspieler können das in der Regel nicht. Man braucht es zum Schauspielern sowieso nicht, wenn man ein guter Schauspieler ist. Es gibt so eine Geschichte von einem Schauspieler der im Theater einen Mann gespielt hat, dessen Mutter gestorben ist. Und in einer Szene hat er an ihrem Grab geweint, und er hat jedes mal echt geweint. Aber an einem Abend wollten ihm keine Tränen kommen, peinlich berührt hat er dem Publikum den Rücken zugewendet und versucht, Tränen zu weinen. Dabei hat sein Rücken gezuckt und an diesem Abend hat fast jeder aus dem Publikum selbst geweint...

Ja das kann man üben, obwohl auch viele Schauspieler lieber Glycerintränen benutzen.

MissMarplesGown  16.12.2015, 22:15

obwohl auch viele Schauspieler lieber Glycerintränen benutzen.

Nein, das tun sie nicht - und erst Recht nicht "lieber". Aus plausiblen Gründen. Woher nimmst Du solche Behauptungen?

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Schneller geht es nicht. Aber bei mir ist es zum Beispiel so wenn ich an etwas denke das mich bedrückt, und mich dann jemand fragt was los ist / oder in den Arm nimmt, dann muss ich losheulen, sonst nicht

Ja das geht.. musst du allerdings bei jedem Mal machen wenn dus auch anwendest...