Ist für dich die Zeit gekommen unter der Geschichte einen Strich zu ziehen und die "Erinnerungskultur" in Deutschland in die Mottenkiste zu legen?
Ich persönliche bin der Meinung, dass trotz der bekannten und unbestreitbaren Fakten des Nationalsozialismus in Teilen der deutschen Bevölkerung noch immer Verhamlosungs- und Verdrängungsmechanismen funktionieren, die zugunsten eines Schlussstriches eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ausblenden wollen. Eine Minderheit allerdings gibt sich damit nicht zufrieden, sie verharmlost nicht nur durch Aufrechnung mit anderen Verbrechen, sondern stellt den Genozid an den Juden insgesamt in Frage, in der Tat ein nicht nur deutsches Problem, sondern weltweit anzutreffen, das möchte ich hier gleich betonen.
Mitte der 90er Jahre schien der Revisionismus an einem Tiefpunkt angekommen zu sein, einige Postillen der Leugner-Szene wurden eingestellt und ein zunehmender Dissens im Kreis der Revisionisten beklagt. Zuvor hatte die Holocaust-Leugnung besonders in den 70er und 80er Jahren Konjunktur, blieb aber im kleinen Feld von Alt- und Neonazis begrenzt. Erst die Einführung des Internets verhalf den Revisionisten zu einem erneuten Erfolg, bisher unbekannte Möglichkeiten, nämlich ihre Propaganda ungehindert auch international zu verbreiten und damit ihre Thesen auch bei jungen Leuten wieder attraktiv zu machen. Diese Seiten beschäftigen sich überwiegend damit den Holocaust zu leugnen , Zahlenspiele zu betreiben und über die Nichtexistenz von Gaskammern zu berichten.
Grundsätzlich ist hier immer eine These vertreten: "Ist es schon Antisemitismus wenn man die Geschichte des Holocaust hinterfragt?" Eine typische Frage die auf Wissenschaftlichkeit hinweisen soll. Fragen werden nicht aus seriösen, allenfalls aus pseudowissenschaftlichen Gründen und immer mit der Prämisse, der Mord an den Juden habe so nicht stattgefunden, gestellt. Diese Theorien verhelfen dem Antisemitismus zu einer politischen Funktion, die an Bedeutung gewinnt, das Ressentiments speist sich aus der Weigerung, die nationalsozialistische Judenverfolgung anzuerkennen ("Schuldfrage").
Was denkst Du, sollte ein Schlussstrich unter der Erinnerungskultur gezogen werden?
Das Ergebnis basiert auf 28 Abstimmungen
11 Antworten
Die einzig menschlich tragbare Antwort hast du ja im Grunde schon umrissen und ich stimme dir da absolut zu.
Mir geht es hierbei auch nicht darum, dass man sich schämen soll, Deutscher zu sein oder wie auch immer das gerne dargestellt wird, aber jeder Mensch hat eine Verantwortung, diese Tatsachen zu kennen und, das ist das allerwichtigste, zu verstehen. Die Zahl 6 Millionen wird immer rumgeworfen und dann tun viele Leute so als wäre es damit getan und man kann weitermachen im Leben, aber ich finde damit macht man es sich leicht. 6 Millionen Leute mit genauso vielen Träumen, Enttäuschungen und Hoffnungen wie ich, das finde ist schon sehr schwer fassbar und insofern ist es jedermanns Verantwortung, sich das gründlich zu Gemüte zu führen, bevor er irgendwelche dummen Aussagen tätigt.
Mit jedermann würde ich auch tatsächlich sagen jedermann - auch außerhalb Deutschlands sollte ein solches Verbrechen nicht vergessen werden.
Ja, das kommt natürlich noch dazu - auch hier ist mehr Differenzierung nötig als das Schulsystem, das ich in NRW erlebt habe, aktuell leistet.
Warum war eigentlich schon lange vor dem Holocaust (1915-1938) in englischen und amerikanischen Zeitungen häufig die Rede von 6 Millionen Juden?
Hier ein Video mit den Zeitungsberichten:
Die russische Armee hatte tatsächlich in den ersten drei Kriegsjahren gut 6 Millionen ihrer eigenen Staatsbürger vertrieben, überwiegend Deutschstämmige und Juden, aber auch Roma, Muslime und auch Balten, sie wurden zur Umsiedlung gezwungen, weil die Politik die Kampfzone von, eventuell Systemfeinden reinigen wollte. Es waren tatsächlich die Juden, die später in das Feuer der Nationalsozialisten geraten sind, in genau den Gebieten, in denen dann die Nazis aktiv waren. Na, wird hier eine Verschwörungstheorie geöffnet? Vergleicht man die Zahlen der russischen Juden mit der hier angegebenen Zahl, dann entspricht dieses in etwa der Zahl die später auch Himmler und Heydrich auf dem Zettel hatte. Also kein Hexenwerk diese Zahl !!!
Um so mehr, da auch heute noch grosse Ungerechtigkeiten den Juden gegenüber "ans Tageslicht kommen". Fakten die bisher wenig oder gar nicht bekannt waren.
Auf der Flucht vor dem NS-Regime wurden Juden nicht nur ihrer Heimat beraubt, auch ihre gesamte Habe wurde unter anderem in Hamburg versteigert. Die Nazis machten Millionen damit. Noch immer kämpfen Geschädigte und Nachfahren um ihr Eigentum.
https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/NS-Raubzug-Wie-Nazis-juedische-Emigranten-auspluenderten,nsraubgut102.html
Es geistern immer wieder Meinungen herum, "die Juden wären doch angemessen entschädigt worden." Das ist, muss ich als Christ feststellen, leider nicht in Ansätzen geschehen. Die Justiz und die Politik in Deutschland und fast allen Ländern Europas hat alles dafür getan, die Ansprüche von Holocaustüberlebenden versanden zu lassen. Noch heute profitieren unzählige Familien und der Staat davon, was man den Juden vor 70 Jahren an Firmen, Häusern und Vermögen abgenommen hat.
Zu leugnen oder zu "vergessen" bringt einen nicht weiter. Es ist wichtig sich daran zu erinnern um Muster zu erkennen oder die Wiederholung zu vermeiden.
Hier geht es um unsere Geschichte. Sie gehört uns, sie ist unser Erbe und sie ist ein Stück weit unsere Identität.
Wir heutigen Deutschen haben keine Verantwortung für damalige Verbrechen, aber wir haben Verantwortung für den Umgang mit unserer Geschichte. Das bedeutet, dass wir selber unsere dunklen Tage nicht verleugnen, verharmlosen oder gar gutheißen dürfen. Es heißt aber auch, dass wir dieses anderen nicht gestatten, die unsere Geschichte vereinnahmen oder umdeuten wollen.
Auf unserer Geschichte ruht auch das Bewusstsein, das wir haben besser werden können, dass wir das Land wieder aufgebaut haben, dass wir unseren Platz in Europa bekommen haben. Und dass uns unsere einstigen Gegner die Hand gereicht haben.
Unser Geschichtsbewusstsein macht uns verhältnismäßig stark gegen populistische Blender und gegen Rückwärtsgewandte, die sich diejenigen zurückwünschen, die unser Land und unsere Leute in den Abgrund geführt haben. Wir haben eine deutlich stärkere Demokratie als viele andere Staaten der westlichen Welt.
In deiner Fragestellung ist viel Holocaust. Der ist natürlich nur ein Teil des Ganzen; wenn ich etwa an sowjetische Kriegsgefangene, Ostarbeiter, politische Gegner, Zivilisten in Partisanengebieten und vieles mehr denke.
Zwar habe ich als Jude keine familiären Verluste während der Shoah zu verzeichnen, meine Mum und ihre Mum überlebten das Lager, aber ich habe sehr viele Freunde, die es entweder überlebten oder Kinder von Überlebenden sind.
Oft ist das Trauma an die Kinder weiter gegeben. Aber selbst wenn alle Zeitzeugen und deren Kinder nicht mehr leben, in den Herzen aller Juden bleibt das Mahnmal tief und unauslöschbar eingegraben. Man wir sich noch in 1000 Jahren an den Massenmord erinnern.
Wir erinnern uns täglich in unseren Gebeten an die Sklaverei in Ägypten bis vor 3400 Jahren, wie könnten wir da den Massenmord jemals vergessen können? Auch in unseren Gebeten erinnern wir uns in allen Jiskor-Gebeten an das Grauen (übersetzt):
"...aller Seelen der sechs Millionen Juden, den Opfern der Shoah in Europa......hingeschlachtet oder verbrannt und vernichtet wurden, in Auschwitz, Bergen-Belsen, Majdanek, Treblinka und in den übrigen Vernichtungslager."
Täter und Nachkommen wollen gerne vergessen, Opfer und deren Nachkommen haben nicht die Chance, zu vergessen.
Mahnmale und Denkmale brauchen nur die Nichtjuden, unsere Mahnmale sind in unseren Seelen, unauslöschbar.
...und die 6 steht nur für die Juden!